Digitized by the Internet Archive in 2013 http://archive.org/details/ratselderkunstOOdvor JAHRBUCH DER KUNSTHISTORISCHEN SAMMLUNGEN DES ALLERHÖCHSTEN KAISERHAUSES, BAND XXIV, HEFT 5. DAS RÄTSEL DER KUNST DER BRÜDER VAN EYCK VON MAX DVORÄK. MIT 7 TAFELN UND 65 TEXTILLUSTRATIONEN. WIEN. F. TEMPSKY. 1904. LEIPZIG. G. FREYTAG. Alle Rechte vorbehalten. Redakteur: Dr. H. Zimmermann. Druck von ADOLF HOLZHAUSEN in Wien, K. UND K. HOF-BUCHDRUCKEK. Fig. I. Jan van Eyck. Engelsköpfe vom Genter Altar (Ausschnitt). DAS RÄTSEL DER KUNST DER BRÜDER VAN EYCK. Von Max Dvorak. 1. Einleitung. st denn das nötig?» So fragte mich erstaunt ein Kunstgelehrter, als ich ihm von meiner Absicht erzählte, die Probleme, welche sich an das Genter Altarwerk, seine Entstehung und Bedeutung knüpfen, noch einmal aufzugreifen. Es ist kaum über ein zweites einzelnes Kunstwerk der modernen Kunst so viel geschrieben und gestritten worden. Dabei hat man in erster Reihe die Entstehungsgeschichte des Altares und die Biographie seiner Urheber erörtert. Das lag in der Zeit, aus welcher der größere Teil dieser Literatur stammt, doch auch in den überlieferten Nachrichten und Dokumen- ten, aus denen sich einige ganz bestimmt lautende Fragen ableiten lassen. Für Fragen, die wie Cha- raden lauten, gibt es stets eine Fülle von Düftlern und Dilettanten, welche die richtige Lösung gefunden zu haben vermeinen, und unser Kunstgelehrter hätte völlig recht, wenn es sich um nichts anderes handeln würde als nur darum, die bestehenden Lösungsversuche «der Methode halber» um einen neuen «endgültigen» zu vermehren. Davor möge uns aber das Schicksal bewahren. Nicht minder wortreich, doch ohne erhebliche Kontroversen, wurde die entwicklungsgeschicht- liche Bedeutung des Altares in St. Bavo und verwandter Bilder besprochen. Hier schien der Sach- verhalt ziemlich klar und einfach zu sein. Man hielt sich an die Anschauung, welche von Carel van Mander ausgesprochen wurde. Die älteren Schriftsteller bezeichnen Jan van Eyck einfach als einen besonders ausgezeichneten Maler. «Praeclarus ille Brugiensis picturae decus» wird er von Cyriacus von Ancona und «nostri saeculi pictorum princeps» von Facius genannt. Seine pragmatische Stellung XXIV. 24 l62 Max Dvofäk. in der Entwicklung der Malerei zu erörtern, lag diesen Schriftstellern ganz und gar ferne. In dem Ge- dichte, welches Jean Lemaire um das Jahr 15 lo unter dem Titel «La Couronne Margueritique» zu Ehren der Statthalterin der Niederlande Margaretha verfaßte und welches ein kurzes Künstler- verzeichnis enthält, wird Jan van Eyck als «roi des peintres» angeführt; doch hat dies in dem schwulsti- gen Stile des Gedichtes umsoweniger Bedeutung, als Jan keinesfalls an erster Stelle, sondern mitten unter anderen unbedeutenderen, mit ebenso hochtrabenden Epitheten bedachten Künstlern genannt wird. Auch von Vasari erfahren wir nicht viel mehr. Er lobt wohl sehr die «bellissima inven- zione» der neuen Malweise, welche er dem Jan van Eyck zuschreibt; über seine künstlerische Be- deutung sagt jedoch auch er nichts weiter, als daß er seiner «buona pratica» halber ein in Flandern sehr geschätzter Künstler gewesen sei. Ahnlich lautet auch die Meinung Guicciardinis, der sich auf Vasari beruft. Dennoch waren die Lebensbeschreibungen Vasaris, wenn auch nur mittelbar, die Quelle einer neuen Auffassung der kunstgeschichtlichen Stellung des Jan van Eyck. Die Biographien des Vasari sind das erste Werk der kunstgeschichtlichen Literatur, welches unter dem Einflüsse der neuen pragmatischen Geschichtsschreibung entstanden ist. Alle älteren Berichte über Kunstwerke und Künstlerleben sind mehr oder weniger zufällig und vereinzelt unter anderweitige Memorabilia eingetragen worden; wir finden sie in annalistischen Aufzeichnungen und kunsttheoretischen Abhandlungen, in Reiseberichten oder in Gedichten und Kommentaren zu diesen. Länger als anderswo hat sich da die mittelalterliche Art der geschichtlichen Uberlieferung erhalten. Schließlich bemächtigte sich jedoch die allgemeine große Errungenschaft des Humanismus: die wissenschaftlich-historische Untersuchung und die Be- rücksichtigung des kausalen Zusammenhanges einer bestimmten Tatsachenfolge doch auch der Ge- schichte der Kunst, wobei sicher ihre neue soziale Bedeutung und Wertschätzung nicht wenig ein- gewirkt hat. Von besonderer Bedeutung war es, daß unter diesen neuen Einflüssen gleich ein so hervorragendes Werk geschrieben wurde wie die Biographien des Vasari. Es begründete eine Literatur, deren Ziele und Methode sich, man kann wohl sagen, bis in unsere Tage erhalten haben. Es sind die Ziele und die Methode, die der gesamten humanistischen Geschichtsforschung eigen waren und die unter dem Einflüsse der antiken Literatur entstanden sind. Was wir dieser neuen geschichtlichen Literatur vor allem als Verdienst anrechnen: die objektivere Beurteilung der Ereignisse, kam für die Zeitgenossen erst in zweiter Reihe in Betracht. Weit wichtiger war für sie, wie es auch nicht anders möglich war, die neue Form der geschichtlichen Betrachtung und Erzählung. Man kann sich heute kaum mehr vorstellen, welch ungeheurer Fortschritt darin lag, daß die annalistische Aufzählung der Begebenheiten durch eine geschlossene einheitliche Schilderung des Lebenslaufes eines berühmten Mannes oder des geschichtlichen Werdens einer bestimmten Epoche ersetzt wurde. Das war das große Novum und, fügen wir gleich hinzu, der Selbstzweck der neuen historischen Literatur. Das historische Buch ist wiederum wie in der Antike ein Teil der schönen Literatur geworden. Man be- fragte die Denkmäler in erster Reihe nur zu dem Zwecke, um das Gerippe einer bestimmten litera- rischen Form auszufüllen; wo die Quellen nicht ausreichten, da konstruierte man den Zusammenhang nach eigenem Ermessen. Man ergötzte sich unbedenklich an schönen Reden, die erfunden, an an- mutigen Erzählungen, die nicht wahr waren. Der Ehrgeiz der Schriftsteller strebte vor allem eine in gegebenem Rahmen geschlossene und «vom Anfang an» lückenlos fortlaufende Schilderung an, wobei zumeist schon der Anfang eine Fabel oder Supposition sein mußte. Nur im Spiegel dieser Literatur kann man das Werk Vasaris richtig verstehen und beurteilen. Es lag ihm fern, eine Geschichte der Malerei in Italien zu schreiben; eine solche Arbeit lag in seiner Zeit ganz und gar außerhalb der wissenschaftlichen und literarischen Interessen. Die Freude an dem neu- gefundenen Vermögen, die Tatsachen und Ereignisse auf das individuelle Eingreifen der beteiligten Persönlichkeiten zurückzuführen, führte zur Wiedererweckung der antiken Biographie. Seit dem XV. Jahrhundert wurden aus allen Gebieten des öffentlichen Lebens Lebensbeschreibungen berühmter Männer zusammengestellt und nach diesen Mustern verfaßt Vasari eine Sammlung von Viten berühmter Maler. Er verfolgt die Geschichte der italienischen Malerei so weit zurück, als er sie mit Künstlern in Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. i63 Verbindung bringen kann, deren Ruhm sich bis zu seinen Tagen erhalten hatte, und der erste grof3e Maler, dessen Namen und Werke er kennt, ist für ihn auch der Beginn der «neuen eigentlichen Kunst». Es ist das die übliche Einleitungsfabel, von der wir gesprochen haben. Auch der Norden hat seinen Vasari gefunden. Die Biographien der niederländischen Künstler des Carel van Mander sind sowohl dem Plane nach als auch in der Ausführung eine Nachahmung der Viten des Vasari. Wie alle Nachbildungen bleiben sie weit hinter dem Vorbilde zurück. Vasari be- schäftigte sich doch, wenn auch nur parenthetisch, mit der Geschichte der Kunstprobleme; der viel weniger talentierte und unterrichtete Niederländer hielt sich sklavisch an das überlieferte literarische Schema. Die Geschichte der Malerei in den Niederlanden beginnt für ihn ganz und gar erst mit Hubert und Jan van Eyck. Hubert war der Lehrer Jans wie Cimabue der des Giotto und Jan war der große Begründer und Erfinder der niederländischen Malerei. An den Ufern der Mosel sei die Kunst entstanden, die an Ruhm die römische und griechische übertroffen hat und das Ansehen Italiens als Kunstland verdunkelte. So ist in dem Malerbuche des Carel van Mander zum ersten Male die Meinung aufgestellt worden, daß die göttliche Kunst des Jan van Eyck — ein Geschenk des Himmels — die Quelle und der Anfang der gesamten niederländischen Malerei gewesen sei. Diese Anschauung erhielt sich dann im wesentlichen bis heutzutage; denn so formelhaft und programmgemäß sie auch lautete, schien sie doch den Tatsachen zu entsprechen. Es war für jedermann leicht ersichtlich, daß der größte Teil der niederländischen Bilder des XV. Jahr- hunderts unter dem Einflüsse des Stiles des Jan van Eyck entstanden ist, und da die Werke des letzteren am Anfang der Periode stehen, schien sich diesmal das tausendmal wiederholte und tausend- mal widerlegte Märchen zu bewahrheiten von dem Heros, der das Neue irgendwoher von den Göttern gebracht hatte. In zahlreichen Büchern und Abhandlungen lesen wir ebenso zahlreiche Variationen auf dieses Thema. «Wie mit einem Zauberschlage wäre die Kunst erwacht», wird einmal gesagt. «Die Kunst sei plötzlich mündig geworden», heißt es ein andermal. Mit der aufgehenden Sonne wird wiederum in einer anderen Schrift die Malerei des Jan van Evck verglichen. Als man dann anfieng, sich statt allein nur mit der Künstlergeschichte auch mit der Geschichte der Kunst zu beschäftigen, wurde der alte Bericht einfach in entwicklungsgeschichtliche Begriffe um- gedeutet. Man stellte die Behauptung auf, die erlösende Tat der Brüder van Eyck wäre darin zu suchen, daß sie die traditionellen byzantinischen Typen durch Naturbeobachtung ersetzten. «Le fait Capital, qui domine dans l'oeuvre de renovation des Van Eyck et ce qui fut pour eux l'instrument de la delivrance, c'est un retour ardent, sincere, passionne vers la nature, si dedaignee au moyen-age, si absente des vieilles formules byzantines:>, das ist beiläufig die geläufige Meinung um die Mitte des vorigen Jahrhunderts. Man hat diese Meinung auch dann nicht aufgegeben, als man sich überzeugte, daß die mittelalterliche Malerei nicht ausschließlich byzantinische Typen wiederholte sondern sich selbständig entwickelt hat. Das Schwierigste in der Kunstgeschichte ist, voraussetzungslos die Monu- mente wenigstens beiläufig so zu sehen, wie sie sind. Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts wurde bekanntlich das byzantologische Dogma durch ein neues ersetzt. Man begann von dem Idealismus der gotischen Kunst zu sprechen und zu schwärmen. Das verlieh «der Entdeckung des Naturalismus» durch die Brüder van Evck eine neue Bedeutung. Man begann seit Waagen und Viollet le-Duc die gotische und französische Kunst schlechtweg mit dem Idealismus, die niederländische Kunst des XV. Jahrhunderts dagegen mit dem Naturalismus zu identifizieren. Als dann die Forderung der Ein- gliederung einer jeden historischen Tatsache in eine Entwicklungskette auch an die Türen der Kunst- gelehrten immer unerbittlicher zu pochen begann, suchte man den alten Mythus rationell zu begründen. Man verfolgte dabei verschiedene Wege. In gedankenlosen Kompilationen wurde als Einleitung zu den Biographien der Brüder van Eyck fleißig alles zusammengestellt, was aus der älteren niederländischen Kunst bekannt war. Bei der ver- hältnismäßig noch geringen Kenntnis der allgemeinen Entwicklung fand man in den altniederländischen Kunstwerken leicht das, was man gesucht hatte, das vermeintlich größere Streben nach Individuali- sierung und Naturwahrheit. Jeder grinsende Kopf wurde auf dieses Streben zurückgeführt und in den 24* 164 Max Dvofäk. geläufigsten Drolerien der illuminierten Handschriften fand man dieselbe nationale Eigenart, aus der später ein Breughel und ein Bosch entstanden sind. Schärferen Beobachtern konnte jedoch dabei nicht entgehen, daß die älteren Denkmäler der niederländischen Kunst, auf die man sich berufen hat, künstlerisch viel zu unbedeutend und stilistisch viel zu unentwickelt sind, als daß sie zur Erklärung der Entstehung der Kunst der Brüder van Eyck völlig ausreichen würden. Man mußte wie früher auch ferner von einer Wandlung in der Ent- wicklung der Kunst sprechen. Da die Fäden zur Vergangenheit in kunstgeschichtlichen Tatsachen nicht zu entdecken waren, suchte man im Anschlüsse an die ästhetischen und geschichtsphilosophischen Systeme Hegels und Taines die unmittelbare Ursache der Wandlung in der Verschiebung der ethnischen und sozialen Grundlagen der Kunst, in einem neuen Milieu, wie der Terminus technicus dieser Zeit des naiv begeisterten Materialismus lautete. Natur und Individualität! In diesen zwei Worten suchte man die Antwort auf das Problem der Entstehung der modernen Kunst, eine Antwort, die uns heute aus der poetischen Apotheose Burck- hardts so geläufig ist. Man hat durch ein simples Changez-passez dem entwicklungsgeschichtlichen Problem einen etwas weiter gefaßten kulturhistorischen Wortlaut gegeben, womit man es gelöst zu haben vermeinte. Und da man für jede neue Straße Pflastersteine finden kann, wurden bald Bände geschrieben von Variationen über das Thema: «man entdeckte die Welt und den Menschen» oder «es ent- wickelte sich eine neue Fähigkeit, das Leben und die Natur zu genießen», ohne daß zumeist über das eigentliche geschichtliche Problem mehr darin gesagt worden wäre, als in diesen Hauptsätzen enthalten ist. Wir verdanken der hier einschlägigen Literatur eine Fülle kunstreicher Schilderungen und geist- reicher Einfälle, viel Anregung und noch mehr Unterhaltung; doch wissenschaftlich steht sie noch auf der Höhe etwa der «Reise des jungen Anacharsis». Es sind Sitten- und Kulturschilderungen, die halb als eine Klage der Gegenwart um die Vergangenheit, halb als ein Echo neuer Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit entstanden sind. Denn ist nicht das Alleluja auf die plötzliche Auf- erstehung des Natursinnes und des Kultus der Persönlichkeit der neuen Renaissancemenschen oder des «damals in der Luft liegenden Realismus», wie in einer der letzten Abhandlungen über den Ur- sprung der neuen niederländischen Malerei gesagt wird, nur eine neue Strophe des alten, in den histo- rischen Wissenschaften schon längst überwundenen Lobgesanges, welchen Bossuet auf die «coups de providence» und Voltaire auf die Taten des «esprit des Nations» erschallen ließ, die nach Bedarf in die Geschichte eingegriffen haben? Der abstrakt-religiöse Faktor wurde durch einen abstrakt moralischen und dann durch einen abstrakt philosophischen und psychologischen ersetzt und allen Ernstes als eine historische Erklärung angesehen. Das vollzog sich auch in anderen geschichtlichen Wissenschaften, doch wann? Stendhal sagt irgendwo, daß nach Rußland neue Gedanken und Richtungen erst fünfzig Jahre nach ihrer Entstehung gelangen; dasselbe könnte man fast auch von der neuen kunstgeschicht- lichen Literatur behaupten. Spiegelt sich im Ideengang Burckhardts und seiner Epigonen neben der klassizistischen Ästhetik die geschichtliche Auffassung Michelets, so hallt in Schriften jener Richtung, deren bedeutendstes Werk die Kunstgeschichte von Schnaase ist, nebst romantischen Künstlerbekenntnissen der politische und soziale Idealismus Guizots und seiner Zeitgenossen nach, doch mit einer Pragmatik verbunden, die an Zwecklosigkeit einem Dampfmotor zu vergleichen ist, bei dem der Transmissionsriemen abhanden gekommen ist. Man ging von der politischen und sozialen Entwicklung aus, doch nicht, um neue un- mittelbare und materielle Beziehungen zwischen ihr und der Kunstproduktion aufzudecken, sondern man begnügte sich damit, die Frage nach der geschichtlichen Entwicklung durch eine Parallele zwischen allgemein kulturellen Strömungen und gleichzeitigen Wandlungen in der Kunst zu ersetzen. Es wurden vornehmlich drei Ursachen hervorgehoben, die am Schlüsse des Mittelalters einen Umschwung im Sehen und Empfinden und dadurch auch in den Kunstidealen herbeigeführt haben sollten. In französischen Werken wurde besonders auf die in der zweiten Hälfte des Mittelalters sich vollziehende Verweltlichung der Kunst hingewiesen, durch die ein neues Verhältnis des Künstlers zur Natur begründet worden sei. Es ist das eine Anschauung, die einerseits mit der wachsenden Vorliebe Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 165 der historischen Kunstrichtung für den gotischen Stil, anderseits mit dem religiösen Liberalismus der zweiten Republik enge zusammenhängt. Ihr unermüdlicher Apostel war Viollet-le-Duc, und obgleich man besonders in Frankreich viel gegen sie geschrieben hat, ist sie gerade aus französischen Büchern bis heute noch nicht überall verschwunden. Noch mehr Freunde und Verteidiger hatte und hat ein anderer Erklärungsversuch, der, in seinen ersten Anfängen, wie bei Hotho und Waagen, von der national-begeisterten Romantik ausgehend, die Entstehung eines neuen Geschmackes davon abgeleitet hat, daß die Führung in der Kunst die Nieder- länder übernommen haben. Mit dem politischen und wirtschaftlichen Aufschwung sei in den Nieder- landen um die Wende des XIV. und XV. Jahrhunderts ein reiches und intensives Kunstschaffen ent- standen und da habe sich — so lautete beiläufig die Argumentation — die nationale Eigenart, deren Spuren auch an den älteren Kunstwerken zu entdecken sind, rasch und mächtig entwickelt und in einer neuen Kunst geltend gemacht. «Die Innigkeit, die Naturliebe und der Idealismus des deutschen Volkes waren hier einmal mit dem formalen Talent für Ordnung und Eleganz, das sich in Frankreich ausgebildet hatte, und mit der dem keltischen Stamme eigenen Präzision und Entschiedenheit auf das engste verbunden, und da der Reichtum nicht fehlte, der zu umfassenden Stiftungen die Neigung und die Mittel gab» (Schnaase), und zudem «die reichen Wolkenbildungen, die dunstige Luft in der Nähe des Meeres das Auge für das Licht- und Farbenspiel in der Natur schärften, der rege Handelsverkehr die Anschauungen vermehrte und den geistigen Horizont erweiterte» (Springer), «so ist es begreiflich, daß auch das Talent sich heranbildete, welches diese günstigen Umstände zu verwerten wußte» (Schnaase). Anders stilisierte Fassungen desselben Inhalts findet der Leser, sollte es ihn unterhalten, in verschiedenen Aufsätzen von Wauters, Weale, Hymans u. a. Es sind Präludien, die in den meisten Essais über die altniederländische Kunst mit einer fast kanonischen Regelmäßigkeit wiederholt wer- den; denn «pour comprendre une oeuvre d'art, un artiste, un groupe d'artistes il faut se representer avec exactitude l'etat general de l'esprit et des moeurs du temps», sagte der philosophische Herold dieser Methode. In Frankreich hat sich die kulturgeschichtliche Behandlung und Auffassung der Kunstgeschichte noch länger erhalten als in Deutschland, wo sie unter dem Einflüsse der neueren exakten For- schung durch eine kritische Bearbeitung und Veröffentlichung der Monumente verdrängt wurde. Noch heute bestehen in Frankreich kunstgeschichtliche Bücher zur guten Hälfte aus kulturgeschichtlichen Schilderungen alten Stiles. Man modernisierte nur diese «Zeit- und Lebensbilder», indem man, wie es in der allgemeinen Geschichte Gebrauch geworden ist, die religiöse und nationale Brille durch eine soziale und wirtschaftliche ersetzte. Von Louis Courajod, dem geistvollsten Kunsthistoriker dieser Richtung, wurde die Theorie vertreten, das Aufkommen neuer sozialer Schichten — «la Substitu- tion d'une aristocratie d'argent a une aristocratie feodale et par juxtaposition d'une noblesse de par- venus ä une noblesse de naissance» — sei die Quelle eines neuen Geschmackes, eines neuen Stiles ge- wesen. Die neue bürgerliche Gesellschaft, welche am Schlüsse des Mittelalters in Flandern das Uber- gewicht gewinnt, hätte neue ästhetische Anschauungen in die Kunst gebracht und die Erklärung des «renouvellement general» sei in der Demokratisierung der Kunst zu suchen. Es ist eine Anwendung der Theorien Hennequins, die in dieser Gestalt noch heute in der Kunstgeschichte weiterleben, obwohl sie sonst schon überall unter das alte Gerümpel gezählt werden. Gegen diese Theorien, welche die Entstehung der Kunst der Brüder van Eyck auf metaphysische, kulturgeschichtliche und soziologische Ursachen zurückführen wollen, ist Fr. Carstanjen, ein Schüler des Avenarius, also ein Philosoph seinem Fache nach, energisch aufgetreten.^ Carstanjen weist nach, daß die allgemeinen kulturellen Voraussetzungen nur als mittelbare Bedingungen einer Stilwandlung in der Kunst betrachtet werden können, weil der von außen kommende Einfluß erst durch das Filter der individuellen Anschauung und Aufnahmefähigkeit gehen muß. Darüber, wie viel dabei ver- ' Entwicklungsfaktoren der niederländischen Frührenaissance: Vierteljahrszeitschrift für wissenschaftliche Philo- sophie XX. i66 Max Dvofak. schwindet und sich verändert, kann die soziologische Betrachtungsweise keinen Aufschluß geben sondern da muf3 die psychologische Untersuchung eintreten. «Die Wiedergeburt der Natur und Indi- vidualität» könne nicht als die Ursache der Kunständerung am Ausgange des Mittelalters betrachtet werden sondern sei vielmehr ihr Ergebnis. Als gestaltende psychologische Momente bei künst- lerischen Neuschöpfungen sind die Unlust am Bestehenden, die Lust zu Änderung und die Freude an der neuen Lösung zu betrachten. Wenn auch in glücklichen kulturellen und sozialen Verhältnissen die Kunst besonders fruchtbaren Boden findet, so ist doch hierin immer erst die indirekte Vorbedingung gegeben, welche nicht mit der tatsächlichen Gestaltung in gesetzmäßigem Zusammenhang zu stehen braucht. Das vage, schwer faßbare allgemeine Wachsen der Naturfreude kann nicht der unmittelbare Ausgangspunkt der größeren Naturtreue in den Kunstwerken sein; denn der Künstler stellt nicht das dar, was ist, sondern, was er sieht und darzustellen vermag. Erst wenn der neue Wert von dem Können des Künstlers bewältigt wurde, ist er für die Übrigen entdeckt. Diese Erwägung sucht Carstanjen durch eine Untersuchung der Anfänge der neuen nieder- ländischen Malerei entwicklungsgeschichtlich zu belegen. Der neue Stil der altniederländischen Malerei sei nicht durch ein neues von außen angeregtes Verhältnis des Künstlers zu den Objekten be- gründet worden sondern entstand im Zusammenhange mit den Elementen der vorausgehenden Kunst. In der mittelalterlichen Miniaturmalerei hätte sich in der rein naiven Ausschmückung die Lust an der Detailvermehrung, d. h. an einzelnen naturalistischen Zügen, entwickelt und durch das Vorbild der Miniaturmalerei sei auch die Tafelmalerei zur Lust an Änderung und zur potenzierten Naturbeob- achtung angeregt worden. Doch diese Keime hätten sich bei der Unzulänglichkeit des künstlerischen Könnens, beim Mangel an Selbständigkeit und Auffassungskraft und beim Fehlen eines eigenen Stiles nicht voll entwickeln können, wenn nicht die technische Erfindung eines Genies sie zur Blüte gebracht hätte, die Erfindung der Ölmalerei durch Jan van Eyck. Um unsere Stellung diesen Ausführungen gegenüber darzulegen, sind wir gezwungen, ein wenig weiter auszuholen. Es sei nur gleich gesagt, daß wir die prinzipiellen Einwände Carstanjens gegen Theorien, welche den unmittelbaren Ursprung einer neuen Kunstform in neuen sozialen Strömungen suchen, für berechtigt und überzeugend halten, seine eigene Deutung des Ursprunges der neuen nieder- ländischen Malerei dagegen für unzureichend und nicht minder konstruiert als die alten Erklärungs- versuche. Die Anschauung, daß die naturalistischen Motive in der Handschriftenausschmückung Vorläufer des neuen naturalistischen Stiles seien, ist ebensowenig neu als die Behauptung, daß sie durch die Ölmalerei zur Entfaltung gebracht wurden. Dieselbe Meinung hat schon Waagen vertreten und man hat anderweitige Erklärungsversuche gemacht, weil man die Unzulänglichkeit dieser Ab- leitung schon lange eingesehen hat. Wir sind weit davon entfernt, die Möglichkeit einer Beeinflussung der Kunstentwicklung durch technische Erfindungen abzuleugnen. Doch wie hätte die Erfindung einer neuen Maltechnik plötzlich die Kunst von den naivnaturalistischen Einfällen der Randleistendrolerien zu dem allvermögenden Naturstudium des Jan van Eyck bringen sollen? Mit ebensoviel Berechtigung könnte die Reformation einzig und allein auf die Erfindung der Buchdruckerkunst zurückgeführt werden. Neue Darstellungsformen können einer technischen Erfindung ebensowenig unmittelbar ent- nommen werden als neuen sozialen Strömungen und die geschichtliche Deszendenz, welche Carstanjen für sie angenommen hat, ist eben nur die alte unzulängliche, der gegenüber die Kunst Jan van Eycks als ein Wunder betrachtet werden muß. Trotzdem ist die Abhandlung Carstanjens ein lautes und deutliches Memento des Fortschrittes, der sich anderweitig vollzogen hat. Die Philosophie hat die Dirigentenstelle in der Symphonie der Wissen- schaften verloren, die sie in Zeiten der doktrinären Untersuchungsmethoden innehatte, und muß, wenn sie sich überhaupt Daseinsberechtigung erringen will, denselben mühseligen Weg wandern, den die anderen exakten Wissenschaften längst eingeschlagen haben. Als ein Mißverständnis dieser neuen Forderung ist der Aufsatz Carstanjens entstanden. Wie uns die Scholastik gelehrt hatte, logische Gedankenketten herzustellen, so lehrte uns die moderne Wissenschaft, nach und nach die Tatsachen in einzelne vom Standpunkte der wirklichen Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 167 oder als wirklich angenommenen Kausalverbindung zwingende Entvvicklungsketten umzusetzen. Unter dem Einflüsse der exakten Forschungsmethoden lernten wir nach und nach — bewußt oder un- bewußt — in wissenschaftlichen Untersuchungen eine Tatsache nie als eine vereinzelte Erscheinung sondern stets als ein Glied in einer bestimmten Aufeinanderfolge von Tatsachen derselben oder ver- wandter Art zu betrachten. Es ist dies nach unserer Uberzeugung die wichtigste und bleibendste Er- rungenschaft, zu welcher der nach Erkenntnis ringende menschliche Geist in neuerer Zeit gelangte, der älteren dogmatisch-deduktiven Wissenschaft gegenüber so neu und epochal, als es nur die Scholastik dem frühmittelalterlichen Enzyklopädismus gegenüber gewesen ist. Das fast naive Mißverständnis des Philosophen bestand darin, daß er vermeinte, eine entwick- lungsgeschichtliche Reihenfolge in biologische Faktoren und Gesetze umsetzen und umgekehrt aus diesen Gesetzen den geschichtlichen Vorgang erklären zu können, wo ihm doch nur eine zufällige Anein- anderreihung von vereinzelten und das Problem durchaus nicht erschöpfenden geschichtlichen Tat- sachen zu Gebote stand. Selbst eine erschöpfende Kenntnis der Darstellungsprobleme einer einzelnen Kunstperiode würde nicht ausreichen, geschichtlich-biologische Gesetze des Kunstschaffens nachzu- weisen, so lange wir nicht über alle historischen Faktoren unterrichtet sind, die dabei in Betracht kommen, umsoweniger die vermeintliche Geschichte einer technischen Erfindung. Und doch mußte uns erst aus einer Untersuchung, die auf so lahmen Füßen geht, die Mahnung zukommen, daß der neue Stil Jan van Eycks nicht ohne Zusammenhang mit den Elementen der voran- gehenden Kunst betrachtet und erklärt werden darf. Ist es nicht dasselbe, als müßte man einen Rechts- historiker erst darauf aufmerksam machen, daß neue Rechtsnormen weder als zeitlose und unbe- schränkte Phantasieschöpfungen noch als eine Offenbarung aufgefaßt werden können sondern in ihren konstruktiven Elementen durch die vorausgehende Entwicklung der rechtlichen Anschauungen be- stimmt werden und daß es keine Macht, keine Beeinflussung gibt, die über die dadurch gestellten Grenzen hinaus Neues hervorbringen könnte! Wie wären wohl viele von Jenen, die gedankenlos die alte Phrase von dem neuen Naturgefühl nachschreiben, über die Zumutung empört, daß sie die Kunst und ihre Ausdrucksmittel aus den Gesetzen der geschichtlichen Evolution ausgeschaltet haben wollten! Und doch ist «die Natur, die plötzlich zum Menschen eine neue Sprache redet», und «die Kunst, die durch diese Sprache vom Idealismus zum Naturalismus umgewandelt wird», ebenso transzendental wie die Offenbarungsbeweise der dogmatischen Literatur. Jede geschichtliche Bildung ist ein Glied einer bestimmten geschichtlichen Entwicklungskette und bedingt durch die vorangehenden Bildungen der- selben Materie — so lautet die Voraussetzung und der Berechtigungstitel der modernen exakten Wissenschaft — ohne das wäre sie ein Possenspiel. Das eigentliche und wichtigste Substrat der Ge- schichte der Kunst, wenn sie mehr sein soll als Künstlergeschichte, ist die Entwicklung der formalen Darstellungsprobleme, und daß man diese nach dem entwicklungsgeschichtlichen Prinzipe untersuchen muß, ist die F"orderung, die nun auf dem sonderbaren Umwege einer verfehlten erkenntnistheoretischen Studie in unserer Frage endlich geltend gemacht wurde. Es war schon wahrlich Zeit dazu. Wie alle Gedanken eines Menschen durch die Erwerbung der Fähigkeit, richtige Schlüsse zu ziehen, beeinflußt werden, so konnte sich auch kein Gebiet der geschichtlichen Forschung der gene- tischen Auffassung des historischen Werdens auf die Dauer entziehen. Man übernahm zunächst die äußere Form des neuen Systems und begann stilgeschichtliche Entwicklungsreihen aufzustellen. Selbst in der Geschichte der altniederländischen Kunst wurden Stammbäume dieser Art aufgestellt, die jedoch nie weiter zurückgehen als bis zu den Brüdern van Eyck, deren Hauptwerk «am Anfang steht» wie in älteren Büchern über die Geschichte der Reformation der Geburtstag Luthers. Man spricht höchstens von «Vorläufern» des Hubert und Jan van Eyck, wie man von den «Vorläufern» Luthers gesprochen hat. Wie Mühlwerke klappern da die harmlosen Nachbeter der neuen Religion, an alte Bette gebunden und ohne Ahnung, woher der Strom kam, der sie in Bewegung gesetzt hat. Dann gibt es die Gilde der Kenner und Täufer, die nicht minder ihre Existenz und Methode dem neuen wissenschaftlichen Prinzipe verdanken. Sie haben wohl am meisten geholfen, den Schutt weg- zuräumen, unter dem der Schatz der altniederländischen Malerei verborgen lag; doch wie richtige i68 Max Dvofäk. Goldgräber, gruben sie nach Gold zumeist eben nur des Findens halber. Auch für sie ist der Genter Altar kaum mehr als ein Geburtstagsdatum, ein zufälliger Terminus, bei dem ihre Betätigung einzu- setzen hat; Hubert und Jan interessieren sie nur in ihrem Schulzusammenhange mit Rogier, ßouts, Memling u. s. \v., und ihre Bilder werden nach derselben Schablone behandelt wie die Bilder des Meisters der zehntausend Märtyrer. Man ist dort und da befriedigt, wenn nur von den «Begründern der neuen Malerei» ab die Sache recht oder schlecht stimmt und klappt; was früher war, gehört, wie in den Museen, in eine «andere Abteilung» und kann durch einen kurzen Hinweis erledigt werden. So hat man z. B., wie seinerzeit bereits Crowe und Cavalcaselle, von neuem auf Broederlam ^ oder auch auf Jean de Beaumes und Henri Belechose^ hingewiesen als «Vorfahren» der Brüder van Eyck, ohne dafür andere Gründe anführen zu können, als daß sie auch Nordländer gewesen sind und vor dem Brüderpaare gelebt und gemalt haben; denn künstlerisch könnte man ebensogut auch Giotto und Simone Martini als Ahnherren der neuen niederländischen Malerei bezeichnen. Stilistisch und formalgeschichtlich liegt zwischen diesen Künstlern und unseren Helden eine solche Kluft, daf3 diese Zusammenstellung, statt eine Lösung zu enthalten, als eine besonders scharfe Verdeutlichung des Ge- heimnisses betrachtet werden kann, in welches die Jugendjahre der niederländischen Malerei gehüllt sind. Hätte sie keine anderen Lehrer gehabt als diese, dann müßten wir doch wieder an Wunder glauben. Andere, die einen schärferen Blick besessen haben, verwiesen auf die Skulpturen des Klaus Sluter und seiner Schule als auf das Vorbild des neuen naturalistischen Stiles — «hier spricht ein den Eycks ebenbürtiger Geist» (Tschudi). Da ist die Verwandtschaft unzweifelhaft; doch ist damit viel gewonnen? Einesteils stehen wir da wieder vor der Frage, woher Sluter seinen Stil genommen hat, und dafür gibt es als Antwort wiederum nur die stereotype Phrase von einer damals sich voll- ziehenden Wandlung vom mittelalterlichen Idealismus zum neuzeitlichen Naturalismus, andersteils ist es kaum möglich, die Verwandtschaft ohneweiters als ein Abstammungsverhältnis aufzufassen. Aus der Plastik hatten die Brüder van Eyck die Anregung empfangen können, die Objekte mit möglichst großer Naturtreue darzustellen; ja wir gehen weiter, es ist selbstverständlich und gar nicht anders denkbar, als daß jede neue naturalistische Errungenschaft der Skulptur auch auf die Malerei einwirken mußte, da die Fähigkeit, Formen neu zu sehen, als eine ebenso psychische als technische Errungenschaft nicht lange auf einen Kunstzweig beschränkt bleiben kann. Doch ist es möglich, auch die epochal neue Auffassung der rein malerischen Probleme durch Hubert und Jan van Eyck auf eine plastische Anregung zurückzuführen? Es ist unmöglich, neue Formen der Raumdarstellung, die den Genter Altar vielleicht noch höher über seine vermeintlichen Vorgänger stellen als sein sachlicher Natura- lismus, unmittelbar aus der gleichzeitigen Plastik abzuleiten oder durch den Einfluß einer neuen «allgemeinen» naturalistischen Tendenz zu erklären, die ja nichts anderes wäre als das alte transzen- dentale «plötzlich neuerwachte Naturgefühl». Die neuen malerischen Aufgaben und Lösungen können ebensowenig über Nacht und aus nichts geschaffen worden sein als die plastischen. Für ihre Genealogie scheinen aber alle Quellen zu versiegen. Einer der letzten Deuter der altniederländischen Kunst hat sich den Sachverhalt folgendermaßen zurechtgelegt:^ Von den älteren Werken der niederländischen Malerei, «welchen die Kenntnis der Naturformen, überhaupt die äußere Naturwahrheit völlig fehlt», führt keine Brücke zu der Kunst des Jan van Eyck und «wären die Künstler einfach auf dem Wege ihrer Vorgänger weiter vorwärts ge- gangen, wie das in Italien um die gleiche Zeit Fra Angelico getan hat, so wäre ein Stil herausge- kommen wie eben der dieses entzückenden Meisters». Doch das ist nicht eingetroffen sondern Jan van Eyck stellte sich im Gegenteile in einen bewußten Gegensatz dieser älteren Kunst gegenüber, indem er sich einer anderen, und zwar einer realistischen Strömung anschloß, welche sich besonders in der ' Müntz, Les influences classiques et le renouvellement de l'art dans las Flandres au XV siecle : Gazette des Beaux Arts 1898, p. 287 ff. ^ Champeaux, L'ancienne ecole de peinture de la Bourgogne: Gazette des Beaux Arts 1898, p. 36 ff. ^ Voll in der Beilage zur Münchner Allgemeinen Zeitung 1902, S. 601. Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. I 69 Skulptur ausgebildet und dem Geiste der Zeit entsprochen hat. Diese Erklärung lasse sich durch den Hinweis auf die Entwicklung der florentinischen Kunst stützen, wo dem Stile des Fra Angelico und Ghiberti der von Männern wie Castagno und Donatello nicht etwa nur gleichzeitig ist sondern gegen- übersteht. «Es wäre hier dasselbe Gesetz der Entwicklung in Gegensätzen zu konstatieren, das Justi in so geistreicher Weise anwendet, um Velazquez aus seinen ihm so ganz unähnlichen Vorläufern zu erklären.» Es ist die alte Theorie der an der Schwelle der neuen Kunst sich vollziehenden Wandlung vom Idealismus zum Naturalismus in einer etwas modernisierten Verkleidung, doch mit neuen Irrtümern verknüpft und ein fast klassisches Beispiel dafür, wohin es führt, wenn geschichtliche Vor- gänge nach Analogien der Tagesereignisse erläutert werden. Ist es nicht, als ob man in einem «Kunstbriefe aus Paris» lesen würde: «Dem jetzt herrschenden krassen Verismus gegenüber macht sich eine extrem idealistische Richtung bemerkbar»? Der Grad der Naturtreue bei einem Kunstwerke wird ebensowenig durch einen einfachen Willensakt unmittelbar bestimmt als durch eine einfache Geschmacksänderung, ebensowenig durch einen subjektiv psychologischen ProzeiS als durch einen sozial-objektiven; beides kann neue Darstellungsstoffe schaffen, nie und nimmer ganz neue Darstellungs- formen. Trotz seiner religiösen Tendenz steht der Mönch von S. Marco in den formalen Aufgaben und Lösungen seiner Kunst ebenso auf den Schultern seiner Vorläufer wie Donatello oder Andrea del Castagno, mit dem höchst alltäglichen Unterschiede, daß sein Stil mit der raschen Entwicklung der flo- rentinischen Kunst nicht Schritt gehalten hat, bis er ein Anachronismus geworden ist. Man braucht nur einen Blick auf seine Porträte zu werfen, um sich zu überzeugen, daß er seine Formenauffassung und Darstellung aus derselben Quelle schöpfte, aus welcher die Kunst Donatellos und aller Florentiner seiner Zeit entsprungen ist und die zu erschließen gerade Ghiberti das meiste beigetragen hat. Wohl haben die Bildhauer in Florenz die Führung übernommen auf dem neuen und doch alten Wege zur Naturwahrheit (denn das lag in den Aufgaben, die damals zu bewältigen waren), doch absolut nicht im Gegensatze zur Malerei, die bereits durch Masaccio auf denselben Weg gewiesen wurde. Und welch ein Fehlgriff liegt in dem Vergleiche mit Velazquez und welches Mißverstehen seines unvergleichlichen Biographen. Es besteht wohl ein Gegensatz zwischen dem größten Meister der Licht- und Luftmalerei und seinen spanischen Amtsvorgängern, doch besteht deshalb ein Gegensatz zwischen ihm und der ganzen vorausgehenden Kunst? Muß man nach dem Ursprünge der malerischen Probleme, die das Neue in seiner Kunst seinen spanischen Vorläufern gegenüber gewesen ist, erst lange Umschau halten? Es liegt selten eine Kunstentwicklung so klar und deutlich zutage wie jene, die von Tizian zu Tinto- retto, von Tintoretto zu Velazquez führt. Doch wo sollen wir bei Jan van Eyck anknüpfen? So tritt uns in dieser letzten Erklärung trotz der neuindividualistischen Maskerade das alte Vasari- van Mandersche Märchen unverhüllter als je entgegen. Man hat auf verschiedene Weise versucht, es zu deuten; es zu beseitigen, wagte oder vermochte man nicht und so blieb es unerschüttert, ja unange- tastet im Wandel der Zeiten. Etwa deshalb, weil es wahr ist? Auf anderen Kunstgebieten wurde in den letzten Jahren die Anschauung von der genetischen Entwicklung der formalen Probleme in der Kunst immer mehr begründet und befestigt. Es waren die Forschungen Wickhoffs über die Geschichte der römischen Kunst, welche durch einen kühnen Schlag dieser Anschauung die Tore geöffnet haben. Ihm und anderen, die ihm folgten, verdanken wir die tatsächliche und bewußte Verwirklichung der entwicklungsgeschichtlichen Forderung in dem Nach- weise, daß in großen Kunstperioden die Darstellungsformen der Kunst in ihrem Verhältnisse zur Natur und hiermit auch die ihnen zugrundeliegenden Darstellungsfähigkeiten bestimmte und einheitliche Entwicklungsreihen bilden, durch die jeder Künstler, jede Kunstströmung an bestimmte Grenzen ge- bunden wird. Davon sollte es nun einmal eine Ausnahme geben? Das wäre der Fall, wenn der Bericht Carel van Manders über die Entstehung der neuen niederländischen Malerei wahr wäre. Einmal sollen wir an ein Wunder glauben; müßte da nicht bald das ganze stolze Schiff unserer Wissenschaft in den Ab- grund sinken? Deshalb war es nötig, noch einmal auf die alten Fragen zurückzukommen. XXIV 25 Max Dvofäk. II. Alte und neue Hypothesen. Wir kennen wohl das Bethlehem der neuen Kunst, doch nicht den Messias, und die erste Frage, auf die wir unterwegs zur Lösung unseres Problems stoßen, lautet: Wer ist als der eigentliche Be- gründer der modernen Malerei im Norden zu betrachten, Hubert oder Jan van Eyck oder vielleicht beide? Mit Erstaunen wird wohl der uneingeweihte Leser vernehmen, daß man sich bisher über die Persönlichkeit des Genius nicht einigen konnte, der das neue Feuer auf den alten Altären angezündet haben soll. In der historischen Uberlieferung stehen darüber zwei Anschauungen schroff gegen- einander. Die älteste Quelle, die uns über die Entstehung jenes Werkes berichtet, das als die große erlösende Tat und der Anfang einer neuen Epoche in der Geschichte der Malerei betrachtet wird, bildet die allbekannte und hundertmal zitierte Inschrift des Genter Altares. Ihr Text ist uns sowohl im Originale als auch in einer alten Abschrift nicht ganz genau erhalten und der richtige Wortlaut bleibt wohl stets ein pium desiderium, welches durch keine noch so geistreiche Emendation restlos befriedigt werden kann. Der wesentliche Inhalt ist jedoch unzweifelhaft. Es wird uns darin berichtet, daß der Maler Hubert — «maior quo nemo repertus» — das Werk begonnen und Johann, der sich bescheiden «arte secundus» nennt, durch Bitten Jodocus Vydts bewogen, die große Arbeit im Jahre 1482 zu Ende geführt hat. Die Echtheit der Inschrift ist unzweifelhaft und wurde auch unseres Wissens nie angezweifelt. Sie be- zeichnet also Hubert mit einer jede andere Deutung ausschließenden Bestimmtheit als den bedeuten- deren Meister; ja weit mehr, als den trefflichsten, den es je gegeben hat. Berechtigt uns das nicht zu dem Schlüsse, daß er der Reformator der Malerei gewesen ist? Hätte erst sein Nachfolger den neuen Stil erfunden, wie wäre es da denkbar, daß in Verbindung mit der bahnbrechenden Schöpfung dieses Stiles ein Künstler der alten, überwundenen Richtung, die durch eine tiefe Kluft von der neuen ge- trennt war, als der unübertroffene, als der größte unter allen Malern gerühmt wird? Den ältesten Schriftstellern, die über die Geschichte der Kunst in Flandern berichten, ist dagegen nicht einmal der Name Huberts bekannt. F'ür sie ist Jan der «saeculi pictorum princeps», dem die Malerei große technische Neuerungen zu verdanken hatte. Es sind wohl Ausländer, die uns diese Nachrichten überliefert haben, doch ihre Zeugnisse sind gewiß nicht kurzweg abzuweisen. Zwei von ihnen sind Zeitgenossen des Jan van Eyck gewesen und ihre Berichte beweisen, daß der Ruhm dieses Künstlers noch zu seinen Lebzeiten oder bald darauf bis nach Italien gedrungen ist. Facius lebte am Hofe von Neapel und sah dort Bilder des Jan; wenn er ihn als den hervorragendsten Maler des Jahr- hunderts bezeichnet, dürfte er darin einer wenigstens an diesem Hofe bestehenden Anschauung Aus- druck gegeben haben, einer Anschauung, die, da sie aus Neapel stammt, kaum von jener der spanischen und französischen Höfe wesentlich verschieden war. Von Hubert wußte man da gar nichts. Die älteste Nachricht über die Brüder und ihr Werk, die unmittelbar auf eine niederländische Überlieferung zurückgeht, ist der Reisebericht des Hieronymus Münzer vom Jahre 1495.^ Münzer be- schreibt kurz das Altarwerk in St. Bavo und fügt dazu die Bemerkung, daß der Maler (magister pictor) für das Werk noch 600 Kronen über den ausgemachten Lohn erhalten habe und daß er vor dem Altare begraben liege. Ob dieser Bericht auf eine Küstererzählung zurückgeht, wie Otto Seeck be- hauptet, oder einem Reiseführer entnommen wurde, was Karl Voll für wahrscheinlich hält, dürfte so ziemlich gleichgültig sein. Er ist uns vor allem ein Beweis, wie wenig man in dieser Zeit bereits dem Reisenden über diese Sachen zu berichten wußte. Kein Name wurde mehr genannt, nur die anek- dotenhafte Geschichte von dem hohen Extralohn wurde weitererzählt. Man kann sie nur auf Jan beziehen; denn erst nach der Vollendung des Werkes soll ihn der überaus zufriedene Auftraggeber dem Künstler gespendet haben. Doch Jan van Eyck wurde in St. Donatian zu Brügge begraben, wogegen ' Abgedruckt bei K. Voll, Jan van Eyck, S. 35. Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 171 sich in St. Bavo zu Gent das Grabmal Huberts befunden hat. Mit Recht macht Seeck darauf auf- merksam, daß Münzer, ebenso wie später noch Carel van Mander, nur die Innenbilder des Altarwerkes beschreibt; die Außenseite, auf der sich die Inschrift befand, wurde ihm nicht gezeigt. Vielleicht konnte der Schrein aus irgendwelchen Ursachen nur mit Mühe oder gar nicht zugemacht werden. Das erklärt uns auch, warum man dem Reisenden über die Namen der Maler nichts zu sagen ver- mochte. Vasaris erste Nachrichten über Jan van Eyck stimmen im wesentlichen damit überein, was bereits von Facius gesagt worden war, wobei jedoch eine direkte Abhängigkeil kaum anzunehmen ist. Es ist eher dieselbe Tradition, die uns da entgegentritt und die von einem über kunsttechnische Fragen weit besser unterrichteten Autor etwas weiter ausgeführt wurde. Hubert blieb ihm unbekannt wie allen seinen Vorgängern. Erst bei Guicciardini finden wir einen neuen oder besser gesagt erweiterten Bericht, Er wiederholt die Nachrichten des Vasari, zu welchen er das hinzufügt, was er selber erfahren konnte. Bei ihm taucht der Name Huberts auf, zum erstenmale in der Literatur: «a pari a pari di Giovanni andava Huberto suo fratello, il quäle viveva et dipingeva continuamente sopra le medesime opere in- sieme con esso fratello». Über die Quelle dieser Nachricht kann kein Zweifel sein. Kurz vorher er- zählt Guicciardini, daß Philipp II. das ganze Altarwerk durch Michael Coxie kopieren ließ, wofür zwei Jahre benötigt wurden (1548 — 1550). Gleichzeitig wurde der berühmte Schrein von Jan van Scorel und Lancelot Blondel restauriert. Bei diesen Arbeiten mußte die Künstlerinschrift wiederum zum Vorschein kommen; ihren Inhalt mag Guicciardini erfahren und daraus auf eine Arbeitsgemeinschaft der Brüder geschlossen haben. Anderweitige Nachrichten über Hubert lagen weder ihm vor noch Vaernewyck, dessen «Spiegel niederländischen Altertums» ein Jahr nach Guicciardinis Buch erschienen ist. Vaerne- wyck war ein Genter Patriziersohn, in Kunstfragen gut unterrichtet, und wir würden die Genter Lokaltradilion über Hubert in seinem Buche sicher finden, wenn es noch eine gegeben hätte. Was uns spätere Autoren über die Bedeutung und das Verhältnis der Brüder van Eyck mehr bieten als die besprochenen Quellen sind lediglich Kombinationen, die sich leicht auf den Kern der älteren Nachrichten zurückführen lassen. Das allgemeine Gesetz, nach welchem sich die Biographien berühmter Männer stets zu einer Legende gestalten, hat hier ebenso gewaltet wie das l'envie de faire un volume de ce qui ne devroit remplir que peu de pages, woran nach Voltaire alle modernen Lebens- beschreibungen kranken. Man vermochte über das menschliche und künstlerische Verhältnis der Brüder immer mehr zu erzählen, bis in der Feder der Frau von Schopenhauer eine rührende Apotheose der Bruderliebe und Geschwistereintracht daraus geworden ist. In niederländischen Quellen hat sich keine Nachricht weder über die künstlerischen Errungen- schaften der Brüder van Eyck, noch über ihr Verhältnis und ihre Bedeutung erhalten, die einen selbständigen Wert beanspruchen könnte. In einem dankenswerten Aufsatze hat vor kurzem Voll alle niederländischen Berichte über Hubert und Jan bis zum XVII. Jahrhundert gesammelt und glaubt aus dieser Zusammenstellung den Schluß ziehen zu können, daß bis zu dieser Zeit Jan in einer un- unterbrochenen Tradition stets weit über seinen Bruder gestellt und für den größten niederländischen Künstler am Beginn des XV. Jahrhunderts angesehen wurde.' Dieser Schluß entspricht jedoch keines- falls dem tatsächlichen Inhalte der Berichte. Münzer hatte, wie bereits gesagt wurde, von seinen niederländischen Gewährsleuten nicht einmal die Namen der Meister des Genter Altares erfahren und die magere Nachricht, daß einer der Künstler eine Extragratifikation erhalten habe, berechtigt uns doch sicher nicht zu weitgehenden Schlüssen über die kunstgeschichtliche Stellung Jans und noch weniger zur Annahme einer gut unterrichteten Tradition. Solche Nachrichten pflegen sich stets am leichtesten und längsten zu erhalten. Von den späteren Schriftstellern kommen vor allem Guicciardini und Vaernewyck in Betracht. Sie berufen sich beide ausdrücklich auf Vasari, wiederholen zuerst das, was er über Jan geschrieben hat, und fügen dann das an, was sie selbst ermittelt haben, darunter die Nachricht, daß Jan einen ' Repertorium XXIII, S. 92 ff. 25* 172 Max Dvofäk. Bruder hatte, welcher ebenfalls Maler gewesen ist. Nichts von dem, was sie Neues enthalten, setzt eine fortlaufende mündliche Tradition voraus; ihre Quellen waren Denkmäler und Dokumente, die auch in einer anderen und späteren Zeit noch hätten benützt werden können. Wenn ihnen ein Bericht über die Bedeutung Jans vorgelegen wäre, hätten sie ihn gewiß in ihre Geschichtswerke aufgenommen. Wir finden jedoch nichts Ahnliches darin sondern die Erzählung Vasaris von der Erfindung der Öl- malerei bildet den Kern ihrer und aller folgenden Berichte. Die Autorität des Vasari und die nie be- zweifelte Nachricht, daß Jan die Ölmalerei erfunden habe, konnte bei einem Schriftsteller des XVI. Jahrhunderts, der an Hyperbeln gewohnt war, nicht durch das in einer Inschrift enthaltene Lob erschüttert werden. Guicciardini legt sich den Sachverhalt so zurecht, daß er beide Brüder «a pari a pari>^ arbeiten läßt. Vaernewyck, dem auch die Stelle bei Facius bekannt war, bedient sich der Worte und der Nachricht des Italieners, wenn er Jan als den «Prince von alle Schilders» bezeichnet. Solange ältere oder nachweislich unabhängige niederländische Berichte über Hubert und Jan fehlen, kann nicht mit Sicherheit angenommen werden, daß die in der zweiten Hälfte des XVI. Jahrhunderts in den Niederlanden verbreitete Anschauung auf eine einheimische Uberlieferung und nicht auf die Schil- derungen der italienischen Schriftsteller zurückzuführen sei. Das gilt natürlich noch mehr für spätere Darstellungen, die durchwegs auf den vorangehenden aufgebaut sind. ^ Erst die archivalische Forschung unserer Zeit hat wiederum neue urkundliche Nachrichten über Hubert und Jan ans Licht gezogen. Wir erfahren aus ihnen wohl, daß Jan am Hofe des Herzogs von Burgund, in dessen Diensten er stand, hoch angesehen war. Uber Hubert erfahren wir weniger, was jedoch nicht ins Gewicht fällt, da er sich nicht, wenigstens nicht als fertiger Künstler, in einem Hof- dienste befanden hat. Während uns bei Hofkünstlern die Rechnungen immerhin öfter Aufschluß über die Besoldung und Verwendung der Meister gewähren, ist es bei selbständigen Werkstätten nur ein Zufall, wenn wir über diesen oder jenen Auftrag unterrichtet sind. Der neuen Kunst der Brüder ge- schieht in den Urkunden keine Erwähnung, ein Wort des Lobes oder der Bewunderung würden wir da vergeblich suchen. Ist es nicht ein Rätsel, wenn in sämtlichen nordischen Quellen, die dem Brüderpaare nahestehen, der großen Revolution in der Kunst mit keinem Worte gedacht wird? Hatten 'vielleicht die Geschicht- schreiber jener Zeit kein Kunstinteresse? Wie wurde doch noch Beauneveu von Froissart bewundert. Oder verkannte man das Neue, wurde es erst später gewürdigt? Dem widerspricht die Stellung Jans, die ehrenvollen Aufträge, die Hubert erhalten hat. Doch kehren wir zu unserer nächstliegenden Frage zurück. Die geschichtlichen Berichte, die uns über Hubert und Jan vorliegen, geben keinen bestimmten Aufschluß darüber, wer von den Brüdern als der Begründer eines neuen Stiles und der größere Künstler anzusehen sei, da sie sich direkt wider- sprechen. Es ist unmöglich und unzulässig, sich für eine von den beiden Anschauungen dezidiert zu entscheiden. Man kann wohl die begeisterten Worte des Lobes und der Ehrfurcht am Genter Altare als eine Tat der Pietät oder Dankbarkeit des jüngeren Bruders erklären, man kann jedoch mit eben- soviel Berechtigung darauf hinweisen, daß es kaum auffallend wäre, wenn die italienischen Schrift- steller nur von Jan, der in Hofdiensten stand und dessen Bilder nach Italien gelangten, etwas erfahren haben, wogegen ihnen der eigentliche Schöpfer des neuen Stiles, der in Gent lebte und dessen Werke zu seinen Lebzeiten oder bald darauf kaum ins Ausland gelangten, unbekannt geblieben ist. Man kann mit ebensoviel Recht vermuten, daß der Genter Hymnus doch irgendwie den Tatsachen entsprochen haben muß und es ausschließt, daß Hubert ein minderwertiger und zurückgebliebener Meister gewesen ist, als auch, daß Jan ein ungewöhnlich berühmter Meister gewesen sein dürfte, da sein Ruhm noch zu ' In diesem Sinne ist die Meinung Volls zu berichtigen. Voll ist der Ansicht, daß «unsere Kenntnis von dem Leben der Brüder Eyck durchaus aus niederländischen Quellen stammt und nicht auf dem Umwege über Italien zu uns gelangte. Die Quellenschriftsteller, die am meisten für uns in Betracht kommen, sind Guicciardini und Vaernewyck». Doch beide kennen ja den Vasari und behalten im wesentlichen seine Ansicht. Es widerspricht völlig allen Grundsätzen der historischen Kritik, wenn man spätere Quellen, selbst wenn sie mehr enthalten, als selbständig erklärt älteren gegenüber, die denselben Kern der Erzählung haben, falls nicht Widersprüche vorhanden sind, die darauf hinweisen würden. Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. seinen Lebzeiten bis nach Italien gedrungen ist. So kann auf beide Schalen der Wage ein gleiches Ge- wicht gelegt werden. Man sollte glauben, daß die Entscheidung einfach und leicht in den Werken der beiden Künstler zu finden sei; doch gerade da stehen sich die Ansichten schroff gegenüber. Ein bezeichnetes oder anderweitig beglaubigtes Werk Huberts außer dem Genter Altare hat sich nicht erhalten und bei dem Genter Altare konnte man bisher nicht einig werden, welche Teile Jan und welche Hubert zuzu- schreiben sind. Je nach der verschiedenen Teilung des Genter Schreines hat man anderweitige Bilder Hubert zugewiesen oder wiederum abgesprochen. Es wurden so viele Behauptungen darüber aufge- stellt, so viele Bücher und Aufsätze über Hubert und Jan verfaßt wurden. Sie alle aufzuzählen hätte keinen Zweck, da sie zumeist ohne jede Begründung in die Welt geschickt und bald wieder durch neue ersetzt wurden. Wir wollen uns nur mit jenen beschäftigen, die auch noch heute in Betracht gezogen werden. Am häufigsten wurde in der neueren Literatur die Meinung ausgesprochen, daß dem älteren Bruder, der das Genter Werk begonnen hat, der Entwurf des ganzen Altares und die Ausführung der drei Mittelbilder der oberen Reihe zugeschrieben werden müsse, wogegen die ganze Außenseite als ein Werk des Jan zu betrachten sei. Uber die übrigen Bilder der Innenseite waren die Ansichten ver- schieden. Crowe und Cavalcaselle weisen Hubert noch «einzelne der unteren Tafeln» zu, z. B. jene mit den Einsiedlern, wo wir «eine ebenso große Kunst entfaltet finden wie oben, jedenfalls eine größere als in allen jenen Gemälden, welche in späteren Jahren nachweislich von Jan van Eyck allein herrühren», ein Parere, welches selbst dem unbegreiflich und überraschend erscheinen dürfte, der mit den unerforschbaren Wegen der kritischen Dekretierungen vertraut ist, mit denen wir aus dem großen Pandorakasten der beiden Autoren überschüttet werden. Woltmann beschränkt sich vorsichtig darauf, die drei großen Tafeln der Innenseite mit jenen der Außenseite in Gegensatz zu setzen und so ge- wissermaßen nur die Grenzsteine zu bezeichnen, zwischen denen die weitere Teilung vorgenommen werden muß. Ludwig Kaemmerer nimmt in seiner Monographie über die Brüder van Eyck außer den drei Mitteltafeln auch noch die Anbetung des Lammes für Hubert in Anspruch, eine Anschauung, für die sich neuerdings auch Hulin ausgesprochen hat. Hugo von Tschudi hat dagegen in seinem schönen Aufsatze über die altniederländische Kunst die Vermutung ausgesprochen, daß der Engelschor wenigstens in der Anordnung und Anlage als ein Werk des Hubert angesehen werden kann. Diese Zuschreibungen, die sämtlich parenthetisch und als eine mehr oder weniger bestimmt lautende Hypothese geäußert wurden, gehen von dem Genter Altarwerk aus. Einen anderen Weg schlagen Arbeiten ein, die in der letzten Zeit ausschließlich der Lösung dieser großen Eyck-Frage ge- widmet wurden. Es sind dies vor allem zwei Monographien, die gleichzeitig erschienen sind und von welchen eine Karl Voll, die andere Otto Seeck zum Verfasser hat. ^ Von dem Buche Volls hat ein Berichterstatter mit Recht gesagt, es sei vor allem die Arbeit eines Kunstfreundes — und eines Kunstrezensenten, könnte man hinzufügen. ^ Wer die geistvollen Referate Volls über die moderne Kunst gelesen hat, für den war wohl seine Studie über Jan van Eyck keine Uber- raschung. Die Vorzüge seiner Kunstberichte findet man in seinem Buche wieder: eine scharfe Beob- achtung, ein feines und elastisches Kunstverständnis und glückliche und inhaltsreiche Analysen der ein- zelnen Kunstwerke. Diesen Vorzügen verdanken wir bei Voll eine Reihe neuer Gesichtspunkte und eine wesentliche Förderung unserer Erkenntnis der Kunst des Jan van Eyck. Dennoch ist sein Buch nicht nur gerade in jenen Resultaten, die für unsere Frage in Betracht kommen, sondern auch seiner Methode nach als verfehlt zu bezeichnen. Die Abhandlung Volls ist nur der Form nach eine eigentliche geschichtliche Untersuchung; im Grunde ist sie ein ähnlicher Kunst- bericht wie seine Ausstellungsanzeigen. Voll geht in seiner Untersuchung nicht von den überlieferten historischen Tatsachen oder den Ergebnissen der bisherigen Forschung aus sondern legt seiner Studie ' Karl Voll, Jan van Eyck; Otto Seeck, Über die charakteristischen Merkmale der Brüder van Eyck. * M. Friedländer im Repertorium XXIII, S. 470 ff. 174 Max Dvofäk. eine Betrachtung der künstlerischen Qualitäten der signierten Werke des Jan van Eyck zugrunde und generalisiert diese Betrachtung. Bilder, die nicht dieselben Qualitäten aufweisen, spricht er im Wider- spruche mit der bisherigen Meinung dem Meister ab, ohne sich um ihr Schicksal weiter zu bekümmern. In einem solchen Verfahren liegt eine doppelte Gefahr, abgesehen davon, daß man die künstlerische Qualität nur dann für einen Beweis benützen soll, wenn sie außerhalb der rein subjektiven Empfindung steht, was bei der Beweisführung Volls nicht immer der Fall ist. Es ist selbstverständlich, daß für die Beurteilung eines Künstlers vor allem seine beglaubigten Werke herangezogen werden müssen; doch können Kriterien, die diesen Werken entnommen werden, nur dann als erschöpfend und absolut be- weiskräftig betrachtet werden, wenn man beweisen kann, daß sie wirklich individuell sind, oder wenn der Beweis geführt werden kann, daß alle anderen Werke, die mit dem Künstler in Verbindung ge- bracht wurden, entweder aus allgemein entwicklungsgeschichtlichen Gründen oder deshalb, weil sie die Merkmale eines anderen bestimmten Künstlers tragen, aus der Reihe seiner Arbeiten auszuschei- den sind. Man stelle sich einmal vor, daß Millet nur die Bilder bezeichnet hätte, die er als Schüler des Delaroche oder als Nachahmer des Diaz gemalt hat; wie falsch wäre die Vorstellung, die man sich von ihm nach diesen Bildern machen würde. Die bezeichneten Bilder des Jan van Eyck stammen alle aus dem Zeiträume von zehn Jahren, der, wie wir aus archivalischen Nachrichten wissen, nur einen Abschnitt seiner malerischen Tätigkeit bildet. Carel van Mander behauptet sogar, — es muß dahin- gestellt bleiben, ob mit Recht oder Unrecht — er sei alt geworden; hätte da seine Kunst nicht eine Reihe von Entwicklungsstadien durchmachen können? Wie lange und wie weitgehend hat sich der Stil des Giovanni Bellini verändert! Mit noch größerem Nachdrucke ist jedoch der Beweis zu fordern, daß die Kriterien, die für die Kunst eines Meisters aufgestellt werden, tatsächlich auch individuell sind und nicht als Gemeingut der Zeit betrachtet werden können. So klingt es geradezu naiv, wenn Voll die Differenzierung der Typen als ein Erkennungsmerkmal des Jan van Eyck, als das «eigentliche Geheimnis seiner Kunst» gelten läßt und so ahnungslos an dem wichtigsten entwicklungsgeschichtlichen Problem der altniederländischen Malerei vorbeigeht. Man könnte eine Reihe solcher Verwechslungen der persönlichen und der der ge- samten Kunst jener Zeit gemeinsamen Eigentümlichkeiten aufzählen, die sich Voll zuschulden kommen läßt; in dieser Richtung offenbart sich am deutlichsten die Unzulänglichkeit seiner deduktiven Me- thode. Ebenso wie die geistreichsten Aussprüche über eine vergangene Periode für die geschichtliche Erkenntnis nutzlos sind, wenn ihnen nicht der gesamte bis dahin ermittelte historische Sachverhalt zu- grunde liegt, sind auch die glänzendsten Analysen von alten Kunstwerken für die kunstgeschichtliche Forschung unfruchtbar, wenn sie nicht von sämtlichen historischen, stilkritischen und allgemein ent- wicklungsgeschichtlichen Tatsachen ausgehen, die für die Periode, um die es sich handelt, festgestellt wurden oder festgestellt werden können. Für die Frage, welche uns zunächst beschäftigt, kommt vor allem die Untersuchung Volls über den Anteil der beiden Brüder an dem Genter Altarwerke in Betracht, dem er ein Kapitel in seinem Buche gewidmet hat. Das Verhältnis der beiden Brüder bespricht er außerdem in dem bereits genannten Aufsatze im Repertorium. Auf Grund der Merkmale, die Voll von den bezeichneten Bildern des Jan abgeleitet hat, erscheint ihm der ganze Altar als eine Arbeit Jans. Die Inschrift ist seiner Meinung nach zwar wahrheitsgetreu; doch hat Jan sowohl der Tradition als dem stilistischen Befunde nach die Hauptarbeit geleistet und selbst die Tafeln, welche Hubert vielleicht angelegt hat, später übergangen, so daß er allein als der Meister des Altares gelten muß. Der Name des Malers «maior quo nemo repertus» sollte uns also ein leerer Laut und die Frage, wer von den beiden Brüdern der eigentliche Begründer der neuen Malerei gewesen ist, ein für immer unlösbares Rätsel bleiben? Der Leser mag jedoch deshalb nicht das Interesse an unserer Wanderung verlieren; auch diese Suppe wird nicht so heiß gegessen, als sie gekocht wurde. Es ist wohl als sicher anzunehmen, daß Jan einen bedeutenden Anteil an dem großen Kunstwerke hat. Gibt es aber wirklich unwiderlegbare Gründe dagegen, daß uns in seinen Tafeln auch ein Vermächtnis Huberts erhalten ist, wie es die In- Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. Schrift klar und deutlich besagt? Geradezu als ein Hohn gegen die einfachsten Regeln der historischen Kritik klingt die Behauptung Volls, daß die historische Tradition seine Ansicht bestätigte. Selbst wenn die Überlieferung der späteren Zeit Jan ausdrücklich allein als den Urheber des Altarwerkes bezeichnen würde, müßten wir unbedingt der Inschrift, welche beiden Brüdern wesentlichen Anteil an dem Schreine zuschreibt, als der unmittelbaren und vor allen anderen glaubwürdigen Quelle den Vorzug geben. Doch so steht die Sache nicht einmal. Wie wir hörten, enthält bereits der Bericht Münzers, der einzige, der sich vor dem Künstlerbuche des Carel van Mander mit dem Genter Altare ausführ- licher beschäftigt, nur unbestimmte und verworrene Nachrichten, von welchen sich eine auf Jan, die andere auf Hubert zu beziehen scheint, doch kein Name wird uns genannt. Was die Quellen vor Carel van Mander über den Altar berichten, ist nur eine Umschreibung der Altarinschrift mit Hinzufügung einer Lobpreisung Jans, die, wie bereits gesagt wurde, den italienischen Autoren entnommen ist. So gibt es nicht einmal eine Quelle, welche der Inschrift widersprechen würde. Es bleibt also für die Beweisführung Volls nur der stilistische Befund übrig. Die Ubereinstim- mungen, auf Grund welcher er alle Tafeln des Altares dem Jan van Eyck zuschreibt, sind solcher Art, daß sie presso a poco auch ausreichen würden, alle Skulpturen einer der großen gotischen Kathedralen einem Meister zuzuschreiben. Das Kapitel über den Genter Altar ist der schwächste Teil seiner Unter- suchung. Bei einzelnen Tafeln ist es Voll wohl gelungen, unzweifelhafte Beziehungen zu den ge- sicherten Werken Jans nachzuweisen, so hei den Figuren des ersten Menschenpaares; bei anderen gehen jedoch die Analogien nicht über allgemeine Züge hinaus, die ebensogut bei einem anderen gleich- zeitigen Künstler oder sogar in der ganzen Malerei jener Periode gefunden werden können und auch gefunden werden. Was kann damit bewiesen werden, wenn auf dem Genter Altare wie auf den Bildern des Jan «die heitere Pracht der Welt so eingehend geschildert wird wie möglich und doch überwogen von der hieratischen Würde der Gesamtauffassung» und wenn «die innige Vereinigung von Glanz und strengem Ernst den Grundcharakter des Bildes ausmacht»? Oder was besagt es, daß bei dem Engelschore «die Grundlage, wie immer bei Jan van Eyck, in der scharfen Darstellung einer von dem Künstler persönlich gesehenen Situation gegeben» ist und «die Schilderung genau auf einen bestimmten Moment eingestellt» wird, was wir als «Jans Art von dem Verlöbnisbilde bis zur Brunnenmadonna» betrachten müssen. Auf Grund von Analogien dieser Art könnte man auch Bilder etwa von Tintoretto und Velazquez, von Goya und Manet als die Werke eines Malers ansehen. Es müßte abermals erst be- wiesen werden, daß die Darstellung einer persönlich gesehenen Situation und die «Einstellung der Schilderung auf einen bestimmten Moment» eine Erfindung des Jan gewesen und nicht bereits seinem Bruder oder der vorangehenden Kunst überhaupt bekannt gewesen ist. Womöglich noch weniger beweiskräftig sind die Gründe, aus welchen Voll die Anbetung des Lammes mit den Seitentafeln für ein Werk des Jan erklärt. Ist es nicht eine völlig willkürliche Be- hauptung, wenn als Argument für die Autorschaft Jans angegeben wird, daß «das Maßverhältnis der Figuren zu dem Räume von dem einzigen Jan dazu benützt wird, dem Gemälde einen repräsentativen feierlichen Charakter zu geben»? Hier kann man nicht einmal mehr sagen: quod est demonstrandum; denn ein Blick auf die Tafeln des Altares genügt, um sich zu überzeugen, daß das Maßverhältnis der Figuren zum Räume kein wesentlich anderes ist als in den Werken der unmittelbar vorangehenden und folgenden Malerei. Es treten uns gewiß auf den Bildern des berühmten Schreines Neuerungen in Bezug auf Raumgestaltung entgegen, bei welchen wir vorläufig wiederum nicht wissen, wer sie in die Kunst eingeführt hat; doch gerade in den Maßverhältnissen wirken hier, wie es z. B. bei der Ver- kündigung besonders deutlich ist, die Gepflogenheiten der Trecentokunst unverkennbar nach. Das- selbe gilt für andere Archaismen, welche Voll als Merkmale der Kunst Jans aufzählt, das Kolorit, die Zusammensetzung der Landschaft aus einzelnen Teilen, das Ansteigen des Hintergrundes und die primitive Anordnung, welche hintereinander befindliche Gegenstände übereinander stellt. Das sind alles Bande, welche den Stil der Meister der Tafeln von St. Bavo mit der Malerei des ausgehenden Mittelalters verknüpfen, und nichts weniger als persönliche Eigentümlichkeiten eines bestimmten Künstlers. Sie weisen uns vielmehr den Weg, auf dem wir den Grundlagen der Kunst der geheimnis- 176 Max Dvofdk. vollen Urheber des wunderbaren Schreines nachgehen und dahin gelangen können, ihre geniale Schöpfung aus dem Reiche der Wunder und Zauberei den Grenzen der geschichtlichen Entwicklung zurückzugeben. Außer diesen unbegründeten Behauptungen und dilettantenhaften Verwechslungen der zeit- gemäßen und individuellen Stileigentümlichkeiten enthält die Beweisführung VoUs auch einige Be- merkungen, welche geeignet erscheinen, ernster erwogen zu werden. Voll sagt über die Anbetung des Lammes und die dazugehörigen Seitentafeln außer dem bereits Angeführten noch folgendes: «Für die Frage nach der Autorschaft muß endlich der Umstand als ganz besonders wichtig hervorgehoben werden, daß es noch niemand gelungen ist, in der Malweise einen Unterschied gegen Jans gesicherte Werke nachzuweisen. In der Tat ist sie bis in die feinsten Details der Formengebung, der Schatten- führung, der plastischen Wirkung vollkommen identisch mit Jans Handschrift. Vor allem kehren die von ihm gerne angewendeten Farben auch hier wieder.» In Bezug auf die drei oberen Mittelbilder sagt Voll ähnlicherweise, daß sich die Malweise mit jener Jans deckt, gegen dessen Autorschaft auch nichts Widersprechendes in Faltenwurf, Körperbildung, Arrangement und Typenwahl zu finden sei, und in Bezug auf die beiden Porträte, daß «sie die Handschrift dem Kenner von Jans Technik in allen Einzelnheiten als sein Werk verrate». Wenn das alles richtig wäre, so müßte man allerdings diese Tafeln als gesicherte Werke Jans betrachten. Doch sind nicht gerade die Mittelbilder der oberen Reihe und die Anbetung des Lammes seit jeher bis in die letzte Zeit ebenso kategorisch dem älteren Bruder zugeschrieben worden? Eine Reihe von Forschern entdeckte also in diesen Bildern einen anderen Stil als in den übrigen Tafeln. Thesen werden da mit Thesen geschlagen und nicht mit Gründen. Die Ubereinstimmung des tech- nischen Verfahrens und der Malweise allein kann, falls sie tatsächlich bestehen sollte, nicht als ein aus- reichender Nachweis einer und derselben Hand betrachtet werden; man könnte sonst in hundert Fällen neunzigmal die Werke der Lehrer und Schüler verschmelzen. Ausschlaggebend wäre erst das, was Voll als die Handschrift des Künstlers bezeichnet. Wer sich Je mit stilistischen Studien beschäftigte, weiß, wie nahe oft in der künstlerischen Absicht, im Stil, in der Technik, im Kolorit, in der Formen- gebung, selbst in der Empfindung Werke von Meistern und Schülern, von Begründern einer Richtung und Nachahmern, ja selbst von sich persönlich fernstehenden Zeitgenossen verwandt sind, so daß erst eine minutiöse Untersuchung über die subjektiven Eigentümlichkeiten Klarheit verschaffen kann. Wer verbürgt uns, daß bei Hubert und Jan van Eyck nicht etwas Ahnliches der Fall gewesen ist? Wenn Hubert, wie uns die Inschrift meldet, der größere Künstler und der Begründer der neuen Kunst, wie wir dann annehmen können, gewesen ist, wäre es da nicht höchst wahrscheinlich, daß sich ihm sein jüngerer Bruder so nahe anschließt als nur möglich? Nicht eine theoretische Erwägung sondern die Erfahrung der letzten Jahrzehnte hat uns gelehrt, daß Bilderbesfimmungen nicht auf subjektiven Ein- drücken und Aufstellungen welcher Art immer begründet sein dürfen. Was nicht objektiv faßbar und darstellbar ist, hat keine Beweiskraft. Erst wenn bewiesen werden könnte, daß sich außer der allge- meinen Stilübereinstimmung auch die Formen völlig decken, und wenn bewiesen würde, daß in der Zeichnung oder Modellierung Züge zu finden sind, bei denen es ausgeschlossen ist, daß sie als Ge- meingut betrachtet werden, sondern die mit Fug und Recht für die Besonderheit eines einzigen Meisters zu halten sind, könnte die Zuschreibung sämtlicher Tafeln an Jan überzeugend wirken; doch diesen Beweis, der nicht einfach durch eine Behauptung ersetzt werden kann, ist uns Voll schuldig ge- blieben. Und so bringt sein Buch, bei dem wir länger verweilten, weil es mit ebensoviel Geist als Ent- schiedenheit geschrieben ist, in unserer Frage nicht nur keine Lösung, sondern ist vielmehr geeignet, eine neue und weitere Verwirrung anzustiften. Doch auch von anderer Seite sollte der Wirrwarr der Ansichten noch vergrößert werden. Man wurde zu neuen Hypothesen durch Bilder verleitet, die in den letzten Jahren entdeckt oder ihrer Be- deutung nach gewürdigt wurden. Im Jahre 1470 hat Anselm Adornes, ein Brügger Patrizier, seinen zwei Töchtern je ein Bild ver- macht, «daerinne dat sente Franssen in portrature van meester Jans handt van Heyck ghemaect staet». Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 177 Für eines dieser Bilder hat vor zwanzig Jahren Henri Hymans eine früher unbeachtete Stigmatisation des heil. Franziskus in der Turiner Galerie erklärt. Da das Bild Eycksche Züge aufweist und da es naheliegend schien, es mit dem Testamente des Adornes in Verbindung zu bringen, hat die Entdeckung viel Anklang gefunden. ' Einige Jahre später hat Justi die Vermutung ausgesprochen, daß sich uns in der Eremitage zu St. Petersburg die bisher verkannten Reste eines Triptychons von Jan van Eyck erhalten haben. Es sind zwei Tafeln mit der Darstellung der Kreuzigung und des jüngsten Gerichtes, die bisher ein ruhm- loses Dasein als Werke des Petrus Kristus geführt haben. Justi macht auf die Verwandtschaft mit dem Madrider Lebensbrunnen und auf die Ubereinstimmung in den Typen mit jenen der unteren Innen- tafeln des Genter Altares, in der Landschaft mit der Madonna des Kanzlers Rolin und dem Turiner Franziskus aufmerksam. ^ In der Komposition viel einfacher, doch sonst fast wie ein Zwillingsbruder des Petersburger Bildes ist eine Kreuzigung, welche vor einigen Jahren von Bode für die Berliner Galerie erworben wurde. Tschudi hat sie als ein Werk Jan van Eycks veröffentlicht. ^ Die Beweise dafür entnimmt er der Kreuzigung in der Eremitage, mit der «die Ubereinstimmung nichts zu wünschen übrig läßt», außerdem wiederum dem Turiner Franziskus und den Tafeln der unteren Innenreihe des Genter Altares, die eine lange Reihe von Analogien aufweisen. Liest man das warme und schöne Plaidover Tschudis, so ist man nahe daran, bei dem Bilde «den lebendigen Klang der Eyckschen Sprache heraus- zuhören». Doch bald stellten sich Zweifler ein, die in diesen Bildern ein anderes Formgefühl und eine andere künstlerische Individualität als die des Jan zu finden vermeinten oder sie für unwürdig des großen Meisters erklärten. Es teilten sich die Meinungen. Einige Kenner waren geneigt, diese Bilder, denen auch die schon länger bekannten Marien am Grabe (jetzt im Besitze Herbert Cooks in Rich- mond) angereiht wurden, aus den Werken des Jan van Eyck kurzweg auszuscheiden (Voll); andere verteidigten sie dadurch, daß sie sie für Jugendwerke des Meisters erklärten (Bode). Außerdem ließen sich auch Stimmen vernehmen, zunächst schüchtern, dann immer lauter, daß diese Bilder, da sie den Bildern Jans ähnlich sind und doch nicht von ihm sein können, als Werke des älteren Bruders und als Schlüssel zu der ganzen Hubert-Jan-Frage zu betrachten seien. Der erste, der mit aller Energie diese Anschauung vertreten hat, war Otto Seeck. Ist das Buch Volls unwissenschaftlich seiner Methode und Beweisführung nach, so ist die Arbeit Seecks, die gleichzeitig unter dem Titel: «Die charakteristischen Unterschiede der Brüder van Evck> erschienen ist, dilettantenhaft in der Betrachtung und Beurteilung der Kunstwerke. Der treffliche Historiker, dem wir so viel verdanken, hat sich auf ein Gebiet gewagt, wo außer Scharfsinn und historischer Schulung auch eine Schulung des Auges unumgänglich notwendig ist, die ihm, soweit nach dem Buche über die Brüder van Eyck geschlossen werden kann, ganz und gar abgeht. Wir finden in seinem Buche neben inhaltsvollen und anregenden Bemerkungen ganz phantastische Bildertaufen und Stilanalysen. Seeck geht von der Berliner Kreuzigung aus und versucht zunächst nachzuweisen, daß sie nicht von Jan van Eyck sein könne. Von Jan besitzen wir in Adam und Eva Aktstudien im vollen Sinne des Wortes; dagegen «hat der Leib des Gekreuzigten auf dem Berliner Täfelchen kein anderes Vor- bild gehabt als jene gotischen Holzkruzifixe, wie man sie noch jetzt mitunter in alten Kirchen sieht». In den beglaubigten Werken des Jan seien alle Bewegungsmotive ungeschickt und mißlungen; dem gegenüber zeige der Maler des Kruzifixus gerade in der Darstellung des Augenblicklichen seine aller- höchste Meisterschaft. Auch die Landschaft ist bei ihm nicht aus Naturstudien sondern aus Er- innerungsbildern zusammengestellt. «Soweit (der Maler der Kreuzigung) dem Jan an Lebendigkeit ' Hymans in der Gazette des Beaux Arts XXXVII, p. 78 ff. * Zeitschrift für bildende Kunst XXII, 245. ^ Jahrbuch der preußischen Kunstsammlungen XIX, S. 202 ff". XXIV. 26 178 Max Dvofäk. und Ausdruck überlegen ist, so weit steht er hinter ihm in der genauen Nachbildung des ruhenden Objektes zurück.» Dazu komme noch ein außerhalb des künstlerischen Empfindens gelegenes Kenn- zeichen. Der Maler sei, wie Seeck aus den sinnlos zusammengewürfelten Buchstaben der Inschrift über dem Kreuze schließen zu können glaubt, ein Analphabet gewesen, wogegen Jan zweifellos schreiben und lesen konnte. Da das Berliner Bild einesteils, wie Seeck mit Tschudi annimmt, von einem der Maler des Genter Altares herrühre und doch unmöglich von Jan van Eyck sein könne, so sei es ein Werk Huberts. Von dem Maler des Kruzifixus sind jedoch auch die Petersburger Flügel, der Turiner Franziskus, wie man schon früher angenommen hat, und die zwei Karthäusermadonnen in Paris und Berlin, wie Seeck beweisen will. Alle diese Bilder unterscheiden sich nach seiner Meinung von gesicherten Werken Jans hauptsächlich durch zwei Kriterien. Sie haben alle einen landschaftlichen Hintergrund, dem Jan möglichst aus dem Wege geht, da «das Geheimnis seiner Kunst in der erstaunlichen Nachmalung ein- zelner Objekte und nicht in der idealen Erfindung bestand», zu der alle Landschaften unserer Bilder gezählt werden müssen. Das zweite Merkmal seien die Hände, die in diesen Bildern ganz ausge- zeichnet sind, bei Jan dagegen durchwegs schlecht und nachlässig. Uberlegen war dagegen Jan seinem Bruder in perspektivischen Problemen, so daß mangelhafte Perspektive als ein Kennzeichen des Hubert betrachtet werden könne. An der Hand dieser Merkmale erklärt Seeck auch noch folgende Bilder als Werke Huberts: I. Die Frauen am Grabe Christi. 2. Den kleinen männlichen Kopf in Berlin. 3. Den Lebensbrunnen in Madrid. 4- Das Bildnis in Hermannstadt. 5- Das Bildnis in Leipzig. 6. Das Bildnis eines Greises in der Sammlung Oppenheim. 7- Den Mann mit den Nelken. 8. Die Madonna des Kanzlers Rolin. 9- Den Berliner Christuskopf in Profil. lO. Eine Madonna im Rosenhag, von der uns in Berlin eine Kopie erhalten ist. 1 1 . Von dem Genter Altar alle Tafeln mit Ausnahme des Adam und der Eva, eines Teiles der Anbetung des Lammes, der Figuren und eines Teiles der Landschaft auf der Pilgertafel, der Statue Johannes des Täufers, der Sibyllen und der Architektur zwischen den Verkündigungsszenen nebst den stillebenartigen Zusätzen auf der Marientafel der Verkündigung, den beiden Frauengestalten auf der Einsiedlertafel und des barhäuptigen Ritters auf der Richtertafel. Für Jan nimmt Seeck nebst allen übrigen Bildern, die ihm bisher zugeschrieben wurden, auch noch die Darstellung des Liebeszaubers in Leipzig in Anspruch. Auf Grund dieser Verteilung entwirft er ein neues Bild der künstlerischen Individualitäten der beiden Brüder. Für ihn ist Hubert der große schöpferische Genius und der Begründer des neuen Stiles, pictorum princeps im vollsten Sinne des Wortes. Seine Phantasie und Erfindungskraft ist ebenso erstaunlich wie sein Formengedächtnis. Ohne daß das Naturstudium das leitende Prinzip seiner Kunst gewesen wäre, ringt er sich aus den Fesseln der mittelalterlichen Tradition zu der Freiheit moderner Naturanschauung empor, doch sind seine Werke ebenso ergreifend poetisch und dramatisch als natur- wahr. Auch Jan war ein großer Künstler, doch nur ein Epigone, ein Nachahmer seines Bruders. «Frei schaffende Phantasie hat er allerdings nur in seinen Architekturen bewiesen.» Seine Stärke lag in der Nachbildung des ruhenden Objekts, nicht in der figürlichen Komposition. In dieser Richtung ist er über das hinausgegangen, was sein Bruder begründet hat, indem er sein Naturstudium auch auf die Idealfiguren ausgedehnt und so die großartigen Figuren des ersten Menschenpaares geschaffen habe. Aber diese hoffnungsvollen Bestrebungen gibt er schon im Jahre 1433 wieder auf. Abgesehen vom Bildnis, ist ihm seitdem die menschliche Gestalt nichts weiter als ein unvermeidliches Zubehör zu ihrer leblosen Umgebung, an die sich sein Interesse jetzt ausschließlich heftet. Mit der Darstellung jener Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 179 macht er sich's daher bequem, indem er den Bruder mehr oder minder frei kopiert. Jan wäre also wirklich, wie es die Inschrift meldet, arte secundus. Für Hubert möchte Seeck eine Reise nach Italien annehmen, wodurch seine Kunst zwar immer noch «übermenschlich groß erscheinen würde, aber doch menschlich leichter zu begreifen wäre». Das kühne Gebäude Seecks scheint auf den ersten Blick auf so schwachen Grund gebaut zu sein, daß man meinen könnte, der leiseste Windstoß einer neuen Vermutung hätte es umwerfen müssen; doch es ist das Gegenteil eingetreten. Ein Jahr nach dem Erscheinen seines Buches veröffentlichte einer der Veteranen der altniederländischen Kunstgeschichte in der «Revue de l'art chretienne» ^ einen Aufsatz über Hubert und Jan van Eyck, dessen Inhalt er dann auch in einer etwas erweiterten Fassung in der «Gazette des Beaux Arts» ^ und in der «Zeitschrift für bildende Kunst» ^ wiederholte und in dem er fast buchstäblich zu denselben Ergebnissen gelangt wie Seeck. Da er die Arbeit Seecks nicht nur nicht nennt sondern im Gegenteil seine Ansichten auch als seine Funde bezeichnet, müssen wir annehmen, daß zwei Forscher unabhängig von einander eine übereinstimmende Lösung für unsere Fragen ge- funden haben, was man in wissenschaftlichen Streitfragen für so ausschlaggebend zu halten pflegt wie' Zeugenübereinstimmung in einer Gerichtsverhandlung. Zudem vermehrte Weale die Liste der Werke Huberts durch ein Bild mit der Darstellung des heil. Antonius und eines Stifters in Kopenhagen, für welches er eine unzweifelhafte dokumentarische Beglaubigung gefunden zu haben glaubte. Aus einem Testamente des Ro bert Poortier, Bürgers von Gent, geht nämlich hervor, daß er und seine Frau Avezoete de Hoeghe einen Altar zu Ehren des heil. Antonius für die Kapelle der Jungfrau Maria in St. Sauveur zu Gent bestellt haben und daß sich zur Zeit der Abfassung des Testaments im Jahre 1426 die Figur des heil. Antonius mit anderen für diesen Altar bestimmten Werken in der Werkstatt des Hubert befunden hat. Daß man diese Nachricht auf das Kopenhagener Bild beziehen kann, steht für Weale außer Frage. Als pieces justificatives der stilistischen Zusammengehörigkeit nennt er: den Charakter der Landschaft, wobei er besonders das Vorkommen der Zwergpalme hervorhebt, die Ähn- lichkeit der Kostüme und Typen und die Gleichheit der Technik. Auch für ihn ist natürlich Hubert der größere Künstler: «II est grand temps de redresser cette injustice et de reconnaitre que Hubert fut, comme dit l'inscription sur le cadre de son chef d'oeuvre, le pictor maior quo nemo repertus.» Die Ausführungen Seecks sind phantastisch doch interessant, jene Weales dagegen, obwohl des- selben Inhaltes, plump und kindisch, als wenn sie ein Landpfarrer geschrieben hätte, der sich in seinen Mußestuden mit Altertumskunde beschäftigt. Doch «das ist gar zu ungeschickt, das muß wahr sein», scheint man gedacht zu haben und nahm fast allgemein die Bestimmungen Weales als bare Münze. In der Mehrzahl der Berichte und Studien, die, durch die Brügger Ausstellung veranlaßt, in dem letzten Jahre so zahlreich geschrieben wurden, hat man sich ihnen mehr oder weniger angeschlossen, wogegen fast gar kein Widerspruch erhoben wurde, so daß es der jetzt am meisten verbreiteten An- schauung entspricht, wenn in einem dieser Berichte gesagt wird, daß es nun doch gelungen sei, un- zweifelhafte Werke Huberts nachzuweisen, und wenn ein anderer Berichterstatter das letzte Stadium der Hubert- Jan-F"ragcn dahin zusammenfaßt: daß Hubert van Eyck als der geniale Begründer der modernen Kunst betrachtet werden müsse. Es ist nicht schwer nachzuweisen, daß trotz dieser Ubereinstimmung aller, die in unserer Frage das Wort zuletzt ergriffen haben, die Lösung schwieriger und entfernter erscheint als je. Die neuen Hypothesen sind in keiner Weise als ein Fortschritt den alten gegenüber zu bezeichnen und, während die alten Bestimmungen mindestens subjektiv begründet waren und auf Erfahrung und Kenntnis der altniederländischen Malerei beruhten, sind wir, wie gleich ersichtlich sein wird, in den letzten Jahren in ein willkürliches Herumraten verfallen. Wenden wir uns zunächst dem «sicheren dokumentarischen» Beweise Weales zu. Es bedarf nicht vieler Worte darüber, daß es völlig unerwiesen ist, daß sich das Testament des Robert Poortier auf das Kopenhagener Bild beziehen müsse. Das ist im Gegenteil fast ausgeschlossen, da es von einer ' 1900, p. 281 ff. ^ 1901, p. 474ff. 1901, S. 259 ff. 26* Max Dvofäk. Figur des heil. Antonius spricht,^ welche sich im Atelier Huberts befinde mit anderen dazugehörigen Sachen. Es ist das Wahrscheinlichste, daß es sich um einen geschnitzten Altar handelt, der in der Werkstatt Huberts bemalt werden sollte. ^ Sonst wäre es nicht ersichtlich, warum nicht gesagt wird, wie es die Regel ist, «welches der Meister Hubert in unserem Auftrage ausgeführt hat» oder ähnliches. Das Kopenhagener Bild war, wie leicht zu ersehen ist, der Seitenflügel eines Klappaltares, der heil. Antonius war da also eine Nebenfigur, die kaum bei der Erwähnung des Bildes besonders hervor- gehoben worden wäre. Der Stifter der Kopenhagener Tafel, der vom heil. Antonius präsentiert wird, dürfte nach allen Analogien den Taufnamen Antonius gehabt haben und nicht Robert wie der Ver- fasser des Testaments. ^ Das Kopenhagener Bild kann ferner deshalb nicht von Hubert sein, weil es aus einer anderen Zeit und von einem anderen Maler herrührt. Von welchem, darüber kann keine Minute ein Zweifel bestehen. Es ist ein Werk, welches mindestens 20 bis 3o Jahre nach dem Tode Huberts entstanden sein muß. Die Geschichte der Kunst dürfte wenig Beispiele bieten, daß sich eine Kunst so rasch zu neuen Aufgaben und ihrer Bewältigung entwickelt hätte wie die niederländische Malerei seit der Entstehung des Genter Altares. Die Künstler, welche auf Hubert, Jan und Rogier folgten, nehmen als künst- lerische Individualitäten besonders den gleichzeitigen Italienern gegenüber eine recht inferiore Stellung ein; doch zur Weiterentwicklung der neuen malerischen Probleme, welche durch die großen Stifter der modernen Malerei erschlossen wurden, haben sie unendlich viel beigetragen. Da schreiten sie mit Riesenschritten vorwärts. So malerisch vorgeschritten auch die Werke Jan van Eycks sind, sie tragen doch noch unverkennbare Spuren der illustrativ zeichnerischen Kunst des Mittelalters. Der Betrachter bekommt, wie es schon Fromentin so schön hervorgehoben hat, auf dem Bilde soviel an glänzenden und interessanten Einzelnheiten zu sehen als nur möglich und alles mit der möglichst großen Deut- lichkeit und Ausführlichkeit. Wir sollen ebenso die kostbaren Kleinodien bewundern, mit denen die göttlichen Personen so überreich geschmückt sind, wie die Kunst, mit der sie, mit welcher jedes Haus in der Stadt des Hintergrundes, ja jede Person, die in den Straßen zu sehen ist, jeder Baum und jede Pflanze in der Landschaft dargestellt wird. Der größte Triumph dieser Kunst bestand noch darin, alle Gegenstände ihrer materiellen Beschaffenheit nach bis zu einer künstlerischen Illusion nach- zuahmen. Mit welcher Mühe und Meisterschaft zugleich malen diese Künstler den weichen Glanz des Samtes, den schillernden Spiegel des Stahlpanzers, das Funkeln der Edelsteine, kurz alle Einzelnheiten in ihrer stofflichen Beschaffenheit nach und wie mochten die Zeitgenossen gerade darüber ebenso wie über die unerschöpfliche Sorgfalt, mit der jedes Haar, jede Falte angedeutet wird, gestaunt haben. Man sollte meinen, eine solche Kunst müsse zum Virtuosentum führen; aber es ist das Gegenteil einge- troffen. Die Epigonen des großen Meisters suchten nicht, wie man erwartet hätte, ihre Lehrer in diesen äußerlichen und deshalb nachzuahmenden Vorzügen zu übertreffen, sondern haben ganz und gar darauf verzichtet, sich in dieser Richtung besonders hervorzutun. Man würde in ihren Werken vergeblich die langen und so eingehenden Schilderungen suchen, deren die Stifter der neuen Kunst gar nie genug bieten zu können vermeinten, als ob sie dem Beschauer die ganze Pracht und den ganzen Erscheinungsreichtum unserer Welt auf einmal vor die Augen führen wollten. Ihre Schüler beschränkten sich darauf, an sachlich treuer Darstellung von Objekten nur soviel in ihre Bilder aufzu- nehmen, als es der geschilderte Vorgang erforderte; für sie war sie weder das Wichtigste mehr noch ein besonderes Verdienst sondern nur ein selbstverständliches Mittel, um neuen Aufgaben nachzu- gehen, die man der Malerei abzulauschen wußte. Diese neuen Aufgaben entspringen dem Bestreben, ' Beeide van Sente Antonise. Weale übersetzt es selbst: la statue de saint Antoine. ^ Wofür es viele Beispiele gibt. ^ In der Brügger Ausstellung sah man eine bemalte Statue des heil. Antonius, stilistisch dem Genter Altare so ver- wandt, daß Voll sie für das Werk Jans halten würde, wenn er uns nicht ausschließlich als Maler bekannt wäre. In dieser Figur könnte man eher das in dem Testamente erwähnte Werk vermuten, wobei es sich natürlich eben nur um eine Ver- mutung handeln würde. Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. i8i über die naturtreue Nachahmung der einzehien Gegenstände hinaus dem ganzen Bilde als einem zusammenhängenden Naturausschnitte einen höheren Grad der Realität zu verleihen. Trotz der manchmal wunderbaren und fast völlig modernen Gesamtillusion sind die Bilder der vorangehenden Generation stets mosaikartig aus einzelnen naturalistischen Motiven zusammengesetzt, ohne daß die ganze Darstellung in ihrer Zusammengehörigkeit so dargestellt worden wäre, wie sie uns in der Natur erscheinen müßte. So sind die Landschaften des Jan van Eyck zum Greifen scharf beobachtet und wiedergegeben. Doch sie sind nur ein Akzessorium; die Figuren stehen oft noch neben, unter oder auch, wie in der Madonna des Kanzlers Rolin, oberhalb der eigentlichen Landschaft. Ähnlich verhält es sich auch mit den Architekturen, die, obwohl sie so real sind, daß man sie nachbauen könnte, doch noch, wie im Trecento, in keinem rechten Größeverhältnis zu den sie bewohnenden Personen stehen. Es ist nicht richtig, wenn gesagt wird, wie man es bei Fromentin findet und wie unlängst wiederholt wurde, daß die Beobachtung der Erscheinungen der Luftperspektive bei Jan van Eyck nicht zu finden sei. Man braucht nur einen Blick auf seine im silbernen Nebel fast verschwindenden Gebirgsketten zu werfen, um sich vom Gegenteil zu überzeugen. Doch einesteils opfert er ohne Bedenken Beob- achtungen dieser Art, wo sie die Deutlichkeit beeinträchtigen könnten, andernteils kennt er sie wiederum nur als Qualitäten der einzelnen Teile, aus denen er sein Bild zusammensetzt, und nicht als ein den ganzen Naturausschnitt verbindendes Element. Wir sehen die blaue verschwimmende Ferne nebst Dingen, die sich in voller Klarheit vor unseren Augen entfalten; der Mittelplan aber fehlt einfach oder der Maler wählt eine Komposition, bei welcher er umgangen werden kann. Fast ebenso verhält es sich mit der Licht- und Schattenmalerei. Unter den vielen Irrtümern, die wir als Zutat zu den Nachrichtenschätzen Vasaris geerbt haben, gehört die Legende von der Erfindung der Helldunkelmalerei durch Leonardo. Schon im Londoner Arnolfiniporträt und in der Madonna des Kanonikus von der Pale finden wir eine Beobachtung der modellierenden Kraft des Lichtes und des Schattens, wie sie sich in der italienischen Malerei erst am Ende des Jahrhunderts nachweisen läßt. Doch wie die Luftperspektive, so ist auch die Modellierung in Licht und Schatten weder einheitlich noch konsequent im ganzen Bilde durchgeführt und es ist nicht schwer, Widersprüche zu entdecken, welche darauf hinweisen, daß unsere Meister mit ihrer un- vergleichlichen Beobachtungsgabe wohl die malerischen Werte der Beleuchtung zu entdecken wußten, aber daß sie sie noch nicht in ihrer Gesamtheit und Einheitlichkeit dem ganzen Bilde zugrunde zu legen vermochten. So wußte Jan van Eyck fast den großen Licht- und Luftmalern des XVIL Jahrhun- derts gleich zu beobachten und darzustellen, wie die Sonnenstrahlen durchs Fenster hereinfallen, alle Umrisse auflösen und den Raum mit einem goldenen Flimmern erfüllen. Und doch finden wir daneben nicht nur eine ganz abstrakte Modellierung sondern auch noch einfach die Zeichnung statt und neben der Modellierung. Auch Tintoretto läßt oft die Umrisse seiner Figuren stehen; doch wie kennzeich- net dies bei ihm den Weg, den die Malerei seit Jan van Eyck zurückgelegt hat; einst wagte man nicht, sie wegzulassen; jetzt konnte man es wagen, sie stehen zu lassen! Wir finden also in den Werken der Brüder van Eyck und ihrer Zeitgenossen die Grundlagen der neuen Malerei. Doch den letzten Schluß aus ihnen zu ziehen und das naturalistische Prinzip auf das ganze Bild als einen einheitlichen Naturausschnitt zu übertragen und auf diese Weise die ganze Mission, das ganze Problem der Malerei zu ändern, vermochte jene Zeit noch nicht. Der Weg war wohl gewiesen, doch ihn zu gehen, war der folgenden Kunst vorbehalten. Um einen Fortschritt in dieser Richtung zu ermöglichen, mußte die Malerei in ähnlicher Beschränkung wie die impressioni- stische Landschaftsmalerei unserer Zeit auf die gegenständliche Reichhaltigkeit und Mannigfaltigkeit verzichten, die wir bei den älteren Meistern bewundern, die jedoch an und für sich in der Regel mehr eine Phantasieschöpfung als das Spiegelbild einer realen oder realisierbaren Szene und Szenerie sein mußte. Der Schmuck und die reichen Stoffe verschwinden, die Zahl der in einer Komposition ver- einigten Personen wird eingeschränkt und die herrlichen Veduten werden durch schlichte Landschaften ersetzt. Aber dafür bieten uns diese Künstler wichtige Neuerungen der malerischen Vereinheitlichung ihrer Gemälde. Die Widersprüche in den Maßverhältnissen, in der linearen und Luftperspektive wie l82 Max Dvofäk. auch in der Beleuchtung der einzelnen Teile des Bildes sind entweder ganz verschwunden oder doch viel geringer geworden und, was noch viel bedeutsamer ist, die Darstellung der Gegenstände unter dem Einflüsse einer bestimmten Beleuchtung und die des Raumes unter dem Einflüsse der Luftperspektive entspringt nicht mehr vereinzelten Beobachtungen sondern bildet sowohl als das wichtigste räum- und form- schaffende Ausdrucksmittel als auch als derwichtigste und eigentlichste Inhalt des male- rischen Problems den Aus- gangspunkt und die Grund- lage der ganzen malerischen Gestaltung. Die Kompositionen sind wohl einfach geworden, aber die Modellierung der Figuren ist ebenso konsequent und einheitlich als der räumlichen Stellung ent- sprechend. Ebenso einheitlich ist der Raum gemalt, in welchem sich der dargestellte Vorgang abspielt. Der Maler ist bestrebt, die Raum- vertiefung kontinuierlich anzudeu- ten. Nicht sprunghaft wie bis- her sondern im langsamen Uber- gange verändert sich mit der Ent- fernung die Deutlichkeit und die Farbe der Objekte. Die Innen- räume sind unansehnlicher, die Landschaften oft fast primitiv, dafür jedoch in einem natürliche- ren Verhältnisse zu den Figuren und in allen Teilen gleich die Raumillusion erweckend. Wäh- rend wir bei den älteren Meistern noch immer die Szene und die Landschaft gesehen haben, gibt es von nun an nur eins mehr, die Landschaft mit der darin sich ab- spielenden Szene. Die Malerei ist in dieser Zeit und für alle Zukunft Raummalerei geworden. So leiten neue Werte den Künstler, neue Vorzüge sollen den Beschauer fesseln. Wie der reiche Mann im Evangelium, mußte die Kunst arm werden, um dauerndere Güter zu erobern. Der stoffliche Prunk konnte leicht aufge- geben werden, weil in einer neuen malerischen Wahrheit neuer malerischer Reichtum gefunden wurde. Diese neue malerische Wahrheit lautet: es genügt nicht, die einzelnen Gegenstände oder Begeben- heiten sachlich genau und naturtreu darzustellen, wie es die vorangehende Kunst so unübertrefflich vermochte, sondern sie müssen auch naturtreu und wahrheitsgemäß in ihrer Relation zu dem sie um- Fig. 2. Petrus Kristus, Der heil. Antonius mit dem Stifter. Kopenhagen, kgl. Gemäldegalerie. Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. i83 gebenden Räume und zu einer einheitlichen Be- leuchtung gemalt werden. Das schwere und oft schwerfällige Suchen der zweiten Künstlergeneration der altniederlän- dischen Malerei ist ein Ringen um diese neue malerische Naturtreue. Wer sich dessen bewußt wird, entdeckt auch bald, wie weit in dieser Rich- tung die Nachfolger Jan van Eycks trotz ihrer geringen persönlichen Bedeutung über ihre Leh- rer hinausgegangen sind, und wird uns zugeben, daß ein niederländisches Bild aus der Mitte des Jahrhunderts ebensowenig mit einem Werke aus dem ersten Viertel des Jahrhunderts verwechselt werden kann als etwa in Florenz (vgl. Taf. XXII und Fig. 3). Wer könnte es heute noch wagen, ein Bild von Ghirlandajo oder Filippino für ein Werk des Masolino auszugeben? Und doch ist der Abstand im Stil und in der Ausgestaltung neuer malerischer Probleme, welches unser Ko- penhagener Bild von einem Werke aus der Zeit Huberts trennt, weit größer und prinzipieller, als es dort der Fall wäre. Es mag noch eine Nachwirkung des Klassizismus sein, daß unser Auge die Fortschritte der Formenentwicklung leichter zu entdecken weiß als jene in der Be- wältigung der rein malerischen Aufgaben. Das Bild mit dem heil. Antonius (Fig. 2) ist kein großes Kunstwerk und kann in dieser Beziehung mit den Werken der Brüder van Eyck gar nicht verglichen werden. Aber man beachte z. B. die scharfe Helldunkelmodellierung des Kopfes des Stifters, die reiche Stufenleiter von Schattennuancen, in welcher sein Kleid aus dem Dunkel hervortritt, die breite Art, in welcher z. B. das Pelzwerk, der Bart des Einsiedlers, die Wiese und der Baumschlag angedeutet sind, ob- wohl sie sich in einer Nähe befinden, bei welcher die älteren Meister noch alles mit der größten Ausführlichkeit angedeutet hätten. Ein ähnlicher Licht- und Schattenkontrast, eine so malerische Behandlung des Gewandes ist in der vorangehen- den Malerei schlechtweg unmöglich und keiner der älteren Meister hätte es sich versagt, im Barte des Heiligen die Haare, auf der Wiese die Gräser und Blumen anzudeuten. Wenn auch noch unbeholfen, so versucht doch der Maler dieses Bildes den kleinen Landschaftsausschnitt malerisch als einen einheitlichen und sich vertiefenden Raum anzu- deuten. Die starke Beschattung des zurücktretenden Teiles der Stifterfigur soll unseren Blick ebenso in die Tiefe leiten wie die scharfe Silhouette des Heiligen und wie die sukzessive Abstufung des Kolo- rits und der Formendeutlichkeit im Hintergrunde. Auf der Wiese sind noch die auffallendsten Pflan- Fig. 3. Petrus Kristus, Das jüngste Gericht. Berlin, königl. Gemäldegalerie. i84 Max Dvorak. zen deutlich; dann folgt eine Baumgruppe, bei der der ßaumschlag nicht mehr gut zu erkennen ist, und ein Felsen, dessen Umrisse nicht mehr ganz scharf sind, und schließlich eine Häusergruppe, die schon wie im Nebel erscheint. Auf diese Weise gelingt es dem Maler trotz aller Ungeschicklichkeit, mit malerischen Mitteln eine klare und einheitliche Raumdarstellung herzustellen und eine Land- schaft zu malen, die überall Luft und Tiefe hat. Die neuen Aufgaben, die in dem Kopenhagener Bilde gelöst werden, und die tastende Unbeholfenheit, mit welcher es geschieht, machen es un- zweifelhaft, dal3 es um die Mitte des Jahrhunderts entstanden ist. Wenn wir gelegentlich dieser Datierungsfrage die weitere Ausgestaltung des neuen Stiles durch die Schüler der Brüder van Eyck etwas ausführlicher besprochen haben, so geschah es deshalb, weil es uns auch anderweitig noch von Nutzen sein wird. Wie über die Entstehungszeit, kann auch über den Urheber des Antoniusbildes nicht der mindeste Zweifel bestehen. Es ist ein Werk des Petrus Kristus, dem es schon von Crowe und Cavalcaselle zugeschrieben wurde. Die Bilder dieses phantasie- losen Schülers des Jan van Eyck sind nicht zu verkennen. Er begnügt sich in der Regel damit, Kom- positionen seines Lehrers zu übernehmen und sie den neuen malerischen Problemen anzupassen, wo- bei ihm aber eine recht beschränkte Formenauswahl zu Gebote stand (vgl. Fig. 3 und 34, 35). Die großen und groben Nasen wiederholen sich bei seinen Figuren ebenso regelmäßig wie die kleinen, dicken und am Handrücken auffallend fleischigen Hände, bei welchen manchmal die Finger tiefer in die Handoberfläche einschneiden, als es sein sollte, wie es bei der Stifterfigur unseres Bildes der Fall ist. Wo eine Bewegung oder ein Greifen der Hand dargestellt werden soll, geschieht es in einer unangenehmen Zierlichkeit, die durch eine unnatürliche Spreizung der Finger hervorgerufen wird. Selbst die sinnlosen, querlaufenden Pinselstriche auf der Hand des Stifters wiederholen sich z. B. bei den Händen des heil. Franziskus auf dem Frankfurter Bilde. Ebenso ist die Form des Ohres, welche wir bei dem Stifter finden, und die durch die Art, wie die äußeren Ohrränder bei der Berührung mit der Wange aneinander vorbei geführt werden, sehr auffallend und charakteristisch ist, ein Merkmal der Kunst des Petrus Kristus, an dessen sämtlichen Bildern wir sie beobachten können, als die einzige, die er kennt und anwendet. Das Licht an dem Ärmel des Stifters wird genau so in einer Wellenlinie an- gedeutet wie z. B. beim Franziskus des Frankfurter Bildes und oft sonst auf den Werken unseres Mei- sters. Der Bart des Eremiten ist genau so gemalt wie beim Hieronymus in Frankfurt. Die kugel- runden, stark belaubten Bäume, bei welchen die Blätter durch dunkle und lichte Tupfen angedeutet werden, finden wir z. B. auf den Berliner Tafeln ebenso wie die schütteren und krummen Bäume auf dem Felsen. Kurz in allen Einzelnheiten ebenso wie im Gesamtcharakter ist die Ubereinstimmung so groß, daß die Zuschreibung an Petrus Kristus als eine feststehende Tatsache betrachtet werden kann. Damit fällt jedoch sowohl der dokumentarische Beweis als auch die ganze sonstige Begründung der Hypothese Weales. Die Ähnlichkeiten in der Landschaft, in den Typen, auf die er sich in allge- meinen Worten beruft, beweisen gar nichts für die Zuschreibung an Hubert, wenn eines der Bilder, von denen er ausgeht, einer anderen, viel späteren Zeit und einem späteren Meister mit Sicherheit zu- geschrieben werden kann. Auch aus der Darstellung der Zwergpalme, auf welche er soviel Gewicht legt und die wir ebenfalls auf dem Kopenhagener Bilde finden, kann nichts weiter geschlossen werden, als daß sie zu den Formenrequisiten der altniederländischen Malerei gehört hat. Ebenso leicht ist die Beweisführung Seecks zu widerlegen. Da er seinen Beweis auf einen supponierten Gegensatz zwischen Hubert und Jan aufgebaut hat, genügt es, um ihm den Boden zu nehmen, nachzuweisen, daß eines der Bilder, an welchem er alle Merkmale der Kunst Huberts findet, als ein Werk des Jan betra-chtet werden muß. « Unter allen Bildern, die im Zusammenhange mit Hubert und Jan van E^yck genannt wurden, hat die herrlichste Landschaft die Madonna des Kanzlers Rolin. Dieses Bild schreibt Seeck, wie wir gehört haben, ebenfalls Hubert zu, da es eben «landschaftlichen Hintergrund» zeigt und außerdem «wunderbar schöne Hände, also die beiden sichersten Kennzeichen, welche die Kunst Huberts von der seines Bruders unterscheiden». Außerdem sei bei dem Bilde der Augenpunkt in die rechte Hälfte des Gemäldes verlegt, wogegen Jan die Linien immer auf die Mitte zuführe. Wie diese letzte Behauptung Kpliogr von M Frankenstein, Wien JAN VAN EYCK KREUZIGUNG UND JÜNGSTES GERICHT. PETERSBURG, ERMITAGE Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 185 entstehen konnte, ist uns unbegreiflich, da auch bei der Madonna des Rolin der Augenpunkt genau in der Mitte des Bildes gelegen ist. Aber das ist gewiß völlig nebensächlich. Wer das Louvrebild z. B. mit der Madonna des Kanonikus von der Pale oder mit der Incehallmadonna vergleicht und nicht die Uber- zeugung gewinnt, daß sie ein Meister geschaffen hat, mit dem ist eine Diskussion über diese Fragen völlig ausgeschlossen. Wie unerläßlich es auch sein mag, die Gründe einer Zuschreibung da, wo ein Zweifel über ihre Richtigkeit bestehen kann, in zwingenden Belegen auszuführen, so wäre dies bei der Madonna des Kanzlers Rolin ebenso unnütz und geschmacklos, als wollte man erst den Beweis führen, daß das Rosenkranzfest von Dürer, die Brügger Madonna von Michelangelo ist. So hoffen wir, daß man es uns nicht als Mangel an Gründlichkeit vorwerfen wird, wenn wir in diesem Falle das Suchen der Beweise aus den gesicherten Bildern Jans denen überlassen, für die es ihrer bedarf. Ist jedoch das Louvrebild von Jan, so reißt auch die ganze Beweiskette Seecks. Die Landschaft dieses Bildes ist nicht nur, wie gesagt wurde, hervorragend schön sondern beispiellos in der ganzen vorangehenden Kunst. Nicht anders als als eine Schrulle ist die Ansicht Seecks zu bezeichnen, daß Jan stets miserable Hände gemalt hätte, da gerade das Gegenteil der Fall ist. Mit Ausnahme von Dürer bat kein Künstler soviel Kunst und Mühe für die Zeichnung und Modellierung der Hände verwendet wie Jan van Eyck. Seine Hände sind zumeist kaum zu übertreffende Modellstudien; doch auch da, wo sie nicht nach der Natur gezeichnet sind, liegt ihnen überall eine erstaunliche Kenntnis sowohl der Form als auch des Bewegungsmotivs zugrunde. Man vergleiche sie nur etwa mit den knochigen, wie gichtisch verkrüppelten Händen Rogiers oder mit den schablonenhaften Händen Memlings, um sich zu überzeugen, wie hoch in dieser Beziehung Jan über den Besten seiner Zeitgenossen und Nachfolger gestanden ist. Noch weniger als die «sichersten Kennzeichen» kommen die anderweitigen vermeintlichen Kriterien des Stiles der beiden Brüder in Betracht. Der Meister der Palemadonna, der Louvremadonna soll ein erfindungsloser Kopf gewesen sein, der «nur den Bruder mehr oder minder frei kopiert» ? Sind nicht diese Bilder sowohl in der Komposition als auch bis zum letzten Detail der vorangehenden Kunst gegenüber so überwältigende Erfindungen, wie ihrer die Geschichte der ganzen Kunst wenig aufzuweisen hat? Sind sie nicht auch als Kompositionen epochal geworden im vollen Sinne des Wortes? Die Bilder, welche Seeck ihnen gegenüberstellt, wie die Petersburger Kreuzigung, sind in ihren Kompositionen weit traditioneller. Oder sollen nur viele und dramatisch bewegte Figuren eine reiche Erfindungsgabe bezeugen können? Erforderten die ruhig-majestätischen Schöpfungen des Fra Bartolomeo weniger Phantasie als die figurenreichen und dramatisch bewegten seiner Vorgänger? Und schließt das eine das andere aus? Da müßten wir auch die ersten und die letzten Werke Raffaels unter zwei Künstler verteilen. Ebenso verhält es sich mit dem angeblichen ausschließlichen Modellstudium Jans, dem der aus der Erinnerung schaffende und gestaltende Genius Huberts gegenübergestellt werden soll. Die Hinter- grundsfiguren des Barbarabildes sind gewiß auch ohne Modellstudium gemalt und bilden doch eine der besten und köstlichsten dem Leben abgesehenen Genreszenen, die je gemalt wurden. Der Kruzifixus der Berliner Kreuzigung ist nicht, wie Seeck vermuten möchte, nach dem Vorbilde der gotischen Holzkreuze entstanden sondern entspricht wie diese einfach der spätmittelalterlichen Überlieferung und es ist gar nicht ausgeschlossen, daß Jan, wenn er auch im Brüsseler Adam ein klassisches Beispiel für die Behandlung des Nackten gegeben hat, bei einem Bilde, bei dem ein ausführliches Modell- studium durch die kleinen Dimensionen ausgeschlossen war, für den Gekreuzigten den traditionellen Typus übernommen hat, wie wir es auch bei Rogier beobachten können. Auch so steht der Maler des Petersburger und Berliner Heilands noch himmelhoch über analogen Leistungen seiner Zeitgenossen. Die Arbeit, welche eine genaue und gleichmäßige Kenntnis des Nackten zu einem dauernden Besitze der Kunst gemacht hätte, mußte erst vollbracht werden. Doch abgesehen davon, daß die individuellen Gegensätze, aus welchen Seeck seinen Beweis auf- gebaut hat, entweder nicht bestehen oder auch bei einem und demselben Künstler denkbar sind, ist der ganze Beweis eine müßige und scholastische Gedankenspielerei, solange seine Prämissen nicht XXIV. 27 i86 Max Dvofdk. feststehen, solange es nicht als unanfechtbar erwiesen angesehen werden kann, daß alle Bilder, von welchen er ausgeht, auch wirklich von einem der Brüder sind. Bei einigen ist dies mindestens sehr fraglich. Es verbleibt also auch von diesen letzten Untersuchungen über den Stil der beiden Brüder, mögen sie auch noch so oft für abschließend erklärt worden sein, nichts weiter übrig als vage Hypo- thesen, für die auch von allen jenen, die sie seitdem wiederholt haben, keine weiteren Beweise bei- gebracht werden konnten. So ließ sich auch über den Anteil der beiden Brüder an der Schaffung der modernen Malerei bisher nichts Bestimmtes ermitteln. Es ist, als ob das Buch ihrer Genesis nur Rätsel enthalten würde. Und doch wäre es sinnlos, weiter zu fragen und neue Vermutungen über die Entstehung der modernen Malerei nördlich der Alpen aufzustellen, solange wir über das Ver- hältnis der beiden Brüder van Eyck nicht in befriedigender Weise unterrichtet sind. Was nützt es, Parallelen zwischen den W'erken Jans und der Kunst der vorangehenden Periode aufzustellen, solange wir über den Künstler nichts wissen, welcher von Jan selbst als der größte der Maler bezeichnet wurde und dessen Kunst vielleicht die Wiege des neuen Stiles gewesen ist? III. Hubert In einem slavischen Märchen wird von zwei Weisen erzählt, die über den wahren und eigent- lichen Sinn eines göttlichen Ausspruches Tage, Monate und Jahre hindurch gestritten hatten. Eines Tages kam ein Wanderer, hörte eine Weile ihren Disput an und fragte dann nach dem Wortlaute der Götteroffenbarung. Da konnte ihm aber keiner von den Weisen antworten; denn in dem jahrelangen Streite hatten sie den Ausspruch ganz vergessen. Man könnte beinahe eine ähnliche Fabel über den Genter Altar erzählen. Wie in den alten Tragödien die Charaktere, so wurden auch in unserem geschichtlichen Schöpfungsoratorium bestimmte Rollen, d. h. literarisch geläufige, historische Individualitäten, wenn auch nicht gerade im voraus bestimmt, so doch gesucht und gefunden. Der eine der Brüder ist ein Denker und Grübler, der andere ein platter, fremde Ideen verbreitender Demagoge oder ein «aus- schließlich formales Talent». Der eine ist der letzte Vertreter des mittelalterlichen Idealismus, der andere ein Apostel der modernen Naturfreude. Der eine ist ein Erzähler und Dramatiker, der andere erfindungsarm, doch ein Bahnbrecher der objektiven Auffassung der Dinge. Der eine ist monumental, der andere ein Kleinmaler, der eine ein Kolorist, der andere ein Zeichner. Der eine ist ein Genius, der andere ein Stümper oder gar ein Mythus, eine Erfindung. Auf diese Weise meinte man die beiden Brüder erkannt und nachgewiesen zu haben, indem man selbstgeleimte Musterfiguren bestimmter historischer Voraussetzungen für die Persönlichkeiten der Be- gründer der niederländischen Malerei ausgegeben hat. Der Zauber des Glaubens an den Vasari-Carel van Manderschen Tubalkain der modernen Kunst im Norden liegt allen diesen Entdeckungen zu- grunde. In der Art der Leute, die sich für Rationalisten halten, wenn sie die biblischen Wunder auf natürliche Weise zu erklären versuchen, dachte man das kunstgeschichtliche Wunder weniger wunder- bar zu machen, wenn man seinen Urhebern die Mäntel landläufiger Künstlercharaktere umgehängt oder sie wenigstens mit dem Putz einiger der späteren Malergeschichte entlehnten Schlagwörter aus- gestattet hatte. Man stritt um diese Schemen, ohne zu bedenken, daß es sich um eine Zeit handelt, in der die stilistischen und psychologischen Requisiten des Künstlerlebens einer späteren Zeit ebenso- wenig ohneweiters angewendet werden können als in der Geschichte der antiken und mittelalterlichen Kunst und in der man nicht daran denken kann, das persönliche Verdienst abzuwägen, solange — das Wunder besteht, d. h. solange man nicht über den entwicklungsgeschichtlichen Verlauf der sich voll- ziehenden Stilwandlung unterrichtet ist. Statt daß man sich bemüht hätte, vor allem den sachlichen Befund festzulegen, hat man den alten Künstlerroman immer wieder von neuem umgedichtet. Darin und nicht im Mangel an Material scheint uns der Grund zu liegen, warum man trotz der vielen Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 187 Studien, die der Frage gewidmet wurden, nicht weiter kommen konnte. Man konnte sich nicht einigen, weil man, statt einfach nach dem Inhalte der Quellen unseres Wissens in dieser Sache zu fragen, wie es der Wanderer mit dem Spruche der Götter tat, über literarisch konstruierte Künstlertypen und die ihnen zukommenden Stileigentümlichkeiten diskutierte und weil man die Quellen nur dazu be- nützte, um ihnen nach Möglichkeit Rechtstitel für diese Kinder der Gelehrtenphantasie zu entnehmen. Selbst Forscher, die kritisch genug waren, die Unhaltbarkeit dieser Versuche einzusehen, erklärten, daß «die Frage noch weit von der Lösung entfernt» sei oder daß «unsere Hilfsmittel nicht ausreichen, sie zu beantworten», oder daß «das Ergebnis noch nicht unanfechtbar» sei. Mit anderen Worten, man hat noch nicht gefunden, was man suchte und gerne gefunden hätte, zwei Künstler, deren Verhältnis man mit ähnlichen Worten und Phrasen schildern könnte wie etwa das des Raffael und Michelangelo. Wie sollte man sich sonst erklären, daß so viele und so ausgezeichnete Forscher sich über eine so klar und bestimmt, fast wie eine Rechenaufgabe lautende Frage nicht einigen konnten, ob wir den Anteil der beiden Brüder an dem Genter Altare der Inschrift gemäß feststellen und abgrenzen können oder nicht ? Hat uns nicht die stilkritische Untersuchung in der Geschichte der italienischen Malerei in viel schwierigeren Fragen Aufschluß gegeben? Vermag man nicht z. B. fast restlos die Zeichnungen Raffaels von jenen seiner Schüler zu unterscheiden, obwohl diese Schüler nicht nur völlig den Stil des Meisters aufgenommen sondern zum Teil auch gemeinsam mit ihm und untereinander für dieselben Kom- positionen unter seiner immerwährenden Nachhilfe gearbeitet haben ? Das war nur dadurch möglich, daß man in der Masse der Zeichnungen, die der Raffaelschule angehören, nicht von vorneherein nach be- stimmten allgemeinen Künstlercharakterbildern suchte sondern zuerst die anscheinend geringfügigen aber ausschlaggebenden Eigentümlichkeiten der Zeichenweise und Formenauffassung der einzelnen daran beteiligten Künstler festgestellt hat. Bei dem Genter Altare stehen wir vor einer ähnlichen Auf- gabe; doch wie viel leichter und einfacher ist sie, wenn man versucht, sie so zu lösen, wie sie uns ge- boten wird. Die Inschrift des Genter Altares ist die einzige unmittelbare und nicht abgeleitete Quelle, die uns von dem Anteile Huberts an einem noch erhaltenen Kunstwerke berichtet, und muß, solange ihre Nachrichten nicht unzweifelhaft widerlegt oder durch andere gleichwertige ersetzt werden können, als der methodisch einzig zulässige Ausgangspunkt einer jeden Untersuchung über den Stil Huberts be- trachtet werden. Die Konfusion hätte nie so groß werden können, hätte man diese allereinfachste Vorschrift und fast selbstverständliche Forderung der modernen historischen Forschung beachtet, statt die alten literarischen Konjekturen immer wieder durch neue zu vermehren. Die Inschrift berichtet uns, daß zwei Künstler, Hubert und Jan, einen großen Altar geschaffen haben; der eine hat ihn begonnen, der andere beendet. Das ist eine Nachricht, die nicht nur nicht unwahrscheinlich ist sondern im Gegenteil irgendwie der Wahrheit entsprechen muß, da sie sonst kaum auf dem Altare hatte angebracht werden können. Sie kann nicht dadurch erschüttert werden, daß es uns unmöglich ist, sogleich den Anteil der beiden Brüder zu bestimmen. Wäre man nicht stets durch das Bestreben irregeführt worden, den übermenschlichen Erfinder eines ganz neuen Stiles zu entdecken, hätte man von vorneherein vermuten müssen, daß der Stil der beiden Künstler, welchen das große Altarwerk anvertraut wurde, nicht wesentlich verschieden gewesen sein kann. Ebenso ist anzunehmen, daß der Vollender des Schreines krasse Unterschiede, sollten sie bestanden haben, aus- geglichen hat. Wir dürften also schon der nächstliegenden Erwägung gemäß kaum hoffen, daß sich uns die beiden Meister des Altares in ihrer Eigenart auf den ersten Blick erschließen würden. Doch ebenso wahrscheinlich, ja sicher scheint es zu sein, daß mindestens die Formengebung der beiden Maler, falls sie beide wirklich an dem Werke wesentlich beteiligt gewesen sind, woran zu zweifeln wir vorläufig keine Ursache haben, Unterschiede aufweisen muß, die festzustellen sind, sobald man es nur versucht, jenseits aller literarischen und biographischen Suppositionen ihnen nachzugehen und sie nach den Regeln der objektiven Attributionsmethode zu untersuchen, für die uns da geradezu ein Muster- exempel geboten wird. Solange diese Aufgabe nicht gelöst ist, kann von der historischen Stellung der 27* i88 Max Dvorak. Fig. 4. Hubert van Eyck, Maria, vom Genter Altar. Gent, St. Bavo (Ausschnitt}. beiden Brüder überhaupt nicht gesprochen werden. Wie soll man die Verdienste eines Künstlers ab- wägen, von dem wir keine authentischen Werke besitzen! Auf diese Weise wird uns in unzweideutiger Weise der Weg vorgeschrieben, den unsere Untersuchung zunächst einzuschlagen hat, um über das Verhältnis Huberts und Jans das zu ermitteln, was heute noch ermittelt werden kann. Es erwartet uns da eine Überraschung. In der älteren Literatur finden wir am häufigsten die Meinung vertreten, daß die drei großen Mitteltafeln der oberen Innenreihe: Gott Vater, Maria und Johannes der Täufer als ein Werk des Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 189 Hubert zu betrachten seien. Man fand bei ihinen «in der Zeichnung und Färbung, besonders in der Gewandung Eigentümlichkeilen», die bei Jan nicht vorkommen. Als «fremd der Weise Jans» be- zeichnet sie ein anderer Forscher, für das einzige, «sichere Spezimen» der Kunst Huberts hält sie ein dritter. Es dürfte kaum jemand daran zweifeln, daß alle drei Figuren von einer Hand sind. Auf den ersten Blick sieht man, daß ihnen derselbe allgemeine Charakter, dasselbe künstlerische Sentiment eigen ist, welches dem einen Be- trachter als die göttliche Majestät selbst in einem Kunstwerke verkörpert, dem ande- ren als ein hohler Marionettenpathos er- scheint. Die Wahrheit liegt in der Mitte: den drei heiligen Gestalten gleichen in ihrer selbstherrlichen, überweltlichen Ruhe an Hoheit und Erhabenheit nur die Heili- gen der altchristlichen Mosaiken. Es ist, als ob der volle Glanz der hieratischen Kunst des antik -mittelalterlichen Christentums noch auf ihnen ruhen würde; aber ebenso sind sie hieratisch und mittelalterlich seelen- los, ihre Züge sind leer und ihre Augen verraten kein inneres Leben, als ob die schönen Köpfe nur Attribute wären, die man zufällig der menschlichen Gestalt ent- lehnte. Es sind Götter und keine Menschen! Johannes erhebt die Rechte, zu pre- digen oder zu prophezeien. Es ist jedoch ein inhaltsloser Gestus, dem in den Mienen des Anachoreten jede Resonanz fehlt, und die lesende Madonna, die man mit einer überreich ausgestatteten Puppe verglichen hat, blickt in das Buch ohne jeden Wider- schein einer inneren Bewegung, als ob sie gar nicht lesen gelernt hätte. Es sind heilige Personen einer Kunst, die den überirdischen und zeitentrückten Gottheiten des Mittel- alters näher stand als den göttlichen Ver- körperungen unseres Daseins, wie sie die neue Kunst geschaffen hat. In unzweifelhaften Werken Jans fin- den wir auch manchmal Spuren einer ähnlichen statuenhaften Starre, doch nie so stark und auffallend; sein Verkündungsengel lächelt, die Madonna ist erstaunt und ergriffen oder schaut in seliger Mutter- liebe das Jesukind an. Ist das ein Zufall, die Folge einer anderen Aufgabe? Man könnte vermuten, daß das große Format der drei heiligen Gestalten ihre Leblosigkeit verschuldet habe, und es wäre wohl mit diesem Gradunterschiede in der Realisierung der Figuren wenig anzufangen, wenn er nicht Begleiterscheinungen hätte, die sicher nicht als nur graduell aufgefaßt werden können. Auch in der Formenauffassung kann an den drei Tafeln leicht eine Ubereinstimmung beobachtet werden, die noch stärker hervortritt, wenn wir andere Tafeln des Schreines zum Vergleiche heran- ziehen. Betrachten wir zunächst die Himmelskönigin und vergleichen wir sie mit der Madonna der Verkündigung des Genter Altares und mit den gesicherten Mariendarstellungen Jans (Fig. 4, 5, 7, 8). Fig. 5. Jan van Eyck, Maria, vom Genter Altar. Berlin, königl. Galerie (Ausschnitt). igO ^Is" Dvofäk. Wie Giovanni Bellini, oder wie Raffael, gab Jan van Eyck allen seinen Madonnen denselben Kopftypus. Es ist stets ein zartes Köpfchen, schmal und länglich, mild und mädchenhaft auch in den Bildern, welche die Mater Domini darstellen, zugleich aber schlicht und unansehnlich, mehr mit dem bescheidenen Liebreiz eines Volksmädchens als mit der stolzen Schönheit einer Königin ausgestattet. Von dem idealen Madonnentypus der Kunst des Trecento ist in diesen Köpfen kaum noch ein Rest geblieben; der neue Typus ist nordisch und erinnert an die Anmut der Frauen in der Heimat des Künstlers, welcher ihn erfunden hat. In der thronenden Madonna des Genter Altares könnte man die Ahnfrau dieser holden Er- scheinungen vermuten, sie scheint einer anderen Generation anzugehören. Man meinte in ihr An- klänge an die Frauentypen der Kölner Malerschule gefunden zu haben, was man gelten lassen kann, ohne daß man daraus auf einen unmittelbaren Zusammenhang schließen müßte. Es liegt dort und da ein gemeinsamer Schönheitskanon zugrunde, der, als eine Weiterbildung der byzantinisch-antiken Tradition von der toskanischen Kunst geschaffen, sich im Laufe des XIV. Jahrhunderts in der gesamten christlichen Kunst verbreitet hat. In dem Einflußgebiete der nordfranzösischen Kunst wurde dieses alte und nun wieder neue Idealschema der Frauenschönheit mit den frühgotischen Typen kombiniert, wie sie sich in der französischen Skulptur des XIII. und XIV. Jahrhunderts entwickelt hatten. So sind als eine Verknüpfung der klassisch regelmäßigen Schönheit mit den neuen gotischen Verlebendigungs- versuchen jene liebreizenden und doch hoheitsvollen Frauenköpfe entstanden, die uns in den großen Zentren der französischen Kunst in der zweiten Hälfte des Trecento entgegentreten und die bereits M. Renan zu der Bemerkung veranlaßt haben: «on se croirait ä deux pas de la renaissance, dont on est encore separe par plus d'un siecle.» Sie sind unzweifelhaft ebenso klassisch im geläufigen Sinne des Wortes als die Madonnen des Raffael, Nach ihrem Vorbilde ist auch die Himmelskönigin aus St. Bavo entstanden. Wenn man auch noch in den Werken Jans leise Anklänge an den Kanon, welcher der Genter Madonna zugrunde liegt, beobachten kann, so ist doch der jüngere der Brüder bereits in seinen nachweislich frühesten Werken so weit über diesen Typus hinausgegangen und steht ihm seiner Begabung und dem Wesen seiner Kunst nach so frei gegenüber und in so einem ganz anderen Ver- hältnisse, daß wir diesen Unterschied weder auf verschiedene Variationen eines Themas durch einen Künstler, noch auf verschiedene Stufen in der Entwicklung seines Stiles zurückführen können. Das wird noch deutlicher, wenn wir die Formenwiedergabe im einzelnen untersuchen. Sie ist ebenso verschieden wie der Typus. Vielleicht am auffallendsten ist es beim Munde. Er ist halb geöffnet und man könnte vermuten, daß Maria mit dem Engelschore halblaut mitsingt. Doch das würde wohl schlecht passen zu dem repräsentativen Charakter der drei großen Tafeln und wäre auch eine gar zu ungewöhnliche und ver- einzelte Darstellung. Der halbgeöffnete Mund war ein beliebter Behelf der spätgotischen Skulptur, die Lebendigkeit der Köpfe zu erhöhen. So scheinen z. B. sämtliche Figuren an der südwestlichen Ecke der Kathedrale von Amiens eine Ansprache an den Beschauer zu halten. Auch in den Miniaturen und monumentalen Malereien aus dem Ende des XIV. und Anfang des XV. Jahrhunderts ist der halb- geöffnete Mund ein ganz geläufiges Motiv des naiven Naturalismus und es liegt der Gedanke nahe, daß er auch noch bei der thronenden Madonna des Genter Altares so zu erklären ist. Die Maria der Berliner Verkündigung öffnet auch die Lippen, doch — hier kann kein Zweifel bestehen — um die daneben stehenden Worte zu sagen; bei allen übrigen Madonnenköpfen Jans sind sie geschlossen. Sein Naturalismus — der war eben die Uberwindung solcher schablonenhaften Ausdrucksformen. Eine Parallele zu dem konventionellen Motiv bildet die Zeichnung der Lippen. Man könnte sie bei der großen Madonna des Genter Altares akademisch nennen, der abstrakt regelmäßigen Form wegen, die wie der ganze Typus an das traditionelle Schönheilsideal erinnert. Es ist dieselbe «Propor- tion», wie man einst gesagt hätte, die wir an gleichzeitigen und vorangehenden Skulpturen beobachten können, mit plastischer Bestimmtheit in einem Malwerke angewendet. An den Köpfen Jans würden wir sie vergeblich suchen (vgl. Fig. 4— 8). Die Konturen, welche da die Lippen trennen und abgrenzen, ent- sprechen keinem Schema sondern wellen sich in natürlich und doch wunderbar harmonischen Linien, Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 191 die keiner Regel unterworfen sind sondern die der grof3e Meister unmittelbar dem Leben abge- lauscht hat. Diese Lippen berichten von einem der größten Ereignisse in der Geschichte der Kunst: das tausendjährige alte Gesetz wurde durch einen neuen Bund mit der Natur ersetzt. Doch die Augen! Hat nicht die Himmelskönigin des Genter Altares dieselben Augen, denselben Blick wie die Ma- donna des Kanzlers Rolin, die Madonna von Lucca, die Incehall-Madonna, die Ant- werpener Barbara und die Madonna am Brunnen? Die Augen, der Blick sind, wie im Le- ben, so auch bei Kunstwerken eine Quelle der Erkenntnis für den, der in ihnen zu lesen versteht, des Irrtums für den, der sich durch sie täuschen läi3t. Die gröl3te Anzahl der Attributionen auf den ersten Blick hin, wo es sich nicht um grobe Selbstverständ- lichkeiten handelt, dürfte durch die Augen- darstellung veranlaßt worden sein. Dabei sind schon unzählige falsche Bestimmungen dadurch verschuldet worden, daß man ein Schulmotiv für die Eigentümlichkeit eines bestimmten Künstlers gehalten hat. Was ist alles Leonardo oder Tizian genannt worden der Augen halber! So wäre es auch in unserem Falle voreilig, aus den in glei- cher Weise gesenkten Augen auf einen Künstler zu schließen. Dieses verträumte Schauen durch die fast geschlossenen Augen- lider ist nicht nur unseren Frauenköpfen gemeinsam, es ist ein altes Erbstück der gotischen Kunst und einer ihrer gewöhn- lichsten sentimentalen Akkorde. W^enn wir die Zeichnung dieses svave sguardo vergleichen, finden wir statt der Gleichheit wiederum einen signifikanten Unterschied (Fig. 4, 6, 7, 8). Bei der Madonna des Genter Altares ist das untere Lid völlig abgegrenzt und in unnatürlicher Weise vollkommen beschattet; es ist von der Haut der Wange scharf getrennt und müßte, um so beschattet zu sein, fast im rechten Winkel zu der Gesichtsvertikale gestellt sein. Die obere Augenpartie zerfällt in zwei getrennte Teile, in das gleichmäßig lichte Oberlid und die gleichmäßig beschattete Wölbung zwischen dem Lide und den Brauen. Jan malt bei derselben Augenstellung das untere Lid nicht scharf von der Wange abgesondert sondern deutet es als einen organisch mit ihr zusammenhängenden Teil nur durch die Modellierung an. Die willkürlich starke Beschattung des unteren Lides fehlt ganz, ebenso die Trennung des Oberlides und der Brauenwölbung in einen gleichmäßig belichteten und einen gleichmäßig beschatteten Teil. Die Modellierung folgt der zartesten Hebung und Senkung der Form. Es ist ungemein schwer, adäquate und erschöpfende Worte für die allgemeine, tiefgreifende Neuerung in der malerischen Darstellung der organischen Form zu finden, welche diesen letzt- genannten Unterschieden zugrunde liegt, Hugo von Tschudi, dem sie nicht entgangen ist, führt sie auf die malerischen Tendenzen Jans zurück, die über die «mehr plastischen Anforderungen hinweg- gleiten», welche sich in den Tafeln mit den heiligen drei Gestalten geltend machen. Uns scheint es. Fig. 6. Jan van Eyck, Eva, vom Genter Altar. Brüssel, köuigl. Museum (Ausschnitt). 192 Max Dvorak. daß er dadurch weder den Ursprung noch das Wesentliche des Unterschiedes richtig getroffen hat. Es ist nicht die Verschiedenheit der Tendenz, des Wollens, welche diese Kunstwerke trennt. Die einen sind ebensowenig der Absicht und der Begabung des Urhebers nach mehr plastisch als die anderen mehr malerisch sondern sie stehen in beider Richtung auf einer verschiedenen Stufe in der Entwicklung der Darstellungsprobleme. Mit demselben Rechte könnte man die ganze Kunst der vorangehenden Zeit als mehr plastisch bezeichnen und das wäre doch eine inhaltslose Phrase. Der Meister der thronenden Madonna des Genter Altares steht, wie in der Zeichnung, so auch in der plastischen und malerischen Darstellung der Formen weit näher den Schemen der gotischen Kunst als Jan van Eyck. Die Fortschritte der wahrheitstreuen Naturwiedergabe in der mittelalterlichen Kunst sind nicht aus einem bewußten und konsequenten Modellstudium entstanden sondern bestehen aus einer Fig. 7. Jan van Eyck, Madonna des Kanzlers Rolin. Paris, Louvre (Aussclinitt). wachsenden Anzahl von nach und nach aus der Formenerinnerung geschöpften Erfahrungen und Er- innerungen, die in konventioneller und oft wenig organischer und natürlicher Art vereinigt oder an hergebrachten und typischen Kompositionen angebracht wurden. Die Spuren dieser sukzessiven naturalistischen Ausgestaltung einer überlieferten Darstellung der menschlichen Figur kann man noch an dem heiligen Trio des Genter Altares beobachten. Wenn auch die Gestalten bei oberflächlicher Betrachtung den Eindruck einer vollen Lebenswahrheit hervorrufen, so erkennen wir doch leicht bei genauerem Zusehen, daß diese Naturtreue noch viele Lücken hat und im Grunde auch noch nicht minder abstrakt und konstruiert ist wie bei den spätmittelalterlichen Skulpturen. Es spricht nicht «das Knochengerüst deutlicher mit» als bei Jan van Eyck, wie Tschudi meinte, sondern ein überliefertes Formengerippe, welches höchstens insofern als mehr plastisch bezeichnet werden kann, als es sich vor allem in der gotischen Skulptur entwickelt hat. Wie in dieser sind die einzelnen Teilformen noch scharf abgegrenzt; der Künstler hat noch nicht die Beobachtung gemacht, daß in der Wirklichkeit diese Abgrenzung nicht besteht oder der organischen Zusammengehörigkeit gegenüber in den Hinter- grund tritt. Damit hängt auch zusammen, daß die Modellierung teilweise noch ganz allgemein und Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 193 schablonenhaft ist; der Künstler begnügte sich oft, durch gleichmäßigen Unterschied in der Be- leuchtung die Abschnitte seiner Formenaddition anzudeuten. Die Werke Jans sind auch darin wie eine Offenbarung. Wenn seine Figuren manchmal in der Komposition, in der Pose oder im Typus doch noch schematisch und traditionell sind, so sind sie es nie in den plastischen und malerischen Darstellungsmitteln. In seinen Köpfen findet man keine Spur mehr von dem eben erwähnten gotisch-konventionellen Formengerüste, keine Spur von einer willkür- lichen Verknüpfung einzelner naturalistischer Elemente; sie sind durchaus einheitliche Organismen im Ganzen ebenso wie in jeder Einzelnheit, mit einer solchen Kenntnis der tatsächlichen Struktur und des natürlichen Zusammenhanges aller Formen erfaßt und mit so unfehlbarer Treue dargestellt, als es ohne wissenschaftlich-anatomische Studien überhaupt möglich ist. Ebenso ist seine Modellierung so unendlich eingehend, daß, um die Sache recht drastisch auszudrücken, die kleinste Stelle seiner Figuren eine der Wahrheit entsprechende plastische Vor- stellung zu erwecken vermag. Wie in der Linienführung, so liegt auch in der Dar- stellung der körperlichen Erscheinung zwischen unseren drei Tafeln und den Werken des Jan van Eyck eine Welt von Neuerungen. Um diesen prinzipiellen Fortschritt deutlich zu machen, wählten wir für den Ausgangspunkt unserer Be- trachtung die Madonna, die unter den drei Figuren den Werken Jans am allernächsten zu stehen scheint. Bei den zwei anderen heiligen Gestalten ist die Formenverschie- denheit viel auffallender. Die Augen sind auch eine Q.uelle der Belehrung! Sieht man von äußerlichen und leicht nachzuahmenden Gewohnheiten ab, so kann eine bestimmte Art oder, besser gesagt, ein bestimmtes Vermögen, den Blick darzustellen, zu den wichtigsten Erkennungskriterien eines Meisters ge- zählt werden. Bei den Köpfen Jans wiederholt sich be- sonders häufig ein strenger, sinnender Blick in die Weite, wie ihn der Künstler wohl an dem regungslos vor sich hinschauenden Modell beobachtet hat. Wir wüßten keinen Meister vor Tizian zu nennen, von dem dieses ruhige Vorsichhinschauen so herrlich dargestellt worden wäre. Wo hätte gerade dieser Blick besser angebracht werden können als an der Maiestas des Weltbeherrschers, dessen Augen «den Himmel und die Erde schauen». Der Maler des Genter Gott Vaters mochte auch versucht haben, etwas Ahnliches darzustellen; doch wie ist es ihm mißlungen im Vergleiche mit Jan van Eyck! Diese Augen sind leer und seelenlos, sie blicken nicht sondern starren. Sie sind in ihrer Regelmäßigkeit nach einem geläufigen Rezept gemalt, auch ein gleichzeitiger Kölner oder Pariser Maler hätte sie nicht viel anders gestaltet. Wie langweilig und schulmäßig erscheint die hergebrachte klassifizierende Mandelform des Auges den stets neuen Variationen Jans gegenüber. Die Lider, besonders die oberen, sehen ganz flach aus; auch die Wölbungen über den Oberlidern springen nicht recht hervor und diese Mängel der Verkürzung und Modellierung haben zur Folge, daß die Augen nicht in genügender Weise zurücktreten. Man hat nicht den Eindruck, als ob sie in der Augenhöhlung tiefer als andere Teile des Gesichtes liegen würden, wie es bei Jan stets der Fall ist, sondern sie verschwimmen fast mit den Wangen zu einer Fläche (Fig. 12). Noch deutlicher ist der altertümliche und konventionelle Charakter der Augenbildung beim Jo- hannes (Fig. 9). Die Pupillen sind nach oben gerückt, so daß sie teilweise von den Oberlidern bedeckt werden, wodurch der Blick aus der Richtung des etwas geneigten Kopfes nach oben verschoben wird. Es schaut so aus, als ob der Heilige nach oben schielen würde. Das ist die bekannte primitive Art der XXIV. 28 Fig. 8. Jan van Eyck, Madonna des Kanonikus van der Pale. Brügge, Akademie (Ausschnitt). Fig. 9. Hubert van Eyck, Johannes der Täufer, vom Genter Altar. Gent, St. Bavo (Ausschnitt). Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. giottesken Künstler, den Blick zu beleben, ein Archaismus, der in den Werken Jans nie mehr zu finden ist. Zudem ist das rechte Auge des Täufers, wie man am Original besser sehen kann als auf der Photographie, viel weniger verkürzt, als es nach der Drehung des Kopfes sein sollte, was sich Jan eben- falls nie zuschulden kommen läßt. Wie unvergleichlich anatomisch richtiger, zeichnerisch und malerisch reicher die Augendarstellung Jans ist, lehrt ein Blick auf die hier abgebildeten Köpfe (Fig. 10, Ii). Es ist, als ob man die Natur selbst mit jenen noch so ungelenken Ver- suchen, sie nachzuahmen, vergleichen würde. So trennt die drei Mitteltafeln der obe- ren Vorderreihe des Genter Altares und die authentischen Werke Jans wie auch andere Teile des Genter Schreines eine Kluft in den künstlerischen Darstellungsmitteln, die schwer erklärt werden könnte, falls alle diese Bilder e i n Meister geschaffen hätte. Bevor wir jedoch daraus weitere Schlüsse ziehen, müssen wir uns fragen, ob sich der ältere und weniger entwickelte Stil der drei heili- gen Gestalten nicht auch an anderen Teilen des Altares nachweisen läßt. Die segnende Hand Gott Vaters hat eine ungewöhnliche Form: der Daumen steht nämlich von den zwei erhobenen Fin- gern weit ab und ist gebogen, was eine geradezu unmögliche Stellung ist, falls die zwei erhobenen Finger geradegestreckt wä- ren (Fig. 12). Nun wird jedoch diese Stel- lung ganz natürlich und entspricht dem ge- wöhnlichen Gestus des Segnens, falls die zwei Finger nach vorne gebogen werden. Eine solche segnende Hand wollte auch offenbar der Maler darstellen, wobei er je- doch die nach vorne aus dem Bilde hinaus- gebogenen Finger nicht in richtiger per- spektivischer Verkürzung zu malen vermochte und es vorzog, sie einfach gerade zu lassen. Dieselbe merkwürdige Fingerstellung finden wir an der erhobenen Rechten einer Figur der rechten Gruppe der Heiligen und Märtyrer in der Anbetung des Lammes. Fig. 10. Jan van Eyck, Adam, vom Genter Altar. Brüssel, königl. Museum (Ausschnitt). Das Hosianna, welches heute so vielstimmig auf die Mitteltafel des Genter Altares als auf den Anfang und die erste große Manifestation der modernen Landschaftsmalerei gesungen wird, ist nicht alten Datums. Die Bewunderung Münzers galt vor allem den Figuren des Adam und der Eva und das dürfte zu seiner Zeit und auch noch viel später allgemein gewesen sein. Noch Guicciardini macht darauf aufmerksam, daß das Altarwerk irrtümlich Adams und Evas Schrein genannt wurde, da nicht das Elternpaar sondern die Anbetung des Lammes die wichtigste Darstellung sei. Adam und Eva waren in der mittelalterlichen Kunst keine ungewöhnlichen Gestalten und, wenn man nach ihnen den Altar und die ganze Kapelle benannte, obwohl sie da nur Nebenfiguren gewesen sind, so kann das nur so erklärt werden, daß man sie für den künstlerisch merkwürdigsten Teil des großen Werkes ange- 28* 196 Max Dvorak. sehen hat, für weit merkwürdiger als die Hauptdarstellung, die man gar nicht zu beachten schien. Noch Dürer verliert kein einziges Wort über die Anbetung des Lammes. Hatte man kein Auge für die Vor- züge und Neuerungen dieser Tafel? Man beschäftigte sich doch gerade damals im Norden nicht weniger mit den Problemen der Landschaftsmalerei als heutzutage. Oder hat vielleicht unsere Zeit diese Vorzüge dem Bilde erst angedichtet? Sehen wir vorläufig von dem landschaftlichen Hintergrunde ab und betrachten wir die Figuren- gruppen, und zwar zunächst jene zwei, welche die untere Hälfte der Tafel einnehmen (Fig. 23). Wer gewohnt ist, auf dergleichen Dinge zu achten, dem kann es nicht entgehen, wie altertümlich diese Gruppen komponiert sind. Es gibt wohl keinen besseren Maßstab für die entwicklungsgeschichtliche Höhe einer raum- darstellenden Kunst als die Art und Weise, in welcher eine Gruppe von Personen in den sie umgebenden Raum hineinkomponiert wurde. Zwischen den ersten kindlich primitiven Ver- suchen, die räumliche Stellung einer größeren Anzahl von Figuren annähernd richtig anzudeu- ten, und der Kunst eines Tintoretto, für welche die kompositioneile Verwendbarkeit der Figuren fast nur mehr in ihrem Raumwerte besteht, liegt die ganze, die eigentliche Geschichte der Male- rei. Das Suchen der vorangehenden Kunst ging auf in der neuen Aufgabe und die Folgezeit konnte nichts mehr hinzufügen. Wenn wir uns nun fragen, welchem Kapitel dieser Geschichte unsere Gruppen angehören, so müssen wir recht weit zurückblättern. Obwohl nach allen Seiten genug Raum wäre, sind die Figuren fast Körper an Körper, Kopf an Kopf aneinander gedrängt, was umso unnatürlicher wirkt, da ihrer nicht gar so viele sind. Der Maler hatte auch nicht die Absicht, ein Gedränge darzustellen, sondern er verdichtet die Szene deshalb so, weil er nur in dieser Weise eine Gruppe von hintereinander stehenden Figuren zu malen vermochte. Er folgt darin noch ganz der mittelalterlichen Kunstübung. Es hat schon früher einmal in der Geschichte der Kunst eine Periode gegeben, in der kompakte Figurenmassen aus ähnlichen Gründen verwendet wurden. Das war das III. .lahrhundert vor Christus. Damals haben die antiken Künstler begonnen, den räumlichen Zusammenhang der dargestellten Szenen zu berücksichtigen, und verfielen bei figurenreichen Darstellungen auf das Auskunftsmittel, die Figuren so dicht aneinander zu rücken, daß kein Zwischenraum und kein Hintergrund übrig blieb, wodurch die Schwierigkeit, einen Raum darzustellen, beseitigt war. ^ Die mittelalterliche Kunst bediente sich aus etwas anderen Gründen eines ähnlichen Kunstmittels. Wie die literarischen Formen der antiken Dichtungen nie in Verlust geraten sind, so haben sich auch die wichtigsten Entdeckungen der antiken bildenden Kunst stets erhalten. Das Bewußtsein, daß Jede Szene sich in einem räumlichen Zusammenhange abspielt und so auch dargestellt werden muß, ist nie Fig. 11. Jan van Eyck, Bildnis. Loudon, Nationalgalerie (Ausschnitt). ' Vgl. darüber Wickhoft", Wiener Genesis, S. 5 i ft'. Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 197 Fig. 12. Hubert van Eyck, Gott Vater, vom üenter Altar. Gent, St. Bavo (Ausschnitt). mehr ganz verschwunden. Das willkürliche Neben- und Übereinander der Figuren der vorhelleni- stischen Kunst war dauernd überwunden und es gibt kaum ein einzelnes mittelalterliches Kunstwerk, gewiß jedoch kein ganzes mittelalterliches Kunstgebiet, dem völlig die Tendenz mangeln würde, den Figuren einer dargestellten Szene nebst ihren stofflich gegebenen Beziehungen auch eine räumlich richtige Stellung zu geben. So waren Fortschritte in der Darstellung des räumlichen Zusammenhanges von Anfang an in dem Programme der mittelalterlichen Kunst inbegriffen. 198 Max Dvofäk. Aber wie in der Literatur, so felilte es auch in der Kunst zunächst an gestaltender Kraft, einen neuen Wein in die Becher der alten Form zu gießen. Eine hochentwickelte Kunst kann ebensowenig einfach geerbt oder übertragen werden als eine hochentwickelte Kultur. Was nützt einem Analpha- beten ein Schloß voll Schätzen der modernen Bildung, erst seine Kinder werden wohl lesen lernen und seine Kindeskinder vielleicht auch schon Freude an den Büchern finden, die bisher verstaubt in der Bibliothek gelegen hatten. Nicht ganz unähnlich gestaltete sich das Verhältnis der mittelalterlichen Kunst zu der antiken Erbschaft. Die landschaftlichen Hintergründe und räumlichen Szenerien der spätantiken Kunst verschwinden nach und nach. Man hat sie auf das Notwendigste reduziert, weil man sie ihrer ganzen Ausdehnung nach nicht mehr oder, besser gesagt, noch nicht künstlerisch zu lesen und zu verstehen vermochte. Sie setzen eine Kunst voraus, welche sich nicht darauf beschränkt, die Drei- dimensionalität anzudeuten und durch einzelne Verweise zu ersetzen, sondern welche sie kontinuierlich darzustellen vermag. Denn die spätantike und die moderne Landschaft muß als eine räumliche Ein- heit nicht nur gedacht sondern auch dargestellt werden, sie ist nur als eine ununterbrochene Ver- knüpfung einer Reihe von räumlichen Darstellungswerten denkbar. Wo diese Verknüpfung fehlt, zer- fällt sie ipso facto in Andeutungen, die nur ideell zusammenhängen, wie dies in der mittelalter- lichen Kunst der Fall war. Das Fehlen der ununterbrochen zusammenhängenden Dreidimensionalität ist im Mittelalter nicht auf eine primitive Anschauungsweise zurückzuführen sondern einzig und allein auf die geringe Fähigkeit, das Gesehene und Gewollte zum Ausdruck zu bringen. Die mittel- alterlichen Malereien, bei denen alle plastischen Erscheinungen nur wie an griechischen Vasenbildern angedeutet sind, stehen keinesfalls auf einer gleichen Entwicklungsstufe mit den letzteren sondern sind im Grunde nicht minder dreidimensional gedacht als eine spätantike Figur. Nur mußte man erst durch eine Reihe von Generationen lernen, um wieder dorthin zu gelangen, wo man in der Antike stehen geblieben war. Sobald man aber so weit war, daß man eine einzelne Figur, einen einzelnen Gegenstand in allen seinen Teilen als eine zusammenhängende plastische Erscheinung darzustellen vermochte, kehrte man sogleich wieder zu den spätantiken landschaftlichen Hintergründen und räum- lichen Szenerien zurück, die sich sowohl an alten Kunstwerken als auch im lebendigen Kunst- gebrauche im Orient erhalten hatten und die nun wiederum verstanden und verwendet werden konnten. Dieser Umweg war nötig, um die merkwürdige Komposition unserer Gruppen zu erklären. Sie haben nicht, wie ihre antiken Analogien, die Aufgabe, durch die gedrängte Masse den Raum zu er- setzen; denn die Landschaft ist ja da, in der sie sich befinden. Doch eben mit dieser Landschaft wußte der Maler nicht recht was anfangen. Die Figuren frei darin zu verteilen, ging über seine Kräfte. Er ist sich wohl bewußt, daß sie nicht willkürlich darin zerstreut, nur so ohneweiters dargestellt werden dürfen, sondern daß ihre räumliche Stellung in der Darstellung berücksichtigt werden muß; aber es war ihm nicht möglich, die damit verbundenen Schwierigkeiten zu bewältigen. Er vermochte weder die perspektivischen Aufgaben zu lösen, welche entstehen, wenn eine große Anzahl von Figu- ren in einer Landschaft verteilt werden soll, noch das Zurückweichen der Gruppe und den Raum zwischen den einzelnen Figuren darzustellen. Er weiß sich nicht anders zu helfen als dadurch, daß er die Figurengruppe eben so darstellt, als ob er eine einzelne Figur gemalt hätte; um nicht die räumlichen Valeurs zwischen einzelnen Figuren berücksichtigen zu müssen, malt er die Gruppen als geschlossene Einheiten. Es besteht zwischen ihnen und der Landschaft keine künstlerische Verknüpfung; man könnte die Landschaft durch einen goldenen Hintergrund oder durch eine Tapete ersetzen, ohne da- durch die Deutlichkeit des Bildes im geringsten zu beeinträchtigen. Das ist jedoch eine Eigentüm- lichkeit der spätmittelalterlichen Malerei. Die Rezeption der spätantiken landschaftlichen Hintergründe vollzog sich in der Malerei nördlich der Alpen um die Mitte des XIV. Jahrhunderts. Das geschah am häufigsten in Bildern, für welche alte traditionelle Kompositionen benützt werden konnten und bei welchen man deshalb nicht mit der Schwierigkeit der Verteilung und Darstellung der Figuren in dem Raumausschnitte zu kämpfen hatte. Wo das nicht der Fall war, da blieb das ganze Trecento hindurch die Verknüpfung der figürlichen Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 199 Fig. l3. Hubert van Eyck, Gruppe aus der Anbetung des Lammes. Güiit, St. Bavo (Aiissclinitt). 200 Max Dvofäk. Komposition mit der räumlichen Szenerie äußerst lose und mangelhaft, die neue Form der malerischen Darstellung mußte erst nach und nach erobert werden. Der Stil dieser Ubergangsperiode tritt uns auch in unseren Gruppen entgegen. Wir werden sehen, daß man zur Zeit, als sie gemalt wurden, ander- wärts in diesen Problemen schon viel vorgeschrittener war. Sie sind wenigstens in dieser Beziehung noch ganz und gar ein Denkmal der Trecentomalerei, von dem noch ein ungemein weiter Weg zu den Bestrebungen und Entdeckungen des neuen Stiles zurückzulegen war. Wenn diese Gruppen nicht einen Teil des Genter Altares bildeten, wem wäre es wohl eingefallen, sie für ein Denkmal des neuen Stiles zu halten? Es genügt, einen Blick auf ein beliebiges Werk der neuen niederländischen Malerei zu werfen, um sich zu überzeugen, daß die angebliche «Wandlung zur Natur», wenn überhaupt irgendwohin, so noch am ehesten zwischen diese Heiligenscharen und die Bilder der neuen Richtung gesetzt werden müßte, um den großen Abstand in der Auffassung und Bewältigung der malerischen Probleme zu er- klären. Denn das Neue des modernen Stiles bestand nicht minder in der größeren Natürlichkeit der Kom- position des ganzen Bildes und in der malerischen Erfindung und Verwertung der einzelnen Figuren als in der größeren Realität der Typen und Formen, ja fast möchte es uns scheinen, als ob die Errungen- schaften der neuen Kunst nirgends tiefer eingewirkt hätten als in dieser Richtung. Man könnte sich wohl ein Renaissancebild denken, welches nicht viel an seiner Lebenswahrheit einbüßte, falls man seine Figuren durch solche der Trecentomalerei ersetzen würde; doch kein Bild des Trecento ver- löre seinen mittelalterlichen Charakter, wenn man es noch so sehr im Detail naturalistisch durch- führen würde, so lange seine Komposition nicht von Grund aus geändert wird. In der natürlichen und freien Verteilung der Figuren in dem dargestellten Räume liegt vor allem das trennende Moment zwischen der Malerei des XIV. und der des XV. Jahrhunderts, zwischen der Malerei des Mittelalters und der Neuzeit und es kann kein Zweifel bestehen, wohin unsere heiligen Gruppen in dieser Be- ziehung eingereiht werden müssen. Doch es ist nicht nötig, daß wir andere Bilder zu einem Vergleiche heranziehen, der für uns vor- läufig irrelevant ist. Wir finden auch an dem Genter Schreine selbst Teile, welche in Bezug auf die Verteilung und Darstellung der Figuren im Räume über die zwei Gruppen aus der Anbetung des Lammes wesentlich hinausgehen. An den Seitentafeln der unteren Bilderreihe des Altares hatte der Maler dieselbe Aufgabe zu lösen wie in dem Mittelbilde, auch da sollten zu dem heiligen Opfer sich herandrängende Scharen dargestellt werden. Eine dieser Darstellungen scheint auf den ersten Blick in der Komposition an die Gruppen der Mitteltafel zu erinnern. Es sind dies die heiligen Pilger, welche eine ähnlich geschlossene Masse bilden wie die Bischöfe, Märtyrer und Propheten. Doch eine genauere Betrachtung lehrt, daß diese Schar doch von jenen des Mittelbildes verschieden ist. Während die letzteren vielköpfigen Einheiten gleichen, bei denen der Maler die räumliche Stellung und Unterbringung der zu den Köpfen gehörigen Körper außeracht gelassen hat, war der Maler der Pilger darauf bedacht, die Figuren und den ihnen zufallenden Raum in Einklang zu bringen. Bei den Gruppen aus der Anbetung des Lammes ging der Künstler fast unvermittelt von den in den vordersten Reihen freistehenden Figuren zu Figuren über, von denen man bloß die lückenlos aneinander gedrängten Köpfe sieht, was nur bei einer sehr entfern- ten Menschenmenge möglich wäre. In den ersten drei Reihen erscheinen die Köpfe übereinander, wie es dem steil ansteigenden Boden entspricht. Dadurch hat der Maler die Schwierigkeit umgangen, das räumliche Hintereinander malen zu müssen, und es ermöglicht, recht viel Köpfe ganz darzu- stellen. Doch knapp hinter diesen Reihen sieht man von einigen Reihen von Figuren nur einen Teil des Kopfes, bei der rechten Gruppe gar nur den Scheitel, was in einem krassen Widerspruche zu dem angenommenen ununterbrochenen Aufsteigen und der nur in großer Nähe möglichen Deutlichkeit des Terrains steht. Das entspricht der früher gemachten Beobachtung: der Maler war nicht imstande, Raum zwischen die Figuren zu setzen und war im Unklaren über ihr räumliches Verhältnis zu dem nur akzessorischen landschaftlichen Hintergrunde. Bei der Pilgerschar ist dies schon wesentlich anders. Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 20I Fig. 14. Hubert van Eyck, Gruppe aus der Anbetung des Lammes. Gent, St. Bavo (Ausschnitt). Wenn auch der Maler dieser Gruppe seine Figuren nicht völlig frei im Räume zu verteilen vermochte, wenn auch noch die enge Verknüpfung der Landschaft mit der Komposition fehlt, welche für die Kunst der Folgezeit charakteristisch wurde, so fehlt doch auch jener krasse Widerspruch, den wir soeben erörtert haben. Die Gruppe steigt gleichmäßig mit dem Boden auf, die Köpfe drängen sich nicht mehr aneinander, als es bei dem Räume, welchen die Figuren einnehmen, möglich ist. XXIV. 29 202 Max Dvofäk. Wenn es auch noch unnatürlich ist, daß die Heiligen so dicht aneinander gedrängt stehen, so ist es doch möglich, daß sie so stehen. Noch viel größer ist der Fortschritt in den übrigen drei Tafeln der unteren Reihe. Die Aufgabe wurde hier dadurch vereinfacht, daß der Hintergrund des Bildes durch einen aufsteigenden Felsen ab- geschlossen wird. Es ist einfacher, eine Anzahl von Personen in einem begrenzten Räume als in einem unbegrenzten darzustellen. Aber auch wenn wir diese Vorteile in Rechnung setzen, ist es kaum mög- lich, die Lösung des Problems auf den drei Tafeln mit der Anbetung des Lammes auch nur zu ver- gleichen. Die gedrängte zusammengeschmolzene Masse der Figuren ist ganz verschwunden. Der Maler der heiligen Einsiedler, Richter und Ritter hat die zahlreichen Scharen durch eine beschränkte Anzahl von Figuren ersetzt (Fig. 15, 17). Diese Einschränkung war notwendig, um neuen Aufgaben gerecht zu werden. Der Künstler dieser Tafeln geht nicht mehr der Schwierigkeit, eine Reihe von Personen im räumlichen Hintereinander darzustellen, aus dem Wege. Wenn auch noch mit manchen naiven Zügen, so weiß er doch eine in die Tiefe des Bildes sich fortsetzende Gruppe so darzustellen, daß Jede Figur sowohl in ihrer räumlichen Stellung verständlich und wahrscheinlich erscheint als auch von den Nebenfiguren sich deutlich abhebt. Wenn auch noch mit mancher Beschränkung, so wußte doch der Maler dieser Bilder das Problem der Raumvertiefung in einer freien und klaren Komposition zu bewältigen, er vermochte auch nach der Tiefe hin Raum zwischen seine Figuren zu setzen. In diesen Bildern ist schon genau der Weg vorgezeichnet, welchen die moderne Kunst einschlagen sollte. Nicht minder altertümlich als die Komposition der zwei Gruppen in der Anbetung des Lammes ist auch die Erfindung und perspektivische Darstellung der einzelnen Figuren. Die mittelalterliche Kunst beruht von Anfang an und in allen ihren Perioden auf der großen antiken Entdeckung des perspektivischen Zeichnens — das ist wohl der offenkundigste Beweis, daß sie weder primitiv noch eine ganz originelle Neuschöpfung sondern nur eine Zwischenszene in der großen einheitlichen Kunstentwicklung war. Es wäre jedoch falsch, deshalb zu vermuten, daß sie in ihren perspektivischen Darstellungen völlig frei und unbeschränkt gewesen ist. Das Bewußtsein der perspektivischen Erfordernisse ist nie verschwunden, wohl aber das Vermögen, eine beliebige Aufgabe zu lösen. Wie in mancher anderen Richtung, so lassen sich auch in Bezug auf perspektivische Probleme in der mittelalterlichen Malerei bestimmte typische Lösungen, bestimmte Schemen und Exempla aufzählen, auf die alle perspektivischen Darstellungen zurückgeführt werden können. So hat man z. B. stets einen Kopf im Dreiviertelprofil darstellen können, konnte jedoch nicht einer durch eine Hebung oder Senkung des Kopfes entstehenden Erschwerung dieser Aufgabe Rechnung tragen. Man setzte entweder einfach den Kopf in der gewöhnlichen Dreiviertelprofilstellung, nur etwas ge- senkt oder gehoben, dem Rumpfe auf oder drehte diesen nötigenfalls so, daß die Verwendung eines so verkürzten Kopfes möglich war. Ein jedes Werk der mittelalterlichen Malerei bietet genug -Beispiele dafür. So ist es auch noch im Trecento geblieben. Die großen einförmigen Reihen der Profilköpfe, wie wir sie beispielsweise an dem Paradiesesbilde in Sta. Maria Novella beobachten können, oder die sonderbar geknickten Köpfe, die der ganzen giottesken Kunst eigentümlich sind, können nur so erklärt werden, daß es den Künstlern dieser Zeit noch nicht gelungen war, alle Variationen der Kopfstellung perspektivisch darzustellen, und daß sie, so gut es eben ging, jene verwendeten, die ihnen geläufig waren. Zudem machte sich bei der Wiederaufnahme der ununterbrochenen Durchmodellierung der Bilder auch die Schwierigkeit geltend, die zurücktretenden Teile richtig in Licht und Schatten darzu- stellen, was man früher gar nicht beachtete und wodurch die Zahl der bezwingbaren Aufgaben noch weiter eingeschränkt wurde. Dieselbe Gebundenheit in Bezug auf perspektivische Lösungen, welche, wie dem ganzen Mittel- alter, auch noch der Malerei der zweiten Hälfte des XIV. Jahrhunders eigentümlich ist, finden wir in unseren Gruppen wieder (Fig. i3, 14, 16, 18). Die «Anbetung des Lammes» stellt das dar, was der Name besagt; daran kann wohl kein Zweifel sein. Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 203 F'ig. 15. Jan van Eyck, Die Streiter Christi, vom Genter Altar. Berlin, köiiigl. Galerie (Ausschnitt). 204 Max Dvofäk. Doch wenn wir genau zusehen, machen wir die Beobachtung, daf3 keiner von den Heiligen, Märtyrern und Propheten den Blick auf das angebetete Symbol des Heilands gerichtet hat. Sie sind zuweilen ganz abgewendet, so daß sie dem Lamme den Rücken zeigen; aber auch da, wo ihm entweder der ganze Körper oder der Kopf zugewendet erscheint, können die Augen der Adoranten den ange- beteten Gegenstand nie erreichen. Der Künstler hatte gewif3 die Absicht, den Blick eines Teiles seiner Figuren dem Altare zuzuwenden, was aus der Stellung der Figuren ersichtlich ist. Er vermochte jedoch den Kopf und besonders die Augen nicht in jener Verkürzung darzustellen, die dazu erforderlich war. Am deutlichsten ist dies bei den vorderen sechs knienden Gestalten der rechten Gruppe (Fig. i8). Die Körper sind in richtiger Stellung dargestellt, nämlich in einer Dreiviertelwendung, wogegen der Kopf fast und die Augen ganz einer reinen Profilstellung entsprechen. Der Maler dieser Gruppen vermochte noch nicht einen abgewendeten Kopf anders als in reinem Profil dar- zustellen. Doch auch bei den Figuren, welche dem Beschauer zugewendet sind, geht der Maler allen etwas komplizierteren perspektivischen Aufgaben aus dem Wege. Besonders auffallend ist dies bei dem in einem Buche lesenden Papste der rechten Gruppe (Fig. 14). Die Figur ist stark gedreht, doch der Kopf macht die Drehung des Körpers nicht mit sondern ist wiederum ganz im Profil gemalt. Außerdem ist es dem Maler nicht gelungen, die Neigung des Kopfes in dieser Stellung richtig darzustellen. Das perspek- tivische Problem, einen Kopf in starker Verkürzung und zugleich geneigt darzustellen, ging über seine Kräfte und so gleicht die Figur einer Statue, welcher ein abgeschlagener Kopf schief und unrichtig angesetzt wurde. Daß diese Erklärung die richtige ist, beweist die rechts daneben stehende Figur, an welcher wirklich der Versuch gemacht wurde, einen Kopf in dieser Stellung darzustellen, was jedoch ganz und gar mißlungen ist. Weder in der Zeichnung noch in der Modellierung ist es dem Maler ge- glückt, die Verkürzung der abgewendeten Gesichtshälfte darzustellen, und so erscheint die linke Ge- sichtshälfte viel größer als die rechte, was wir auch bei anderen Köpfen beobachten können. Und wenn wir die Köpfe der heiligen Versammlung der Reihe nach durchgehen, so finden wir keinen ein- zigen, der in Bezug auf perspektivische Darstellung der spätmittelalterlichen Kunst gegenüber neu und von überlieferten Typen unabhängig wäre. Die Stellung und Verkürzung der Köpfe richtet sich nicht nach den Erfordernissen einer in ihren perspektivischen Darstellungs- mitteln unbeschränkten Komposition sondern die Komposition wurde wesentlich durch die beschränkten perspektivischen Mittel bestimmt. So offenbart sich uns in der Erfin- dung der einzelnen Figuren dieselbe Gebundenheit und mittelalterliche Einschränkung, die wir in der Komposition der ganzen Gruppen beobachtet haben. Ein Zeitgenosse Jan van Eycks, der uns den Zweitältesten Bericht über die Werke und die Kunst des großen niederländischen Malers hinterlassen hat, bewunderte über alles die Meisterschaft der per- spektivischen Verkürzungen auf seinen Bildern. Wohl deshalb sagt er von ihm, er sei «geometriae presertim doctus» gewesen. Diese Bewunderung wäre unverständlich, wenn wir die Anbetung des Lammes als ein Specimen der Kunst Jans betrachten müßten; doch völlig klar wird das Lob, wenn wir es entweder auf andere Teile des Genter Altares oder auf die gesicherten Werke Jans beziehen. Wir werden das Verhältnis Jan van Eycks zu den perspektivischen Entdeckungen der Malerei des XV. Jahr- hunderls noch des näheren zu erörtern haben; doch es kann gleich hier hervorgehoben werden, daß die neue in Italien theoretisch begründete Ars prospectivae nur graduell und auch nur in der Be- wältigung bestimmter Aufgaben über die perspektivischen Darstellungsmittel Jans hinausgeht. Es gibt auch noch an seinen Werken perspektivische Archaismen, Mißverständnisse und Fehler, vor allem in landschaftlichen und architektonischen Darstellungen, die fünfzig Jahre später unmöglich wären. Aber darauf kommt es nicht an; auch in der gleichzeitigen italienischen Malerei ist es nicht anders. Ent- scheidend und von ungeheurer Bedeutung für die Geschichte der Malerei war es dagegen, daß, ähnlich wie in den Werken des Masaccio, auch im Norden in den Werken des Jan van Eyck das mittelalter- liche System der traditionellen und typischen Verkürzungen aufgegeben und überwunden wurde. Wenn wir von besonders schwierigen und komplizierten perspektivischen Problemen absehen, so Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 205 Fig. 16. Hubert van Eyck, Gruppe aus der Anbetung des Lammes. Gent, St. Bavo (Ausschnitt). werden wir an allen Bildern des Jan van Eyck weder Mängel finden, die unseren perspektivischen Anforderungen widersprechen würden, noch eine Beeinflussung der Komposition durch die Unzu- länglichkeit der konventionellen perspektivischen Lösungen bemerken. Frei und zwanglos, ohne grobe Fehler vermag Jan seine Figuren in jeder Stellung zu zeichnen und zu malen; die unend- lichen Variationen der Verkürzung und der Modellierung, welche die Darstellung eines Natur- 206 Max Dvorak. ausschnittes bietet, sind für ihn keine Fessel mehr sondern ein selbstverständliches und souverän be- herrschtes technisches Mittel, die Erscheinungen der Welt dem Beschauer in dem Bilde von neuem vorzuzaubern. Es ist nicht nötig, erst des Langen aus der Mannigfaltigkeit der perspektivischen Lösungen diese neue perspektivische Freiheit und Sicherheit bei Jan nachzuweisen. Sie ist der Haupt- grund, warum seine Bilder dem historisch ungeschulten modernen Beschauer ebenso verständlich und bewunderungswürdig erscheinen als die mittelalterlichen Malereien, welchen sie mangelt, fremd, un- verständlich und lächerlich. Neben der Zwanglosigkeit der Komposition war die Uberwindung der mittelalterlichen kon- ventionellen Perspektive die wichtigste Errungenschaft, welche die Geschichte der Malerei in zwei Abschnitte trennt. Alle anderen Fortschritte der Malerei waren unmöglich, so lange man in den per- spektivischen Darstellungsmitteln gebunden war, und so war die Uberwindung dieses Zwanges die Grundlage und Voraussetzung zugleich, aber auch das dauernde Kriterium der ganzen folgenden Ent- wicklung. Es ist nicht möglich, daß ein Meister und noch dazu in einem Werke in seinen perspekti- vischen Behelfen so mittelalterlich und unbeholfen gewesen wäre wie in den Hauptgruppen der An- betung des Lammes und zugleich so frei und modern wie in den übrigen Teilen des Schreines. Die Eigentümlichkeiten der Zeichnung, Modellierung und Formenauffassung, welche die drei großen heiligen Gestalten von den andern Tafeln des Genter Altares unterscheiden, haben eine Parallele in der Komposition und perspektivischen Erfindung der zwei Heiligenscharen in der Anbetung des Lammes. Dort und da konnten wir Merkmale beobachten, die auf eine weniger entwickelte Kunst als die des Jan van Eyck, auf einen älteren Meister, schließen lassen. Soll diese Ubereinstimmung beweiskräftig sein, muß sie sich natürlich auf alle stilistischen Merkmale erstrecken. W^ir hätten auch bei der Betrachtung der besprochenen Gruppen aus der Anbetung des Lammes mit einer Untersuchung der Formengebung beginnen können, um zu demselben Resultate zu gelangen. Ein Meister kann in einer Richtung geschickter sein als in einer anderen, doch im ganzen und großen wird überall in seiner Kunst die Entwicklungshöhe, der sie angehört, zutage treten, etwa wie sich die Bildungsstufe eines Menschen in allen seinen Handlungen geltend macht. So ist auch bei den zwei großen Heiligengruppen der Mitteltafel des Genter Altares nicht nur die Komposition und perspek- tivische Behandlung spätmittelalterlich sondern auch die Formenauffassung und Darstellung. Zum nicht geringen Teile könnten wir über einzelne Figuren dasselbe wiederholen, was wir über die drei heiligen Gestalten der oberen Reihe gesagt haben. Infolge der flüchtigeren Behandlung ist die Uber- einstimmung mit den geläufigen formalen Typen und Prinzipien der spätgotischen Malerei noch viel deutlicher als bei den drei großen und besonders sorgfältig durchgeführten Figuren der oberen Reihe. Vielleicht am stiefmütterlichsten unter allen Kunstperioden wird jene des Trecento behandelt, obwohl aus ihr die wichtigsten Aufgaben und Ziele aller späteren Kunst, wenn nicht den Anfang, so doch eine entscheidende Umgestaltung genommen haben. Hätte man sich mit der Geschichte derTrecento- malerei nur halb so viel beschäftigt als mit der Geschichte der Malerei im folgenden Jahrhunderte, so könnte über die Lösung der Hubert-Jan van Eyck-Frage schon längst kein Zweifel sein. Man begnügte sich bisher bestenfalls mit einem Studium der Kunst der Begründer der Trecentomalerei, ohne auf die Veränderungen zu achten, welche sie durch die Künstler der zweiten Hälfte des Jahrhunderts und vor allen durch die nordischen Nachahmer erfahren hat. Sonst hätte man nicht übersehen können, daß alle Typen, die der Maler den Heiligen der Anbetung des Lammes verliehen hat, eine Genealogie haben, die sich durch das ganze XIV. Jahrhundert zurückverfolgen läßt, und daß sie ihren Vorläufern aus dieser Zeit noch weit näher stehen als den Gestalten der neuen Kunst. Das gilt ebenso für die äußere ikono- graphische Erfindung der Figuren wie für die künstlerische Gestaltung der Typen und Formen. Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 207 Gegenüber dem Bestreben der Malerei im XII. und XIII. Jahrhunderte, die Lebenswahrheit der Bilder durch Aufnahme realistischer Züge, z. B. im Kostüm, in einem genrehaften Beiwertc und in ganzen dem Leben entnommenen P'iguren und Szenen, zu steigern, hat sich in der Malerei des Tre- cento eine Reaktion vollzogen. Es ist eine im Verlaufe der Entwicklung der christlichen Kunst mehrmals sich wiederholende Erscheinung, daß die Künstler plötzlich die Darstellung ihrer Zeit und Umgebung durch ideale Schöpfungen ersetzen, an die dann lange Zeit alle künstlerische Inkarnation gebunden war. So war es auch in der giottesken Malerei. Wohl haben sich stets in ununterbrochener Tradition jene Gestalten erhalten, welche das antike Christentum als bildliche Versinnlichung der biblischen Epopöen erfunden hat. Doch durch die neue gotische Kunst wurden sie immer mehr zurückgedrängt, so daß sie im XIII. Jahrhunderte schon fast verschwinden in der Uberzahl neuer Erfindungen und Illustrationen, welche ihre Helden ihrer Zeit entlehnten. Als in Italien in den letzten Jahrzehnten des Ducento die wichtigsten Probleme und Errungenschaften der antiken und byzantinischen Malerei und zugleich auch der den gotischen Malereien gegenüber so große und monumentale Stil dieser Vorbilder neu entdeckt und in die Kunst eingeführt wurde, scheinen auch die alten Typen der altchristlichen Kunst zu neuem Leben auferstanden zu sein. Und wie die Herrscher und Helden und schließlich alle Menschen des XVII. Jahrhunderts in der Pose der mythischen Heroen dargestellt wurden, so verleihen auch die Trecentomaler allen ihren Helden die Pose, den Stil, könnte man sagen, der alten kirchlichen Heroen. Wie die letzteren ihnen als ideal im Vergleiche zur Gegenwart und zu den letzten Schöpfungen der gotischen Malerei erscheinen mußten, so verleihen sie auch allen ihren Gestalten ideale Typen. So entsteht eine malerische Bühne neuer Idealfiguren, die nur lose mit dem Leben ihrer Zeit zusammenhängen und die man so lange so wenig geändert hat, eben weil sie nicht ein Spiegel ihrer Zeit waren und sein sollten sondern vor allem Träger neuer, von der vorübergehenden Gegenwart unabhängiger malerischer Probleme und künstlerischer Wahrheiten. Sie begleiten uns auf allen Wegen dieser neuen Probleme, die aus Italien auch nach dem Norden gedrungen sind, und erhalten sich so lange, bis die Aufgabe, welcher sie im letzten Grunde ihre Entstehung verdanken: die Ersetzung der mittelalterlichen Formelhaftigkeit durch eine neue innere künstlerische Realität der malerischen Erfindungen, vollständig gelöst wurde. Als dem eigenen Können überlegene, durch das Vermächtnis einer höher entwickelten Kunst überlieferte Verkörperungen einer mächtigeren Lebensfülle wurden sie in die Kunst eingeführt und so lange beibehalten, bis man sie nicht mehr brauchte, d. h. bis man an ihre Stelle eigene Schöpfungen von nicht geringerer künstlerischen Wahrheit setzen konnte und bis man sich die Gesetze zueigen machte, nach welchen die vorbildliche Realität auch über die übernommenen Vorbilder und ihre Nachahmungen hinaus den Figuren verliehen werden konnte. Bei dem Maler der Anbetung des Lammes war dies noch nicht der Fall. Die einzelnen Gestalten unserer Gruppen können weder auf eine allgemeine liturgisch-ikono- graphische Tradition allein, die ja nur bei einigen näher charakterisierten Heiligen in Betracht kommen könnte, noch auf eine persönliche Erfindung oder Modellauswahl und Wiedergabe des Künstlers zurück- geführt werden. Trotz der vielen naturalistischen Züge und Einzelnheiten gehören sie dem Repertoire der giottesken Idealfiguren an, aus dem sie leicht zu belegen sind. Man braucht sich nur auf einige spätgiotteske Bilder zu besinnen, um unter der Hülle der nordischen Zutaten und Veränderungen leicht jene Vorbilder zu entdecken, welche bei der Erfindung dieser Gestalten den Maler geleitet haben. Als eine Variation auf alte Themen und unter Zugrundelegung konventioneller Typen und Figuren des XIV. Jahrhunders hat der Maler die hoheitsvollen Greise geschaffen mit langem wallenden Barte und schweren Gewändern, wie sie uns in der ganzen Malerei des Trecento so oft begegnen, die würdigen Männer mit scharf geschnittenen Profilen und stolz aufgeworfenen Lippen, wie wir sie bis in die altchristliche Kunst und darüber hinaus verfolgen können und die in der giottesken Malerei regel- mäßig für die Darstellung der ernsten Männlichkeit verwendet wurden, die sinnenden Priester, deren Köpfe an die bekannten Bildnisse Dantes erinnern, die Jünglinge mit weichen runden, frauenhaften Gesichtern, die, ursprünglich apollinisch, in der byzantinischen Kunst Engeln und jungen Helden ver- liehen, in der Malerei des XIV. Jahrhunderts zum idealen Typus der Jugend schlechtweg geworden sind. 208 Max Dvofäk. So sind, wie die heiligen drei Gestalten der oberen Reihe, auch die Figuren der beiden Gruppen nicht eine freie Naturnachahmung sondern nur eine neue Umgestaltung alter, überlieferter und der gan- zen giottesken Malerei ge- Fig. 17. Jan van Eyck. Die heiligen Einsiedler, vom Genter Altar. Berlin, königl. Galerie (Ausschnitt). meinsamer künstlerisch- sakralen Abstraktionen. Wendet man sich von diesen Kirchenheroen zu den Menschen Jan van Eycks, so ist es, als wenn man aus einer einsamen Glyptothek auf die belebte Straße treten würde. Statt Schemen und Kunstwerken sieht man plötzlich Gestal- ten, die Fleisch und Blut haben, bei welchen man nicht nur die künstlerische Realität zu bewundern hat sondern die bis zum Grei- fen wirkliche Menschen zu sein scheinen. Blind oder ^'erblendet müßte das Auge sein, welches diesen schrei- enden Unterschied nicht sehen könnte. Wie der in der thronenden Himmels- königin verkörperte alte Schönheitskanon in den Madonnen Jans durch die der Natur abgelauschten An- mut eines nordischen Mäd- chens ersetzt wurde, so tre- ten an die Stelle der nach dem Vorbilde alter Ideal- figuren erfundenen Kir- chenhelden der Anbetung des Lammes in den Bil- dern Jans Gestalten, in wel- chen die Ahnengalerie einer überwundenen Kunst durch ein neues Geschlecht ab- gelöst wurde. Gestalten, die nicht der Rüstkammer einer alten künstlerischen Tradi- tion sondern ganz und gar einer neuen künstlerischen Erfahrung und Beobach- tung entsprungen sind. Zwi- schen den Heiligen Jans Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. und den spätmittelalterlichen Figurinen gibt es keine Beziehungen mehr. Nichts scheint sie mit der Vergangenheit zu verknüpfen als die liturgisch-traditionellen Attribute. Es ist nicht nur das Kostüm, welches seinen heil. Georg, seinen heil. Donatian als Menschen seiner Zeit und Umgebung erscheinen läßt. In den heiligen Gestalten Jans sind, wie die ikonographischen, auch die künstlerischen Formeln und Vorschriften der vorangehenden Kunst durchbrochen und überwunden. Selbst seine Engel sind Menschen seiner Zeit und einer neuen Kunst. Besonders gut können wir diesen Unterschied beobachten, wenn wir die Seitenflügel der An- betung des Lammes mit den Heiligen dieser letzteren Tafel vergleichen, mit der sie enge zusammen- hängen (Fig. i6, 17, 22). Die dem heiligen Altare zuströmenden Scharen setzen sich in ihnen fort. Es sind Mitglieder einer Gemeinschaft, die auf dem Hauptbilde und seinen Seitentafeln dargestellt wurden, vereinigt im seligen Schauen für Zeit und Ewigkeit. Diese Zusammengehörigkeit hat gewiß den Maler bewogen, die Seitenbilder der apokalyptischen Tafel so konform als nur möglich zu gestalten. In diesem Bestreben hat er sogar in einigen Gestalten eine beiläufige Ähnlichkeit der Typen angestrebt. Doch ge- rade da, wo er Ahnliches schaffen will, zeigt sich, wie er es — anders schafft. Auch er führt unter den Eremiten und Pilgern Greise dem heiligen Altare zu, zu deren Erfindung die ehrwürdigen Gestalten des mittleren Bildes eine Anregung geboten haben mögen. Doch nichts mehr als eine Anregung; denn be- fänden sich diese Seniores fidei nicht in unmittelbarer Nähe der Alten des Mittelbildes, wäre man nie auf die Vermutung gekommen, sie mit den typischen Greisengestalten der giottesken Kunst in Verbindung zu bringen. Die konventionelle, bis auf antike Quellen zurückführende stolze und pathetische Schönheit des Alters, wie sie durch die toskanische Malerei wieder neu in die westliche Kunst eingeführt wurde, hat hier einer Verbildlichung des überstandenen harten Lebenskampfes Platz gemacht. An alte und knorrige nordische Eichen denkt man beim Anblicke dieser Greise mit gebeugten Gestalten, schwerem Gange und verwitterten Zügen, die geradezu als eine Antithese der antiken und giottesken Ideali- sierung betrachtet werden können. Es sind Greise, wie man ihnen auch heute noch begegnen könnte, an welchen nichts verschönert wurde, an welchen es, was wichtiger ist, nichts gibt, was ein totes künst- lerisches Erbgut wäre. Und sollte jemand noch Bedenken haben, ob man diese Diener der Askese und Zeugen des menschlichen Elends als einen ausreichenden Beweis der vollständigen LoslÖsung Jans von den alten und allgemeinen Personifikationen der spätmittelalterlichen Malerei betrachten kann (wie unbedacht wäre ein solcher Zweifel), so wende er sich zu den zwei herrlichen Reiterscharen der gerechten Richter und der Streiter Christi, die in ihrer ruhigen und lebensvollen Kraft und in ihrer heiteren Jugend- lichkeit, die selbst die ältesten unter ihnen bewahrt zu haben scheinen, als ein Sinnbild der neuen Kunst gelten könnten (Fig. 15). Man hat sie bereits in einer Zeit, der an historischen Spekulationen noch nicht besonders viel gelegen war, als Porträte aufgefaßt und mit verschiedenen Namen benannt, was uns ein Beweis sein kann, wie man ihre Lebenswahrheit auch in dem in dieser Beziehung so verwohnten XVI. Jahrhunderte zu schätzen wußte. Wenn auch vielleicht in diesem oder jenem Kopfe eine bei- läufige Porträtähnlichkeit angestrebt wurde, so sind die meisten sicher nicht als Bildnisse bestimmter historischer Persönlichkeiten aufzufassen.^ Und selbst wenn es so wäre! Auch die Porträte in der Malerei des Trecento gleichen jenen Schemen, die wir aus kirchlichen und anderen Kompositionen kennen und durch welche dem Naturstudium bestimmte Grenzen gezogen wurden. Diese Grenzen mußten überschritten werden, sei es in einem Bildnisse, in einer Modellstudie oder in einer frei erfundenen Gestalt, damit das erreicht werde, was auch noch späteren Generationen den glänzenden Zug als ein Spiegelbild des wirklichen Lebens erscheinen ließ. Es sind neue Ziele und Normen der malerischen Wahrheit, welche es Jan ermöglicht haben, Menschen seiner Umgebung so darzustellen, daß man sie in späteren Jahrhunderten noch auch ohne wissenschaftliche Studien als solche erkannt und angesehen hat. Denn es sind Ziele und Normen, welche die Kunst seitdem beibehalten hat und die auch uns ' So erinnert der Kopf des letzten Reiters links oben an die Bildnisse, die als die des Jean Sans Peur bezeichnet werden. XXIV. 3o 2 lO Max Dvofäk. noch diese Reiter den typisctien Figuren der spätmittelalterlichen Kunst gegenüber als die Wahrheit selbst erscheinen lassen. Das, was uns die ganzen Gestalten bezeugen, muß natürlich auch in einzelnen und allgemeinen Eigentümlichkeiten der Formendarstellung zum Ausdrucke kommen. Bei den Figuren der beiden Heiligengruppen aus der Anbetung des Lammes entsprechen noch viele schablonenhaft sich wieder- holende Formen den landläufigen Gewohnheiten der giottesken Malerei. So verrät sich auch dem un- geübten Auge leicht dieser Ursprung in den Profilköpfen mit zurücktretender Stirne, kräftiger, fast scharfkantig gebildeter Nase, stark hervortretendem Kinne und Augen, die knapp bis an die Nasen- wurzel gerückt sind (Fig. i3, i6, i8, 22). Das entspricht einer Formenstilisierung, welche wir bereits bei den Sienesen des XIII. Jahrhunderts beobachten können. Ebenso deutlich und auffallend erinnert an Werke der toskanischen Malerei des Trecento die so merkwürdig kleine Bildung der Augen und die Verschiebung der Pupillen nach oben, die wir bei dem heil. Johannes der oberen Reihe beobachtet haben und die bei einer ganzen Reihe von Figuren in beiden Gruppen ohne Achtung auf die Stellung des Kopfes angewendet wurde. Das sind, wie schon gesagt wurde, Superstitionen, welche in den Werken Jans oder an den übrigen Teilen des Genter Altares nicht mehr zu finden sind. Wir könnten diese Spur weiter verfolgen und bei den meisten Formen die Beobachtung machen, daß sie dem Motivenschatze der spätmittelalterlichen Malerei viel näher stehen als dem Naturalismus Jans und seiner Nachfolger. Es ließe sich ebenso wie bei den oben thronenden Beschirmern der heiligen Gemeinschaft an jeder Gestalt, an jedem Kopfe der Beweis führen, daß der Maler der An- betung des Lammes sowohl in der Auffassung als auch in der zeichnerischen und plastischen Durch- führung der Formen an die Konventionalismen der spätgotischen Kunst gebunden war, etwa so wie Pisa- nello oder Gentile da Fabriano. Sein Naturalismus bestand noch immer in einer Kumulierung einzelner Beobachtungen, die er entweder von seinen Vorläufern übernommen oder selbst dem allgemeinen Kunstbesitze beigefügt hat. Das Wunderwerk der neuen Kunst bestand darin, daß über fast jede Linie die Natur neu befragt wurde. Davon hatte der Meister des apokalyptischen Bildes noch keine Ahnung. In dem Traktate des Cennini sind Ratschläge und Vorschriften darüber enthalten, wie man einen Kopf zeichnen und modellieren soll, die, obwohl sie zweifellos stark literarisch und bei weitem nicht er- schöpfend sind, doch als der Niederschlag einer bestehenden Kunstübung betrachtet werden können. Wenn wir die Köpfe der Heiligen in beiden Gruppen untereinander vergleichen, entdecken wir, daß sie, sofern die räumliche Stellung beiläufig übereinstimmt, ohne Rücksicht auf den individuellen Typus nach einer und derselben Regel gemalt wurden. Nichts deutet darauf hin, daß sich der Maler dieser Tafel wie Jan van Eyck dessen bewußt gewesen wäre, daß auch die konstruktiven Linien und Flächen bei jedem Kopfe individuell sind und daß es nicht angeht, die Zeichnung der Augen oder die Model- lierung der Wangen einfach der Reihe nach nach einem Rezepte zu gestalten. Es ist, als ob er nur einige Schulbeispiele besessen und beherrscht hätte, die er einmal für einen Greisenkopf, dann wieder für einen Jüngling u. s. w. benützt und nur so viel als nötig umgewandelt hätte. Diese Schulexempla sind nun nicht ein persönliches Eigentum unseres Meisters sondern die Summe der ganzen voran- gehenden mittelalterlichen Kunstentwicklung. Auch bei Jan van Eyck gibt es Gestalten, die nicht als Modellsludien angesehen werden können, die also auch auf angelernte Darstellungsformen zurückzuführen sind. So dürfte es sich z. B. bei vielen Heiligenfiguren an den Seitentafeln zur Anbetung des Lammes verhalten. Aber auch bei Gestalten, bei welchen wir solches vermuten können, finden wir weder eine ähnliche Uniformität noch dieselben typischen Formenverbindungen wie bei dem Meister der Anbetung des Lammes. Es ist eine andere Schulübung, eine andere Tradition, die diesen Ateliergestalten zugrunde liegt, eine Tradition, welche jenes Verhältnis zur Natur voraussetzt, das wir an den Porträtstudien Jans beobachten können. Es ist die Schulübung einer Kunst, die sich die Natur neu und selbständig erobert hat und bei der diese Eroberung die Forderung und Möglichkeit einer Sachlichkeit zurückgelassen hat, mit welcher die auf Allgemeinheiten sich beschränkende Formentreue des Meisters der Anbetung des Lammes kaum zu vergleichen ist. Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 21 I Fig. i8. Hubert van Eyck, Gruppe aus der Anbetung des Lammes. Gent, St. Bavo (Ausschnitt). Nur noch ein Beispiel sei uns dafür anzuführen gestattet. Mit einer kleinen Übertreibung könnte die Behauptung aufgestellt werden, daß an der Darstellung des Faltenwurfes der ganze Stil einer Kunst zu erläutern ist. Wir haben bei der Besprechung der drei Tafeln der oberen Reihe die Gewand- behandlung vorläufig außeracht gelassen, weil erst ein Vergleich mit den Figuren des apokalyptischen Bildes ihren Charakter recht deutlich erkennen laßt. 3o* 212 Max Dvofäk. Es hieße Worte verschwenden, wollte man erst des Langen und Breiten schildern, mit welcher Liebe und Sorgfalt, doch auch mit welcher Treue und Meisterschaft Jan die Gewänder zu behandeln wußte. Es gibt auf seinen Bildern Stoff- und Draperiestudien, die vielleicht nie übertroffen wurden. Auch bei der kleinsten Figur seiner Bilder gibt es keine Falte, keine einzige Einbuchtung, über deren Entstehung und Bedeutung wir nicht sofort im klaren wären, was wohl das höchste Lob ist, das man einer naturalistischen Gewanddarstellung zollen kann. Nicht nur in Farbe und technischer Be- handlung sondern auch in der Zeichnung der Faltenbildung weiß er die Beschaffenheit der Stoffe und Gewänder so deutlich darzustellen, daß wir auch in einer farblosen Abbildung über sie nicht im Zweifel sein können. Doch da sind die Begriffe zur Genüge klar — es ist die Gewanddarstellung der neuen niederländischen Malerei: die Gewanddarstellung der Renaissance. Und nun wenden wir uns zu dem Künstler, der die Mittelbilder der vorderen Seite des Genter Altares geschaffen hat. Es scheinen ungewöhnlich schwere Gewänder zu sein, welche den thronenden Gott, die P'ürbitter neben ihm und die Heiligen unter ihm umhüllen, so schwer, daß man fast daran zweifeln könnte, ob man sie noch für biegsame und fügsame Stoffe halten soll (Fig. 9, 18, 22). Große leere, straffgespannte Flächen wechseln mit massiven und wie versteinerten, röhrenförmig oder in einer anderen plastischen Form über die Stofflache sich erhebenden Falten, für die, falls sie aus nachgiebigem Material wären, die Gesetze der Schwerkraft nicht immer zu gelten scheinen. Steif und hart lasten diese Gewänder auf den Gestalten; man könnte sie in Stein ausführen, ohne daß jemand ahnen würde, daß sie für ein Werk der Malerei erfunden wurden. Man hat oft und mit Recht den großen Stil der Gewandmotive an der thronenden Madonna oder dem Johannes bewundert. Doch wiederholen sich nicht dieselben Motive manchmal in barocker Ausgestaltung fast in allen Figuren der beiden Gruppen in der Anbetung des Lammes, auch da, wo wir einen ganz anderen F'altenfall erwarten würden? Wie bei den körper- lichen Formen, so fehlt auch bei der Gewandbehandlung die strenge Naturtreue und die der Natur entsprechende Mannigfaltigkeit der Lösungen. Der große Stil ist nur zum Teile ein Resultat einer be- stimmten Aufgabe — es ist der Stil der spätgotischen Kunst. Man braucht sich nur auf die klassizisierenden Mantelfiguren der giottesken Malerei und auf die geläufigen großzügigen und in Bezug auf den Stil wirklich klassischen Motive der Skulptur in der zweiten Hälfte des XIV. Jahrhunderts zu besinnen, um die Elemente zu finden, welche die Grundlage der Gewandbehandlung unseres Meisters gebildet haben. Sie ist immer noch nur mit jener Ein- schränkung naturalistisch, welche in allen formalen Darstellungsmitteln der gotischen Kunst festgestellt werden kann. Wenn man alle Motive der mittelalterlichen Gewandbehandlung zu einem Korpus ver- einigen würde, bekäme man geschlossene Entwicklungsreihen, bei welchen der Fortschritt, wie bei allen Formen der mittelalterlichen Kunst, weit mehr in allmählicher Umgestaltung der bestehenden Schablonen besteht als in neuen Erfindungen und die erst durch das neue Gesetz der stets sich erneuernden unmittelbaren Beobachtung ihre kanonische, stil- und formschaffende Bedeutung ver- loren haben. Man müßte die Gewänder, welche der Meister der Anbetung des Lammes gemalt hat, auch noch diesen Reihen anschließen. Die beiden Gruppen in der Anbetung des Lammes sind also ebenso wie die drei heiligen Gestalten der oberen Reihe das Werk eines Malers, dessen Kunst in der Kom- position, in der Raumdarstellung und Perspektive, in den Typen und Formen, stili- stisch und in allen formalen Problemen der spätmittelalterlichen Kun stübung näher- steht als den Prinzipien der Kunst Jans und den Prinzipien, nach welchen andere Teile des Genter Altares erfunden und ausgeführt wurden. Es gab an der apokalyptischen Tafel nichts, was für die Zeitgenossen epochal, neu und für die nächstfolgenden Generationen noch immer bewunderungswürdig gewesen wäre. Das ist wohl der Grund des Ubersehens und des Nichterwähnens der Anbetung des Lammes in allen älteren Berichten. Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 2l3 So besteht die Überraschung darin, daß wir da, wo uns die Unsicherheit aller bisherigen Attri- butionsversuche eine besonders schwierige Stilvergleichung fürchten lielJ, zunächst gleich unter den einzelnen Teilen des Genter Altares eine Verschiedenheit in den entwicklungsgeschichtlichen Grund- lagen der Kunst gefunden haben, welcher sie angehören. Während einzelne Teile des Altares ihrer ganzen Beschaffenheit nach der spätmittelalterlichen Kunst zuzuschreiben sind, offenbaren sich in anderen alle entscheidenden Neuerungen des neuen Stiles. Wie an den Portalen der gotischen Dome die Personifikationen des alten und des neuen Testaments, so stehen sich an dieser Pforte der modernen Kunst des Nordens Denkmäler der alten zurückblickenden, überwundenen und der neuen, zukunfts- frohen und sieghaften Kunst einander gegenüber. Doch ist nicht dadurch die Hubert Jan-Frage bereits entschieden? Es wäre kaum denkbar, daß man ein italienisches Bild, welches alle Merkmale der Malerei des Trecento aufweist, einem Maler des neuen Stiles zuschreiben würde, ebensowenig denkbar als die Zuweisung eines romanischen Baues an einen gotischen Architekten. Nur in der provinzialen Kunst einer zurückgebliebenen Lokalschule können Fälle vorkommen, wo sich das Alte mit dem Neuen so vermischt, daß die Entscheidung nicht auf den ersten Blick getroffen werden kann, ob ein Bild der neuen oder der alten Richtung zuzurechnen sei. Doch bei Werken, die in den Kunstzentren ent- standen sind, in welchen der neue Stil sich entwickelte oder vollinhaltlich angenommen wurde, wird niemand daran zweifeln, daß ein giotteskes Bild einem giottesken Maler, ein Bild, welches im Stile des Quatrocento gemalt ist, einem Maler dieser Zeit zuzuschreiben ist und beides in einer Hand und gleichzeitig oder gar an einem Werke nicht vereinigt werden kann. Sollte es im Norden anders sein? Diese scharfe stilistische Trennung der italienischen Kunstwerke des XIV. und XV. Jahrhunderts verdanken wir vor allem einer literarischen Tradition, die bis in eine Zeit zurückreicht, in der die sich gegenseitig ausschließenden Verschiedenheiten in den malerischen Zielen und Darstellungsmitteln des alten und des neuen Stiles noch als ein bestehender Gegensatz empfunden wurden, und so mußte dieser allgemeine Tatsachenbestand nicht erst ermittelt werden wie in den Niederlanden, wo die Uber- lieferung bald unterbrochen wurde und wo die ältesten Berichte, die wir über die Geschichte der Malerei besitzen, die Kunstströmungen am Anfange des XV. Jahrhunderts nur mehr auf Grund einer archäologisch-geschichtlichen Erfahrung und nach dem Maßstabe der italienischen Kunstentwicklung beurteilen konnten. Doch ist es selbstverständlich, daß sich auch in den Niederlanden die Verhältnisse ähnlich entwickelt haben und daß auch dort ein Maler von der Bedeutung Jans nicht zugleich in dem alten und in dem neuen Stile gemalt haben kann. Die Kluft zwischen dem Alten und Neuen ist im Norden vielleicht noch größer als in Italien und reicht bis zu den Wurzeln des Kunstschaffens. Der neue Stil ist vor allem ein neues Stadium in der Entwicklung der Darstellungsprobleme, von der eine Rückkehr zu der alten Betrachtungs- und Darstellungsweise ebenso unmöglich ist, als man das Ge- sehene ungesehen machen kann. Wäre es aber nicht umgekehrt möglich, daß ein Maler des alten Stils, daß Jan zu einer bestimmten Zeit den neuen Stil — erfunden hätte? Da kommen wir nun wieder in unser Märchenland. Die Wandlung, die sich allgemein vollzogen hat, hätte sich eben auch in Jan vollzogen und in den sechs Jahren, in welchen er an dem Schreine beschäftigt war, hätte er seinen spätmittelalterlichen Stil abgelegt und einen bis zu den letzten Konsequenzen neuen angenommen! So würde sich das Wunder mornentan und ohne Vorbereitungen vor unseren Augen ereignen. Für jene, die an einen solchen übernatürlichen Vorgang glauben sollten (der ja als eine konkrete Fassung des jetzt allgemeinen Wandlungsglaubens betrachtet werden kann), wollen wir noch Eigen- tümlichkeiten der Formengebung an den vier besprochenen Tafeln hervorheben, die nach der Morelli- schen Methode als eine spontane persönliche Signatur des Meisters gelten können und die eine Zu- schreibung an Jan ausschließen. Wir gewinnen dadurch zugleich einen Gegenbeweis für die Richtig- keit unserer Ausführungen. Denn da es ausgeschlossen ist, daß drei Künstler den Altar gemalt hätten, so müßten, falls der ältere Stil als charakteristisch für einen von ihnen betrachtet werden soll, die Teile des Altares, welche diesen älteren Stil aufweisen, auch in den rein individuellen Besonder- heiten der Formendarstellung übereinstimmen und von den Bildern Jans verschieden sein. Es ist leicht, eine Reihe solcher Merkmale anzuführen. 214 Max Dvofäk. Der Mund. Wir haben die naturtreue Zeichnung des Mundes auf den Bildern Jans bereits be- sprochen, der gegenüber jene des Meisters der thronenden Madonna als schematisch bezeichnet werden müßte. Wem die Sprache der Linien allein nicht deutlich genug ist, der beachte es, daß Jan in seinen Bildern das Grübchen bei den Mundwinkeln anzudeuten nie vergessen hat (F"ig. 5, 6, 7, 8). Selbst bei dem kleinsten Köpfchen fehlt es nicht. Bei der thronenden Madonna, die, wie sicher anzunehmen ist, mit dem peinlichsten Fleiße und mit der größten Sorgfalt gemalt wurde, wie auch bei den Figu- ren der beiden Gruppen aus der Anbetung des Lammes stoßen die Linien in den Ecken hart und scharf- kantig aneinander (Fig. 4). Das Kinn. Auch die Zeichnung des Kinnes ist verschieden. Bei der großen Genter Madonna tritt es stark, derb und beinahe knochig hervor und bildet den unteren Abschluß des Kopfes, indem die Abgrenzungslinie des Gesichtes gegen den Hals zu mit seinem Umrisse zu- sammenfällt (Fig. 4). Bei der Maria der Verkündigung und bei allen Frauen- köpfen Jans ist dagegen das Kinn immer fein, zart und fleischig und wird stets innerhalb des unteren Gesichtsovales oft nur mit einem Striche angedeutet (Fig. 5, 6, 7, 8). Auch bei den Männerköpfen ist diese Verschiedenheit die Regel. Wenn auch manche Männer Jans ein stärker hervortretendes Kinn als eine Modelleigentümlichkeit haben, so braucht man doch nur die Köpfe der Heili- gen in der Anbetung des Lammes mit jenen auf den Seitenflügeln zu vergleichen, um sich zu überzeugen, daß dort das Kinn stets den Abschluß des Gesichtes bil- det, hier dagegen von einem selbständig verlaufenden Gesichtsumriß umrahmt wird (Fig. i3, 14, 15). Die Augen. Die grundsätzliche Verschiedenheit in der Gestaltung der Augen zwischen Jan und dem Meister der Anbetung des Lammes besteht, wie wir gehört haben, darin, daß Jan durch eine bis dahin beispiellos treue Erkenntnis und Darstellung aller plastischen und zeichnerischen Relationen der Augenbildung dem Blicke seiner Gestalten den Schein eines momentanen, mit einem be- stimmten seelischen Vorgange übereinstimmenden Sehensaktes bis zur höchsten Illusion zu verleihen wußte, während der Maler der vier Tafeln die Augen seiner Gestalten noch nach einzelnen nur konventionellen, marionettenhaft lebhaften Motiven gestaltet hat, ohne diesen Motiven eine über allgemeine Züge hinaus- gehende anatomische Wahrhaftigkeit, ohne ihnen eine spontane und persönliche Bedeutung geben zu können. Sämtliche Augen auf den vier Tafeln sind einförmig, nach einer Regel, nach einer Handgewohnheit gemalt und diese Regel und Handgewohnheit findet man nirgends an den Werken Jans. Wenn wir in der Zeichnung des Mundes und des Kinnes Eigentümlichkeiten beobachten konnten, welche nur bei Jan vorkommen, so sind umgekehrt die Augen, und zwar in ihrer ganzen, sich stets wiederholenden Zeichnung und Form ein besonders auffallendes Kriterium des älteren Meisters, welches an den Bildern Jans nie nachzuweisen ist und welches ein Künstler unmöglich eines Tages einfach abgelegt haben kann. Wer sich diese merkwürdig kleinen, runden, verschwollenen und blinzelnden Augen einmal genauer angesehen hat, wird sie von allen anderen gleich unterscheiden können (vgl. F"ig. i3, 14 und 15, 16, 18 und 17). Die Ohren. Wie die Augen, so malt der Maler der vier Tafeln auch alle Ohren gleich. Wir hätten schon bei der Besprechung der allgemeinen entwicklungsgeschichtlichen Stellung des Meisters darauf hinweisen können, daß er die Ohren im Gegensatze zu Jan nie in der Verkürzung malt. Ohne Rücksicht auf die Drehung des Kopfes stellt er sie stets in voller face-Ansicht dar, so daß sie als an den Kopf angeklebt oder als frei in der Luft schwebend erscheinen. Es sind ziemlich große breite und oben sich erweiternde Ohren, die durchwegs in derselben Weise ohne nähere Charakteristik gezeichnet sind. Der Ohrenrand ist stark profiliert, setzt sich, das Ohr wie ein Kontur umfassend, auch beim An- sätze der Ohrmuschel an die Wange fort, wo er, falls es der Natur entsprechen sollte (wie es Jan nie anzudeuten vergißt), in einen sich erweiternden und unregelmäßigen Knorpel übergehen müßte, und Fig. ig. Jan van Eyck^ Ausschnitt aus dem Bild- nis des Jodocus Vydts, vom Genter Altar. Berlin, königl. Gemäldegalerie. Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. bildet auf diese Weise eine fast ornamentale Figur. Auch der Knorpel, der die Ohrmuschel ausfüllt, ist stets in derselben Weise gezeichnet, etwa in der Form eines Schraubenschlüssels (Fig. i3, 14, 16). Bei Jan ist das Ohr, wo es nicht genau einem bestimmten Modell nachgezeichnet ist, stets schmäler, läng- licher und gleichmäi3ig breit, der Rand hebt sich nicht so scharf und zusammenhanglos von dem übrigen Teile der Ohrmuschel ab und ist auch nicht so regelmäßig. Wie in der Natur ist er nicht ein beson- ders hervortretender, selbständiger Teil des äußeren Ohres sondern tritt nur in der oberen Partie deut- licher hervor, wogegen er sich unten von der Gesamtform gar nicht abhebt, so daß er auch keine regelmäßige und das ganze Ohr umfassende Figur bildet. Das gilt auch von dem Mittelknorpel. Als eine Eigentümlichkeit Jans wäre noch zu erwähnen, daß er den Knorpel, der beim Ansätze des Ohres an die Wange besteht, stark und der übrigen Ohrform gegenüber als selbständig zu betonen pflegt (Fig. 19). Uberhaupt kommt bei Jan der knorpelige Charakter des Ohres weit mehr zur Geltung als in der mehr umrißhaften Zeichnung des anderen Meisters. Die Hände. Das, was bei allen Kunstwerken vielleicht das Allerpersönlichste ist und was am wenigsten von Schülern und Kopisten' nachgeahmt wird, sind bestimmte unwillkürliche Maßverhält- nisse. Alle Hände, welche Jan gemalt hat, fallen dadurch auf, daß sie merkwürdig klein und zart sind im Vergleiche zu den Figuren. Die rüstigsten Männer haben Hände wie Mädchen oder Kinder. Das geht oft so weit, daß so kleine Hände in der Wirklichkeit gar nicht möglich wären. Diese Eigentüm- lichkeit ist umso bemerkenswerter, als sie im Gegensatze zu den Gewohnheiten der gleichzeitigen Kunst steht, welche in dem Bestreben, naturalistisch zu wirken, die schlanken Hände der älteren gotischen Periode durch grobe und derbknochige Bildungen ersetzt hat. ^ Von den Nachfolgern Jans hat besonders Petrus Kristus ähnlich zierliche Hände zu malen versucht, doch ohne sich in seiner schülerhaften Vorsicht je einen Verstoß gegen die Wahrscheinlichkeit der Maße zuschulden kommen zu lassen und natürlich auch ohne die Meisterschaft Jans auch nur annähernd erreicht zu haben. So kann man die so auffallend kleinen Hände schon an und für sich als ein Merkmal der authentischen Werke Jans betrachten. Sind auch die Hände Jans durchwegs zart und fein, so sind sie doch nicht in den Proportionen einförmig. Wir finden auf seinen Bildern schlanke Frauenhände mit langen zarten Fingern, die an keine Arbeit gewöhnt zu sein scheinen; dann wiederum breite, kräftige und nervige Hände, in welche der Lauf der Jahre oder die Mühen des täglichen Lebens ihre Furchen eingegraben haben; weiche Kinderhände und Hände mit gichtisch verkrümmten Gliedern des Alters, als ob hier mehr als anderswo die Freude an dem neuentdeckten Formenreichtum den Künstler zu immer sich erneuerndem Suchen und Finden angespornt hätte. Gemeinsam ist allen diesen Händen vor allem ein so außerordentlich schönes Ebenmaß der ein- zelnen Teile, wie wir es bei keinem anderen niederländischen Künstler des XV. Jahrhunderls beob- achten können. Selbst an Händen, welche Jan nur mit skizzenhafter Eile angedeutet hat, erfreut uns diese unvergleichliche Proportionierung, die sie von tausenden anderen auf den ersten Blick scheidet und die als eine ebenso gegebene als unübertragbare Gestaltungsnorm eines Genius zu den wichtigsten Kriterien der Kunst Jans gezählt werden muß. Man nehme sich nur die Mühe, daraufhin eine Reihe altniederländischer Bilder anzuschauen. Wir finden wohl des öfteren eine vortreffliche Auffassung der Handbildung oder des Stellungsmotives, aber nie oder nur ausnahmsweise eine so schöne Gesamtform, die mit jeder neuen Aufgabe wechseln würde. Ein Künstler malt stets etwas zu kurze, der andere etwas zu lange Finger; der eine malt die Hand gar zu knochig, der andere knochenlos; und selbst wo wir einmal eine Darstellung finden, an der nichts auszustellen wäre, entdecken wir bald, daß der Maler diese Darstellung bei allen Gelegenheiten wiederholt, unbekümmert, ob sie da angebracht ist oder nicht. Diesen Besonderheiten der Händedarstellung durch einzelne altniederländische Meister (es sind ' Eine scheinbare Ausnahme bilden die Hände des Adam vom Genter Altare. Das Modell Jans mochte besonders große Hände besessen haben. Doch auch da bezeugt die fast zarte Gliederung der Finger die Neigung Jans, die Hände zierlich zu gestalten. Max Dvofäk, in der Regel Verunstaltungen) steht bei Jan van Eyck ein nie versagendes Verständnis für die Mannig- faltigkeit der Aufgaben gegenüber, verbunden mit dem Vermögen, jeder neuen Aufgabe die ihr eigene Harmonie der Verhältnisse abzugewinnen. Unseren Lesern wird es hoffentlich nicht paradox erscheinen, wenn wir behaupten, daß trotz dieser Mannigfaltigkeit alle Hände, welche Jan gemalt hat, auch ihrer Form nach einen bestimmten, gemeinsamen und persönlichen Charakter haben. Es gibt keinen Naturalismus, welcher nicht die Natur durch das Medium der historischen Kunststufe sehen würde, auf der er steht, und der künst- lerischen Individualität, die sich seiner bedient. Und so weisen auch die Hände Jans trotz ihrer Natur- treue einen allen eigenen und eigentümlichen Zug auf, der leichter zu entdecken als in Worte zu fassen ist, der jedoch für jeden, der für dergleichen Dinge ein Auge hat, un- verkennbar sein muß. Es ist, als ob Jan alle Hände, die er gemalt hat, selbst solche, welche sich auf den ersten Blick als genaue Naturstudien erweisen, unbewußt ein wenig idealisiert hätte zu einer Gestalt, von wel- cher uns z. B. die Hände der Madonna aus der Verkündigung des Genter Altares oder die Hand der Madonna des Kanzlers Rolin ein gutes Bei- spiel geben (Fig. 5, 7). Es klingt in diesen schönen Händen noch leise der Typus der gotischen Kunst nach. Wer aber mit dem Formen- inventar der Vorgänger und Zeitgenossen Jans vertraut ist, wird leicht erkennen, wie neu und individuell sie zugleich sind. Es ist ein neuer Typus, der eine neue Schulüberlieferung veranlaßt hat. Charakteristisch für die Hände Jans und seiner Nachahmer ist die schlanke und feine Bildung der Gelenke. Hände, bei welchen der Knochenbau stark und derb hervortritt oder umgekehrt ganz durch Fleischklumpen unkenntlich gemacht wird, würde man auf den Bildern Jans vergeblich suchen. Besonders die Finger sind in der Regel schmal und wohlgebildet; man könnte durch sie daran erinnert werden, daß Jan einen großen Teil seines Lebens an Fürstenhöfen zugebracht hat. Bei vielen Händen Jans wiederholt sich eine auffallende Eigentümlich- keit. Wir können sie z. B. an der linken Hand der Verkündigungs- madonna beobachten oder an den Händen des Rolin (Fig. 5, 20). Es fällt da auf, daß der obere Kontur des Zeigefingers mit dem Kontur des angrenzenden Teiles der Hand eine ganz gerade Linie bildet, die sich über die Wurzel des Daumens bis zum Rande der Hand, dort, wo sie am breitesten ist, hinzieht und zu der die ebenso geraden Umrisse des Daumens im scharfen Winkel stehen. In der Natur sind diese Kon- turen nicht geradelinig sondern machen eine Reihe von Biegungen, der Einschnitt zwischen dem Daumen und der Handfläche zieht sich nie bis zum Rande und die Linien, welche die Handfläche und die Innenseite des Daumens begrenzen, stoßen bei dieser Lage der Hand nicht in einem scharfen Winkel aneinander sondern verlaufen in einer Rundung. Die Hand bekommt durch diese Eigentümlichkeiten, die wahrscheinlich aus dem Bestreben, energische Linien zu schaffen, entstanden sind, in dem Zeigefinger- und Daumenteile eine geradlinige und scharfwinklige Form, die nicht ganz der Natur entspricht oder zum mindesten eine etwas abnormal gebildete Hand voraussetzt und die als ein Kriterium der Werke Jans und seiner Nachahmer be- trachtet werden kann. Die Hände, welche der Maler der vier Tafeln gemalt hat, sind von der Grundform an bis zum letzten Zeichenstriche anders; man kann von ihnen fast in jeder Beziehung das gerade Gegenteil von dem behaupten, was über die Hände Jans gesagt wurde. Waren diese klein und zierlich, so sind jene groß und grob. Waren diese schlank und fein, so sind jene entweder knochig oder klumpig. Waren diese proportioniert, so sind jene mißgestaltet. Die Hände der thronenden Madonna sind weder die Fig. 20. Jan van Eyck, Madonna des Kanzlers Rolin. Louvre (Ausschnitt). Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 217 Hände einer Fürstin noch die der Jugend (Fig. 4). Wohl mochte der Kunstler versucht haben, das Ge- lenk schlanker und schmaler als sonst zu gestalten; doch wie derb ist dagegen der trichterförmig sich er- weiternde Handrücken, zu dessen oberer Breite wiederum die dünnen Finger in argem Widerspruche stehen. Es bestünde kaum ein Hindernis, diese Hände bei jeder anderen beliebigen Gelegenheit zu verwenden, denn sie sind noch mittelalterlich allgemein. Wen würden die Hände des Johannes an einen Anachoreten erinnern? Sie sind nicht einmal gleich! Die Rechte hat kurze, dicke Finger, die in einer formlosen Fleischwulst verschwinden und auf alles eher schließen lassen als auf die Ent- behrungen der Wüste; wogegen die Linke ausgetrocknet und mager ist und mit ihren langen Fingern einem erlöschenden Greise angehören könnte (Fig. g). Es ist kaum der Ansatz zu der feinen Charakte- ristik Jans an diesen Händen vorhanden, an denen wir wiederum demonstrieren könnten, wie groß der Abstand an Wahrheit der Zeichnung und Modellierung, an Sinn für Linienschönheit zwischen diesen Bildern und den Bildern Jans ist. Mag der Meister der drei heiligen Gestalten immerhin noch versucht haben, die Hände der thro- nenden Madonna, des Johannes und des Gott Vater ausführlicher und in einer relativen Verschiedenheit zu gestalten, so malt er die Hände der Heiligen in den beiden Gruppen aus der Anbetung des Lammes der Reihe nach gleich als einen Typus, ohne weitere Abwandlung und Individualisierung (Fig. i3, 14, 16, 18). Es ist ein Typus, der mit jenem der Hände Jans nichts zu schaffen hat sondern der voran- gehenden Kunst angehört und der auch in den individuellen Kennzeichen von den Händen Jans ver- schieden ist. Es sind lange Hände, bei welchen besonders die Finger viel länger sind, als nach der Größe des Handballens zu erwarten wäre. Der Handrücken ist breit und flach und von einer häßli- chen, unnatürlich gerundeten Umrißform. Diese Rundung setzt sich noch in dem Kontur des Daumens fort und auch die Linie, welche vom Zeigefinger zum Daumen führt, biegt sich ihr gemäß, was alles den Gewohnheiten Jans entgegengesetzt ist. Die Finger sind wie gebrochen und sinnlos tiefe Ein- schnitte bezeichnen die Biegungen der Gelenke. Falls dem mit Recht ungeduldigen Leser unser Beweis viel zu ausführlich erscheinen sollte, so bitten wir ihn zu bedenken, daß es sich darum handelt, in einem großen Chaos festen Boden zu ge- winnen, und daß dies nur so geschehen kann, wenn in aller Ausführlichkeit Fragen beantwortet werden, deren Lösung selbstverständlich und überflüssig erscheint, — nachdem sie einmal gelöst wurden. Die stilistischen Unterschiede zwischen einzelnen Teilen des Genter Altares sind in jeder Richtung so groß und unverkennbar, daß man sie auch ohne die Altarinschrift gewiß entdeckt hätte, sobald man die Geschichte der niederländischen Kunst in dieser Periode mehr erforscht hätte, als es bisher der Fall war. Da uns nun ein unanfechtbarer Bericht, der auf die Schöpfer des Altares selbst zurückgeht, darüber Auskunft gibt, daß Jan und Hubert das große Werk geschaffen haben, so bedarf es keines weiteren Nachweises, daß jene Teile, welche nicht von Jan sein können, als ein Werk Huberts zu betrachten sind. Nebst falschen historischen Voraussetzungen und literarischen Phantastereien war ein ganz be- stimmter Grund daran schuld, daß man diesen Sachverhalt bisher nicht erkannt hat. Man hat bisher fast ausnahmslos als eine unzweifelhafte und durch den Andrang der Vermutungen nicht zu er- schütternde Tatsache angenommen, daß die Anbetung des Lammes und die vier dazugehörigen Seiten- tafeln nicht nur inhaltlich und kompositioneil sondern auch stilistisch als das Werk eines Künstlers zusammenhängen. Diese irrtümliche Anschauung mag außer der beiläufigen Ähnlichkeit der Typen, einer Ähnlichkeit, die sich bei genauerem Zusehen in die möglichst große Unähnlichkeit verwandelt, besonders die Gleichheit des landschaftlichen Hintergrundes veranlaßt haben. Nach einer Nachricht des Facius soll Jan van Eyck eine Tafel «mundi comprehensionis» gemalt haben, an der alle Orte und Landschaften zu erkennen waren. Wir wissen nicht, wie diese Tafel aus- gesehen hat, und es wäre zwecklos, darüber Vermutungen aufzustellen. Doch in einem bestimmten XXIV. 3i 2l8 Max Dvorak. Sinne ist die Landschaft, welche sich über den Köpfen der dem heiligen Agnus Dei-Altare zuströmen- den Scharen fortlaufend durch alle fünf Tafeln hinzieht, auch eine comprehensio mundi. Wie durch die Versammlung unten alle Stände und Völker, Lebensalter und Zeiten angedeutet werden sollen, so sollen sich in dem landschaftlichen Panorama dem Beschauer alle Schönheiten der Erde offenbaren und alle Herrlichkeiten der Natur «von der Tiefe bis zum Firmamente». Schneebedeckte Bergketten wechseln mit Tälern, deren Horizont unendlich weit zu liegen scheint, kahle Felsen mit blühenden Gärten, glänzende Städte mit der von Menschen unberührten Wildnis. Es ist von vorneherein wahrscheinlich, daß Jan an den Seitentafeln nicht nur die Figuren sondern auch die Landschaft gemalt hat. Doch wir brauchen uns da nicht mit einer Wahrschein- lichkeit zu begnügen. Unzählige Fäden verknüpfen diese Landschaften mit den authentischen Werken Jans. Sie zerfallen wie auf der Madonna des Kanzlers Rolin in zwei Teile: in den Vordergrund, auf dem jedes Blättchen, jeder Grashalm mit der größten Treue dargestellt erscheint, und in den un- mittelbar daran sich anschließenden Hintergrund, der mit jener erstaunlichen und in dieser Zeit einzig dastehenden Sicherheit und Breite behandelt wird, die wir an den Hintergründen Jans bewundern. Wir finden in diesen Landschaften dieselben Bergformen, Bäume, Blumen, Gräser, Architekturen, die wir aus anderen Bildern Jans kennen, und in derselben Weise, mit derselben unübertrefflichen Sach- lichkeit dargestellt, die gleich bei ihren ersten Versuchen das Höchste erreicht zu haben scheint. Wie die Lichter an die Blätter und an die Archi- tekturen gesetzt werden, wie eine Terrainver- änderung, ein die Wiese durchschneidender Weg oder ein Bau mit einem einzigen breiten Striche angedeutet, wie durch eine flüchtige Silhouette ein Baum, eine Architektur scharf und unver- kennbar charakterisiert wird, daß es ein Japaner nicht besser getan hätte, das alles finden wir in dieser Zeit und in dieser Vollendung nur bei Fig. 23. Jan van Eyck, Die heil. Pilger, vom Genter Altar. ^^"em Künstler und dieser Künstler ist Jan van Berlin, königl. Gemäldegalerie (Ausschnitt). Evck (vgl. Fig. 7, 23, 24). Sind jedoch die Landschaften der vier Seitentafeln von Jan, dann ist auch der obere Teil der Landschaft in der Anbetung des Lammes von ihm. Es wäre töricht zu vermuten, daß ein Künstler, der in perspektivischer und räumlicher Auf- fassung und Darstellung so beschränkt und gebunden war, als es, wie wir gesehen haben, Hubert ge- wesen ist, eine solche Landschaft mit weiten Ausblicken, mit Tiefen, die sich in blauer Ferne ver- lieren, mit Effekten der Luftperspektive, welche die kommende Kunst ahnen lassen, hätte malen sollen, wie sie die Anbetung des Lammes nach oben abschließt. Es wäre etwa so, als wenn man Figuren Alti- chieros mit einer Landschaft Masaccios verbinden wollte, wobei Hubert in seinen Figuren nicht so weit über Altichiero als Jan in seinen Landschaften über Masaccio hinausgekommen ist. Doch kommt diese Möglichkeit auch deshalb schon gar nicht in Betracht, weil die Landschaft in der Anbetung des Lammes, wenigstens ihr oberer Teil, mit den Landschaften der Seitentafeln vollkommen überein- stimmt. Wir finden auf allen fünf Tafeln nicht nur dieselben Berge und Täler, dieselben Architek- turen, dieselbe Vegetation, dieselbe Darstellung des Baumschlages und der Sträucher sondern auch alles das in derselben Weise gemalt; fast für jeden Pinselstrich in der Landschaft der Mitteltafel finden wir ein Gegenstück auf einem der Seitenbilder. Man hat schon oft bemerkt und hervorgehoben, daß die Anbetung des Lammes in zwei Teile zerfällt, die einen verschiedenen Augenpunkt voraussetzen, und es so erklärt, daß sich der Maler dieses Widerspruches noch nicht bewußt gewesen ist oder sich über ihn leicht hinweggesetzt hat. Beides kann man nur mit einer gewissen Einschränkung gelten lassen. Man vergegenwärtige sich nur, wie stark dieser Widerspruch ist. Hinter den beiden großen Gruppen steigt der Boden steil und fast senk- Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 219 recht in die Höhe; die Figuren müßten herunterrutschen, wenn es in der Wirklichkeit so sein sollte. Doch es war gewiß nicht die Absicht des Malers, eine wandsteile Wiese als die Bühne darzustellen, auf welcher sich die heilige Versammlung befindet. Es war ein Hintergrund, wie er in der spätmittelalter- lichen Malerei allgemein gewesen ist und der nicht eine auf- steigende Fläche sondern im Gegenteil den sich vertiefenden Raum vorzustellen hatte. Denn darin besteht in erster Reihe die Entwicklung der spätmittelalterlichen landschaftlichen Per- spektive, daß die ursprünglich wie die Tapetenhintergründe fast ganz nur zweidimensional behandelten Hintergrundsland- schaften schrittweise zu einem sich vertiefenden Räume um- gedeutet werden. Man vermochte noch nicht, eine landschaft- liche Ebene dreidimensional darzustellen; doch man half sich dadurch, daß man dem hinter den Figuren aufsteigenden land- schaftlichen Plane durch einzelne perspektivische Andeutun- gen eine gewisse räumliche Vertiefung gab. Es wird dadurch die Fiktion erweckt, als ob der Maler die Landschaft und die Figuren von einem hohen Augenpunkte aus betrachtet hätte; doch es ist die mittelalterliche Gewohnheit, die einzel- nen Teile der Komposition übereinanderzustellen, welche dieser Anordnung zugrunde liegt, und nicht eine perspek- tivische Erwägung. Man bemühte sich, die Flächenhaftigkeit des landschaftlichen Hintergrundes durch einzelne nach der Tiefe leitende Richtungslinien zu durchbrechen, und erst nach und nach vereinigten sich diese Versuche zu einem einheit- lichen Systeme. Von einem einheitlichen Augenpunkte kann nicht einmal beiläufig die Rede sein, seine Hohe und Distanz verändert sich von einem Motive zum anderen, das Bestreben und die Kunst des Malers besteht eben darin, darüber und über das Fehlen des Horizonts hinwegzutäuschen. Das jäh hinter den zwei Hauptgruppen in der Anbetung des Lammes auf- steigende Gelände ist unmöglich anders zu erklären als in dieser Weise. Es soll die weit und tief sich erstreckende Land- schaft vorstellen, im wesentlichen noch in derselben Weise, wie sie z. B. in den Trecentomalereien im Campo Santo zu Pisa oder auf den Bildern des Broederlam dargestellt wurde. Doch plötzlich geht diese landschaftliche Tapete dort, wo wir sie nach allen Analogien durch einfach im Aufriß ge- zeichnete Berge oder Bäume abgeschlossen erwartet hätten, in eine wirkliche, moderne Landschaft über, in eine Land- schaft, die einen Horizont hat, die von einem einheitlichen Gesichtspunkte gesehen und dargestellt ist, und zwar, was das Merkwürdigste ist, von einem verhältnismäßig niedrigen Gesichtspunkte, mit anderen Worten in eine Landschaft, die Raum und Tiefe hat, und in der das Problem der dreidimen- sionalen Darstellung der Ebene bereits der Hauptsache nach gelöst wurde. Einer gotischen Statue, die einen Q_uatrocentokopf hat, könnte man diesen so merk- würdig zusammengestellten landschaftlichen Hintergrund vergleichen oder einem gotischen Baue, über den sich, wie bei der titanenhaften Schöpfung Brunellescos, eine klassische Kuppel wölbt, ohne daß jedoch mit einem solchen Vergleiche der ganze Zwiespalt zwischen den beiden Teilen der Landschaft 3i* Fig. 24. Jan van Eyck, Madonna des Kanzler Rolin. Louvre (Ausschnitt). 220 Max Dvofäk. des Agnus Dei erschöpft sein würde. Man müßte an eine Statue mit zwei Köpfen denken; denn die Landschaften, die da untereinander verbunden wurden, sind zwei verschiedene Lösungen einer und derselben Aufgabe. Zweimal sollte in einem Bilde das Auge des Beschauers auf verschiedenen Wegen bis zu den Grenzen des menschlichen Sehens geleitet werden. Der Maler, welcher den zweiten, den neueren Weg zu diesem Ziele eingeschlagen hat, war sich dessen wohl bewußt, daß zwischen seinen Zutaten und den unteren Teilen des Bildes ein schroffer Widerspruch besteht. Wir ersehen dies daraus, daß er bestrebt war, der ursprünglichen landschaft- lichen Szenerie des Bildes eine neue Bedeutung zu geben, durch welche die von ihm angefügte Fern- sicht motiviert werden könnte. Das hinter den Figuren des Vordergrundes aufsteigende Terrain ist bis oben hinauf, bis zu der oberen landschaftlichen Ve- dute zu beiden Seiten des Bildes reich mit Sträuchern und Blättern bewachsen, welche so dargestellt sind, als ob sie sich nicht in der Ferne sondern nicht weiter als die Vordergrundsfiguren befinden würden; sie sind in demselben Maßstabe gemalt wie die Figuren der zwei großen vorderen Gruppen und noch weit deutlicher und ausführlicher als diese. Ein Blick auf die Einsiedlertafel oder auf die Madonna des Kanzlers Rolin belehrt uns, daß diese Gebüsche, die sich links und rechts oberhalb der beiden großen Figurengruppen befinden, genau mit den Motiven und der Darstellungsweise Jans überein- stimmen. Die Lilien und die sie umgebenden Blumen und Stauden rechts in der Mitte der Anbetung des Lammes und auf der Terrasse des Louvrebildes scheinen nicht nur von einer Hand sondern auch an einem Tage gemalt zu sein, so sehr gleichen sie sich (vgl. Fig. 7, 17, 24, 25). Dieser paradiesische Garten, der uns in voller Deut- lichkeit an einer Stelle des Bildes erfreut, wo wir nach dem tiefer liegenden Teile des landschaftlichen Pro- spektes schon weite Fernen vermuten würden, diente dazu, die Diskrepanz zwischen den alten und neuen Teilen der Tafel zu verhüllen. Der aufsteigende Plan des landschaftlichen Hintergrundes Huberts sollte nicht mehr als eine Darstellung des sich vertiefenden Raumes angesehen werden, was mit der Landschaftsmalerei Jans nicht mehr vereinbar gewesen wäre, sondern sollte das sein, was er ursprünglich gewesen ist und als was er auch einem im perspektivischen Sehen geschulteren Auge stets erscheinen mußte, ein wirklich im Vordergrunde des Bildes fast senkrecht hinter den Figuren sich emporhebender Abhang. Jan wendet hier ein Motiv an, welches der Kunst seiner Zeit geläufig war und welches er selbst auch bei den Seitentafeln zur Anbetung des Lammes verwendete. Es besteht darin, daß zwischen die Figuren des Vordergrundes und den eigentlichen Hintergrund Kulissen geschoben werden, die raumvertiefend wirken und zugleich den Maler der Schwierigkeit eines Mittelgrundes entheben. So liegt bei den heil. Richtern, bei den Streitern Christi und bei dem Eremiten ein Felsen, bei den Pilgern ein mit hohen Baumgruppen bewachsener Hügel zwischen dem Vorder- und Hintergrunde. Dieselbe Deutung gab nun, wie es scheint, Jan auch den hinter den zwei großen Gruppen in der Anbetung des Lammes sich erhebenden Bodenformationen. Das mit Buschwerk bewachsene steile Gelände sollte sich auch wie eine Kulisse zwischen den Vorder- und Hintergrund schieben, als eine Kulisse, hinter der die Fig. 25. Jan van Eyck, Die Anbetung des Lammes, vom Genter Altar. Gent, St. Bavo (Ausschnitt). Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 22 1 Fig. 26. Hubert und Jan van Eyck, Anbetung des Lammes, vom Genter Altar. Gent, St. Bavo (Aussclinitt). zwei weiteren heil. Gruppen der Bischöfe und Jungfrauen hervorkommen und welchen sich weitere ähnliche hügelartige Kulissen anschließen, die einen allmählichen Übergang von dem im Vordergrunde schräg aufsteigenden Podium zu dem weiten Horizonte vermitteln sollen. Wenn wir die Landschaft in der Anbetung des Lammes in dieser Weise deuten, dann ist sie wenigstens nach dem Maßstäbe der 222 Max Dvofäk. Kunstwerke jener Zeit im ganzen und großen perspektivisch einlieitlich. Allerdings müßte man sich dann auch die beiden großen Heiligengruppen als auf einem steilen Abhänge stehend denken, was eine sonderbare Idee wäre und sicher nicht den Intentionen Huberts entsprochen hätte. Doch das war ein Übel, welches nicht zu umgehen war und welches außerdem den Vorteil bot, daß die in unnatür- licher Weise aufsteigenden KÖpfereihen der heiligen Scharen natürlich erklärt werden konnten. Man schüttle nicht den Kopf über diese Interpretation, die das Gras wachsen zu hören scheint. Doch es ist nur so möglich, die großen stilistischen Widersprüche zu erklären, welche die Komposition des Bildes aufweist und welche an und für sich schon beweisen, daß zwei Maler an diesem Bilde ge- malt haben. Es ist nach den Kunstprinzipien, die uns in beglaubigten Werken Jans entgegentreten, ausgeschlossen, daß er die beiden großen Heiligengruppen erfunden, und umgekehrt ist es ausge- schlossen, daß der Maler, der diese Gruppen komponierte, zugleich auch die ober ihnen befindliche landschaftliche Vedute gemalt hätte. Ein weiterer Beweis für die Richtigkeit unserer Auffassung ist es, daß auch die zwei Scharen der heiligen Bischöfe und der heiligen Jungfrauen, die oben zwischen den Hügeln hervorkommen, nicht von Hubert sondern von Jan sind. Sie sind schon als Gruppen ganz anders komponiert als die untere Versammlung: einerseits weiß der Maler ihnen als geschlossenen Massen die richtige perspektivische Verkürzung zu geben, andererseits erweckt diese Masse nicht mehr den Eindruck einer mehrköpfigen Einheit, bei der für die einzelnen Körper kein Raum wäre; es sind Scharen, die wirklich raumfüllend sind. Wenn wir die einzelnen Figuren betrachten, so finden wir, daß sie in allem mit den Gestalten Jans übereinstimmen und von jenen Huberts verschieden sind. Trotz des kleinen Formats kann man entnehmen, daß es ähnliche Typen sind wie auf den Seitenflügeln und mit ähnlicher Bravour ausge- führt. Bei den Bischöfen kann man den strengen, sinnenden Blick beobachten, der den männlichen Helden Jans eigen ist, bei den Virgines dieselben lieblichen Köpfchen, die wir als das Madonnenideal Jans kennen gelernt haben. Die kleinen zierlichen Hände und die malerisch neue, von mittelalter- lichen Gewohnheiten verschiedene Behandlung der Gewänder sprechen ebenfalls für die Autorschaft Jans, vor allem aber die geniale Sicherheit, mit der diese Gestalten zum Teile fast nur skizzenhaft festgehalten wurden und die mit der statuenhaften Starre und mit der kunstgewerblichen Sorgfalt der Figuren Huberts unvereinbar ist. Auch von den Engeln, welche das Lamm anbeten, dürfte ein Teil von Jan sein (Fig. 26). Die Profilköpfe der zwei ersten in dem rechten Halbkreise stehen den Profilköpfen der unten knienden Apostel so nahe, daß wir sie wohl demselben Meister zuschreiben müssen. Auch die Stellung des Kopfes, der zwischen den Schultern zu versinken scheint, was besonders beim zweiten Engel auffallend ist, die Zeichnung der Haare, die bei weitem nicht so meisterhaft ist wie bei Jan, und der gotische Schwung der Figuren sprechen dafür, daß diese Engel von Hubert gemalt wurden. Dasselbe können wir für den ersten Engel des linken Halbkreises annehmen, bei dem außer den letztgenannten Merkmalen auch noch auf die für Hubert charakteristische Form der Hand hingewiesen werden kann. Diese drei Engel sind gleich groß, obwohl der zweite rechts so weit zurückliegt, daß er unbedingt verkürzt sein müßte wie seine Nachbarn, die unzweifelhaft von Jan sind. Es zeigt sich uns hier wieder der Sprung in der räumlichen Auffassung und perspektivischen Darstellung, der durch das ganze Gemälde geht, es in zwei Teile trennend, von welchen der eine alle Kennzeichen und Eigentümlichkeiten der Kunst Jans aufweist, der andere dagegen ebenso in allen Kriterien stilistisch altertümlicher und von der Kunst Jans verschieden ist. Beweist diese Konkordanz nicht neuerdings die Richtigkeit unserer Vermutung über die Ent- stehung und Zusammensetzung des sonderbaren Bildes? Es gibt noch einen anderen Beweis dafür, der vielleicht besonders einleuchtend ist. Die Schlucht, durch welche die heiligen Bischöfe gekommen sind, ist auf dem einen Abhänge mit Rosengebüsch und mit einem herrlichen Holunderstrauch bewachsen; auf dem anderen Abhänge beginnt ein Hain, der sich weit in die Ferne zieht (Fig. 21, 22). Der Holunderstrauch ist so groß, daß die ganzen Figuren der Bi- schöfe hinter ihm verschwinden; doch die ersten Bäume des Haines sind kleiner als die neben ihnen Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 223 Stehenden Gestalten. Dasselbe können wir auch in der rechten Hälfte des Bildes beobachten. Auch da steht neben den heiligen Jungfrauen ein Wäldchen, dessen Bäume, die an Kinderspielzeug erinnern, den in unmittelbarer Nähe befindlichen Figuren kaum bis zu den Schultern reichen. Es gibt auch an den Bildern Jans Mißverhältnisse in der relativen Größe der Figuren, der landschaftlichen Motive oder Architekturen; doch nie sind sie so auffallend, so mittelalterlich naiv, wie es hier der Fall ist. Nie hat Jan so lächerliche, charakterlose Bäumchen gemalt und so müssen wir sie als ein zufällig oder pietäts- voll bewahrtes Überbleibsel der Landschaft Huberts betrachten. Es sind solche Baumgruppen, wie sie die Trecentomaler auf ihre den Horizont vorspielenden Berge und Felsen zu malen pflegten, und sie beweisen uns, daß die Anbetung des Lammes ursprünglich mit einer solchen Trecentolandschaft aus- gestattet gewesen ist, wie es ja auch nach dem Stile der unteren Teile des Bildes gar nicht anders denkbar war. Es weist also alles darauf hin, daß hier ein Kompromiß vorliegt zwischen dem Nachlasse Huberts und der Vollendung Jans; entweder hat Hubert das Bild nicht zu Ende gemalt oder, was uns wahr- scheinlicher erscheint, Jan hat von der Malerei Huberts nur so viel stehen gelassen, als mit seinem neuen Stile und mit den von ihm in diesem Stile ausgeführten Teilen des großen Werkes halbwegs in Ein- klang gebracht werden konnte. Wir haben bisher die malerische Technik und das Kolorit der analysierten Werke außer acht gelassen. Man ging in den letzten Jahren allen hier einschlägigen Fragen geflissentlich aus dem Wege, so daß man meinen könnte, daß sie entweder bedeutungslos sind oder daß die Akten über sie schon längst geschlossen wären. Es ist aber weder das eine noch das andere der Fall. Als erledigt können wir nur die alten und abgeschmackten kunstgeschichtlichen Bramarbasiaden über die chemischen Ingredienzien der Malerei des Jan van Eyck betrachten, über die vor Jahrzehnten eine quellenmäßige Diskussion geführt wurde, ohne daß man von den technischen Fragen, um welche es sich dabei handelt, auch nur eine Ahnung gehabt hätte. Es ist das Verdienst Bergers, den richtigen Weg für solche Untersuchungen eingeschlagen zu haben, die jedoch für das eigentliche geschichtliche Problem erst in zweiter Reihe in Betracht kommen und es keinesfalls erschöpfend beantworten können. Denn mehr als die Frage nach den Rezepten der neuen Malweise interessiert uns die Frage, wo und wann diese neue Malweise entstanden ist und wie die Kunst durch sie beeinflußt wurde. Das sind Fragen, die weder gleichgültig sind noch befriedigend gelöst wurden. Zweifellos verdanken wir die ältesten Berichte, welche wir über die Bilder Jans besitzen, nicht zuletzt den technischen Qualitäten dieser Bilder. Sie waren anders gemalt als gleichzeitige italienische Gemälde und deshalb schon waren sie den italienischen Berichterstattern erwähnenswert. Es ist gewiß kein Zufall, daß einer der ältesten dieser Berichte aus Umbrien stammt, wo italienische Künstler die neue Technik zuerst zu schätzen und nachzuahmen gelernt haben dürften.' Doch auch dem Laien, der wohl nichts vom malerischen Verfahren verstanden hat, schien nichts an den neuen niederländischen Bildern so bemerkenswert als die stoffliche Treue, mit welcher sie alle Gegenstände wiedergeben, so daß «das Gold dem Golde, der Edelstein dem Edelsteine gleicht» und alles mit einer solchen «Fülle vielgestaltiger Farben dargestellt ist», daß man diese Herrlichkeiten eher «für eine Schöpfung der alles erzeugenden Natur als für ein Werk der menschlichen Hand halten würdet. ^ Was uns antike Autoren über Appelles und Hippeus berichten, findet man in diesem Lobe wieder, das jedoch weder als eine literarische Nachahmung aufzunehmen ist — denn es ent- spricht dem Sachverhalte — noch genau dieselbe Bedeutung hat wie jene Nachrichten aus dem Alter- tume; denn es bezieht sich auf einen anderen Sachverhalt. Die Begründer der neuen niederländischen Malerei haben nicht wie Appelles die Natürlichkeit der Farben oder wie Hippeus die stoffliche Schil- ' Die Chronik des Giovanni Santi. ^ Cyriacus von Ancona. 224 Max Dvofäk. derung der Gegenstände erst in die Malerei eingeführt — ■ beides ist seit der Antike nie melir ganz ver- loren gegangen — sondern sie haben beides zu einer Höhe entwickelt, die auch heute noch Be- wunderung zu erwecken vermag. Und diese neue Skala der koloristischen und stofflichen Realitäten geht zweifellos Hand in Hand mit der neuen malerischen Technik, wie wir es besonders in Italien deutlich verfolgen können. Ob sie aus dieser Technik entsprungen ist oder ob umgekehrt die neue Malweise auf eine in der Entwicklung der Kunst begründete künstlerische Tendenz zurückzuführen ist, durch welche die Entdeckung einer ihr adäquaten Malweise veranlaßt wurde, sind Fragen, die enge mit dem ganzen Probleme der Entdeckung der neuen Malerei zusammenhängen und die wir in diesem Zusammenhange noch zu besprechen haben werden. Wenn wir ein Werk der Trecentomalerei oder auch ein italienisches Quatrocentobild, das in der alten Technik gemalt ist, mit einem Gemälde Jan van Eycks oder seiner Nachfolger vergleichen, werden wir eines zweifachen Unterschiedes gewahr. Der erste besteht darin, daß die Farben ver- schieden sind. Man empfindet diese Verschiedenheit auf den ersten Blick, z. B. wenn man in einer Galerie aus dem Saale der alten Italiener in den Saal der alten Niederländer kommt; es ist, als ob sich unsere Augen von grellrot, blau oder grün bemalten Statuen zu einer blühenden Wiese gewendet hätten. Wie die Gestalten und Formen, sind auch die Farben in der spälmittelalterlichen Malerei kon- ventionell und entsprechen nur ausnahmsweise einer unmittelbaren Beobachtung. Man bevorzugte bestimmte Farbenakkorde, über die man selten hinausging, und begnügte sich stets mit denselben koloristischen Effekten, als ob es in der Welt nur diese Farbenzusammenstellungen gäbe. Ebenso war man in der Nuancierung der einzelnen Farben eingeschränkt. Man malte einen Baum grün, eine Architektur grau, den nackten Körper fleischfarben, ein Gewand rot oder blau; doch es war stets das- selbe Grün, Grau, Fleischfarben, Rot oder Blau, nach einem bestimmten traditionellen Rezepte gemischt und aufgetragen. «Wie ein Mantel unserer lieben Frau mit Azzuro della Magna oder Ultramarin zu machen ist», heißt es in den Malerbüchern, oder «wenn du ein Gebirge darstellen willst, so mache eine Farbe aus einem Teile Schwarz und zwei Teilen Ocker», und diese Vorschriften gehen zweifellos auf die tatsächliche Kunstübung zurück. So war das Kolorit trotz der beiläufigen Ubereinstimmung mit den natürlichen lokalen Farben der Gegenstände immer noch eine abstrakte Schönmalerei. Und wie die Auswahl und Zusammenstellung der Farbentöne, so wurde auch ihre malerische Behandlung und Verwertung durch allgemeine Schablonen bestimmt, bei welchen jedes Eingehen auf subtilere Aufgaben ausgeschlossen blieb. Nicht nur ihrer Buntfarbigkeit sondern auch der Art nach, wie die Farben malerisch ange- wendet werden, erinnern die Werke der alten Malweise an bemalte Skulpturen. Die Farbe war bei diesen Werken nicht ein selbständiges form- und reliefschafTendes malerisches Element sondern nur ein Gewand, welches die abstrakt und farblos überlieferten und erfundenen Formen bedeckte und welches man sich auch wegdenken kann, ohne daß das Bild an seinem plastischen Gehalt und malerischen Formen- reichtum etwas verlieren würde. Der Unterschied zwischen einer nur in Schwarz und Weiß durch- modellierlen Zeichnung und einem mit vollem Farbenaufwande ausgeführten Gemälde des alten Stiles besteht nur in der Farbenzugabe. Die Maler dieses Stiles modellierten mit dem Pinsel nicht wesentlich anders als mit dem Zeichenstifte, indem sie bestrebt waren, ähnlich, wie es heute bei elementaren Schulaufgaben gemacht wird, durch ein allmähliches und gleichmäßiges «Schattieren», durch ein lang- sames Aufhellen und Verdunkeln desselben Farbentones die Rundungen der Körper anzudeuten. Die Veränderung der lokalen Farben durch die Beleuchtung war ihnen unbekannt und fast ebenso unbe- kannt die Abhängigkeit der Farbennuance von der stofflichen Beschaffenheit des Gegenstandes, welcher dargestellt werden sollte. Jeder Stoff ist einfach rot oder blau oder braun und seine substantielle Eigen- tümlichkeit wird uns nur da klargemacht, wo diese beiläufige Farbenangabe genügt, sie zu charakteri- sieren. Auch in dieser Beziehung schauen die Figuren des alten Stiles so aus, als wären sie aus Holz geschnitzt oder in Gips gegossen. Es fehlt ihnen die Nachahmung der materiellen Mannigfaltigkeit, durch welche die moderne Malerei so unerschöpflich reich geworden ist. Das alles gilt für die Werke Jans nicht mehr. Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 225 Wohl ist sein Kolorit ebensowenig vollkommen naturalistisch als die Buntfarbigkeit der Maler der alten Richtung; denn auch er malt nicht die Farben wahllos, so wie sie ein bestimmter Natur- ausschnitt bietet, sondern komponiert wie die Szenen auch die Farbenzusammenstellungen, um sie möglichst prächtig und glänzend zu gestalten. Vergleicht man aber die neuen Farbenharmonien mit den alten, so könnte es uns scheinen, als ob sich damals plötzlich die Augen der Maler für die ganze Farbenherrlichkeit der Welt geöffnet hätten; so unendlich vieltönig ist im Vergleiche zu den alten Farbenrezepten die Palette des neuen Stiles. Auch in der Farbengebung wurde in der neuen Malerei ein alter Kanon durch subjektive Entdeckungen und Beobachtungen ersetzt, deren Fülle man beinahe für unbegrenzt halten könnte. Denn wenn sich die Maler der neuen Richtung auch noch bei der Wahl der Farben von bestimmten Prinzipien leiten ließen dort, wo nach den kompositionellen Grundlagen ihrer Bilder eine Wahl möglich war, so waren sie doch bestrebt, dort, wo durch den Gegenstand eine Willkür ausgeschlossen war, auch in der Anwendung der gewählten Farben im Gegensatze zu ihren Vorgängern mehr als eine beiläufige farbige Ähnlichkeit zu erreichen, sich treu an die Wirklichkeit zu halten und womöglich die volle Skala der natürlichen Variationen der Farbe darzustellen. Es wurden nie früher und nie später so viel neue Farbenwerte entdeckt wie in dieser Ubergangszeit. Schon diese Erschließung des natürlichen Farbenreichtums brachte es mit sich, daß nun die stoff- liche Beschaffenheit der dargestellten Gegenstände viel treuer geschildert wurde als in der voran- gehenden Malerei. Zudem wußten die Maler des neuen Stiles die durch das Material des Gegenstandes bestimmten Farbenabwandlungen zu beobachten und darzustellen. Statt des charakterlosen Blau, Rot, Grün, mit welchem die älteren Maler ihre Figuren zu bekleiden pflegten, finden wir an den Bildern der neuen Richtung nebst tiefen, satten, mattgebrochenen Tönen schwerer Seidenstoffe die zartesten Farben- nuancen einer spinnwebenartigen Leinwand, nebst den weichen und glänzenden Farbabwandlungen eines kostbaren Pelzwerkes die erdigen Tinten des Alltaggewandes, nebst den Halbtönen des Tuches den farbigen Regenbogen der Edelsteine. Die Metalle sind nicht mehr nur golden oder silbern sondern erstrahlen wie in der Natur in einem reichen Farbenspiele; Jede Blüte, jeder Grashalm, jeder Stein hat die ihm zukommende Farbenabstimmung und der menschliche Körper ist nicht mehr nur einfach «fleischfarben» sondern bietet dem Maler Gelegenheit, seine Meisterschaft und Beobachtungsgabe durch eine fast gar nicht endende Farbentonfolge zu beweisen. Doch noch unvergleichlich wichtiger und für die Geschichte der Malerei bedeutsamer als diese grol3e Bereicherung des Kolorits war eine andere Neuerung in der Farbengebung, die wir an den Werken Jans und seiner Schule beobachten können und durch die jene neue Quelle der malerischen Illusion erschlossen wurde, aus der in der Folgezeit fast alle Errungenschaften in der Entwicklung der malerischen Probleme geflossen sind, so daß man ihre Entdeckung als den eigentlichen Ursprung der modernen Malerei bezeichnen könnte. Zum erstenmale nach einer fast tausendjährigen Unterbrechung haben nämlich die Maler der neuen niederländischen Schule die Beobachtung gemacht, daß eine be- stimmte lokale Farbe in der Natur nicht immer gleich sein muß sondern durch die Beleuchtung, durch die Farbe ihrer Umgebung und durch die räumliche Stellung bestimmt wird, in der sie sich dem Auge gegenüber befindet. In dem Metalle der Rüstungen, welche Jan gemalt hat, spiegelt sich Rot und Blau, tiefe Schatten verdunkeln flächenweise ganz die Farbe der Gewänder, ebenso wie sie umgekehrt das grelle Licht ganz entfärben kann. Helle Reflexe beleben die Gewänder und wechseln ab mit toten, unbestimmten Halbtönen, weiße Glanzlichter huschen über die nackten Körperteile. Auf dem Apfel, der auf dem Gesimse liegt, zittern die Sonnenstrahlen, in der Tiefe des Gemaches verwischt die Däm- merung die Farben. Die grünen und braunen Berge werden in der Ferne blau und die roten Häuser- dächer leuchten am Horizonte auf, als wenn sie von Silber wären. Die weittragende und revolutionäre Bedeutung dieser Beobachtungen besteht darin, daß an Stelle der abstrakten und doktrinären, von der momentanen Beleuchtung und Farbe absehenden Model- lierung eine andere in die Malerei eingeführt wurde, die von den Relationen zwischen der Farbe, der Beleuchtung und der räumlichen Stellung der dargestellten Gegenstände ausgeht. Bei den Bildern Jans ist die Farbe nicht mehr eine Zutat, welche man auch weglassen könnte, ohne daß sich der XXIV. 32 226 Max Dvofäk. formale Inhalt der Darstellung verändern würde. Auf den ersten Blick offenbart sich diese Revolution darin, daß die glatten, färbig eintönigen, wie gedrechselten allmählichen Rundungen und Vertiefungen der Modellierung verschwinden und durch eine Modellierung ersetzt werden, die mit verschieden be- leuchteten Flächen, mit Kontrasten in Hell und Dunkel, mit scharf aufgesetzten Lichtern und mit un- endlichen durch Raum und Licht bedingten Modifikationen der Farbe arbeitet. Das ist die neue Disciplina Fiandra, die von den Italienern immer wieder von neuem bewundert und nachgeahmt wurde und die es den Niederländern ermöglichte, in jener Zeit der großen Entdeckungen eine der größten zu machen, nämlich die ganze alte Welt neu zu entdecken. Und auch dieses «raro e bellissimo secreto» der neuen Malerei schiebt sich zwischen die beglaubigten Werke Jans und jene Teile des Genter Altares, welche wir als das Werk Huberts bestimmt haben. Der Maler der thronenden Majestas und der um das heilige Lammesopfer vereinigten Seligen bemüht sich zwar auch, die Modellierung weicher und malerischer zu gestalten, als es seine Vorgänger im Trecento getan haben, doch ohne die alte Art der farbigen Darstellung, der räumlichen und plastischen Er- scheinung auch nur stellenweise zu durchbrechen, geschweige denn sie ganz aufzugeben. Doch auch in der Farbenauswahl und in der Darstellung der sachlichen Eigentümlichkeiten der Gegenstände steht er dem alten Stile näher als dem neuen. Das Gewand des Weltbeherrschers ist von demselben grellen Rot, der Mantel der Madonna von demselben tiefen Blau, der Mantel des Johannes von demselben satten Grün, mit dem ein jeder spät- mittelalterlicher Maler diese Gestalten ausgestattet hätte. Es ist dies die beliebteste Farbenzusammen- stellung der Malerei des Trecento, in denselben Farbennuancen durchgeführt, wie es jene getan hätte. Bei Jan van Eyck finden wir nie mehr diesen herkömmlichen Dreifarbenakkord. Sein Kolorit eman- zipierte sich schon in den ersten Werken, die wir von ihm kennen, und auch in den Teilen des Genter Altares, welche wir ihm zuschreiben müssen, von solchen mittelalterlich primitiven Zusammen- stellungen, die er zu meiden scheint, wie unsere Maler den alten akademischen Farbeneffekten aus dem Wege gehen. Und selbst wenn wir annehmen könnten, daß bei den drei heiligen Gestalten eine ikono- graphische Tradition stärker war als sein Farbensinn, bei den zwei Gruppen in der Anbetung des Lammes kann diese Erklärung nicht in Betracht gezogen werden. Aber da gibt es auch keine Farbe, die nicht zu den Alltäglichkeiten des spätmittelalterlichen Kolorits gehören würde. Das Rot, Grün, Violett der Gewänder dieser Figuren ist noch so grell und schablonenhaft allgemein wie bei den Tafel- bildern des alten Stiles, an die auch das hektische Rot auf den Wangen erinnert, welches sich als eine ständige Formel bei allen Köpfen, jungen und alten, wiederholt, oder das giftige Grün, mit welchem die Wiese gemalt ist, auf der die beiden Gruppen stehen. Das konventionelle lebhaft und unver- mittelt bunte Kolorit der Trecentobilder ist der unverkennbare Ausgangspunkt dieser Farbenmalerei. Es ist das alte Kolorit, nicht das neue Jans. Die der Natur abgesehene Mannigfaltigkeit und das neue Prinzip der Farbenauswahl sind ihm fremd, nicht minder die Ausführlichkeit, mit welcher von Jan und den Malern seiner Richtung die Farbe eines jeden Gegenstandes spezifiziert wird. Das ist nicht so zu verstehen, als ob jede Andeutung der materiellen Erscheinung fehlen würde. Wir können wohl erkennen, daß das Untergewand des Täufers aus Fellen besteht und daß die Krone der Madonna golden ist. Doch die jeden Zweifel ausschließende Andeutung der Sachlichkeit be- schränkt sich noch immer wie in der mittelalterlichen Kunst auf auffallende und illustrativ wich- tige Gegenstände, sie bildet noch nicht wie für die Kunst Jans die unumgängliche Voraussetzung jeder malerischen Darstellung. Noch ist es unmöglich zu entscheiden, aus welchen Stoffen die Ge- wänder des thronenden Gottes, der Madonna oder der Märtyrer und Bekenner in der Anbetung des Lammes sind. Die kostbaren Kleider der Orientalen oder der Kirchenfürsten haben denselben nicht näher bestimmbaren «steinernen» Charakter wie die schlichten Mäntel der Apostel. Es unterscheidet sie nur der Schnitt und die Zierate. Noch fehlt die Naturwiederholung, wo sie für die gegenständ- liche Eigentümlichkeit, für die Novelle der Darstellung gleichgültig ist. Der Teppich hinter dem Gott Vater und der Madonna ist nicht die Nachbildung eines wirklichen Teppichs sondern ein ge- musterter Hintergrund mit plastischen Goldornamenten, wie er in der mittelalterlichen Malerei an- Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. gewendet wurde und bei dem wir ohne die späteren Analogien schwer erraten könnten, was er vorzu- stellen hat. Da aber der Maler dieser Teile des Genter Altares, wie in den Formen, so auch in den Farben in bezug auf Naturtreue nicht über einzelne allgemeine Errungenschaften hinausgeht und noch weit da- von entfernt ist, jeder neuen Aufgabe eine besondere Naturbeobachtung zugrunde zu legen, waren ihm auch die Neuerungen in der malerischen Verwertung der Farbe unbekannt, welche in der neuen Malerei als die herrlichste Frucht des konsequenten Naturalismus von den Zeitgenossen bewundert wurden und welche die Probleme der Malerei von Grund aus geändert haben. Die Farbe folgt treu den glatten mittelalterlichen Rundungen des Faltenwurfes oder der traditionellen Modellierung der Körperformen, eintönig und abstrakt, ohne der in der Zusammenfassung verschiedener Natureindrucke zu einer konstruierten Form bestehenden Darstellung der plastischen Erscheinung gegenüber eine selbständige, formenschaffende Rolle zu spielen, in einem Flusse, ohne in beschattete und belichtete Flächen zu zerfallen, ohne scharfe Kontraste, ohne Reflexe und Spiegelungen und bei den vier Engeln, die weiter in der Tiefe vor dem Altare knien, ebenso hell, lebhaft und klar wie bei den Figuren, die im äußersten Vordergrunde stehen, so daß es unzweifelhaft ist, daß die Kunst des Malers dieser Ge- stalten noch nicht von der «bellissima invenzione» des neuen Stiles berührt wurde. Diese Eigentümlichkeiten des Kolorits und der Farbengebung beschränken sich genau auf Jene Teile des Genter Altares, die wir früher als das Werk Huberts bezeichnet haben, und zeigen uns auf diese Weise, dem ungeübten Auge vielleicht erkenntlicher als andere Stilmerkmale, noch einmal den Weg, welchen uns die Formenbetrachtung eröffnet hat. Objektiv faßbarer und nachweisbarer, als es bei manchen anderen Zuschreibungen der Fall ist, ergibt sich als das übereinstimmende Resultat der von verschiedenen Gesichtspunkten ausgehenden Untersuchung eine die Richtigkeit der inschriftlichen Nachricht bekräftigende Teilung des Altarwerkes unter zwei Künstler. Die drei großen heiligen Gestalten der oberen Reihe und die untere Hälfte der An- betung des Lammes können nach allen entwicklungsgeschichtlichen und stilistischen Merkmalen nicht von Jan sein und müssen als das Werk Huberts betrachtet werden. Alle übrigen Teile des epochalen Denkmales bezeugen einheitlich Jans Stil und Hand; Unterschiede, die man unter ihnen zu bemerken glaubte, sind, falls sie wirklich bestehen, weder so gewichtig noch so prinzipiell, daß man sie nicht in dem Stile eines Meisters vereinigen könnte. Auch Widersprüche äußerer Natur, wie Verschiedenheiten des Maßstabes zwischen den Figuren der einzelnen Bilder oder ein nicht genaues An- einanderpassen von Tafeln, die eine zusammenhängende Szenerie darstellen sollen, können die stili- stische Übereinstimmung nicht entkräften. Mit Recht hat Voll bereits darauf hingewiesen, daß Widersprüche dieser Art im späten Mittelalter auch bei Werken oft gefunden werden können, die un- zweifelhaft von einem Künstler geschaffen wurden; es hängt dies mit dem ganzen Charakter der spätmittelalterlichen Kunst zusammen, die bestrebt gewesen ist, das Einzelne genau darzustellen, an Fehlern oder Unwahrscheinlichkeiten in der Darstellung des räumlichen Zusammenhanges in einem mehrteiligen Kunstwerke dagegen sich in keiner Weise gestoßen hat. Sollte sich der Leser die Mühe nehmen, die übrigen Bilder des Genter Altares, etwa in den großen Braunschen Photographien, auf ihren Stil zu untersuchen, so wird er Tafel für Tafel, Figur für Figur jene Kennzeichen finden, die wir als Eigentümlichkeiten der Kunst Jans hervorgehoben haben. Vergeblich würde man jedoch jene Merkmale an allen übrigen Teilen des Schreines suchen, die wir als charakteristisch für den Stil Huberts nachgewiesen haben. Damit ist aber auch alles erschöpft, was an Kunstwerken auf Grund einer unzweifelhaften und unzweideutigen urkundlichen Nachricht für Hubert in Anspruch genommen werden darf. Denn außer der Inschrift des Genter Altares gibt es keine seine Werke betreffende dokumentarische Uberlieferung, die mit Berechtigung auf ein erhaltenes Kunstdenkmal bezogen werden könnte. Anderweitige Bilder Huberts könnten also, falls sich solche erhalten haben, nur durch eine stil- kritische Bestimmung nachgewiesen werden. Wir haben bereits gehört, wie viele Bilder man für Werke Huberts erklärte. Die Listen Seecks und Weales, die wir zitierten, sind jedoch keinesfalls noch 32* 228 Max Dvorak. erschöpfend; in älteren Schriften über die Geschichte der altniederländischen Malerei gibt es noch eine Anzahl anderer vermeintlicher Bilder Huberts. Doch da die meisten dieser Bestimmungen wieder auf- gegeben wurden, können wir sie ganz außer acht lassen und beschränken uns darauf, uns nur mit sol- chen zu beschäftigen, welche auch heute noch von ernst zu nehmender Seite und in ernst zu nehmen- der Weise beibehalten oder neu aufgestellt wurden und allgemeinere Zustimmung gefunden haben. Es sind dies folgende Bilder: 1. Die Kreuzigung und das jüngste Gericht in Petersburg. 2. Die Kreuzigung in Berlin. 3. Die Marien am Grabe im Besitze des Mr. Cook. 4. Der heil. Franziskus in Turin. 5. Die Madonna mit dem Kartäuser in der Sammlung Rothschild in Paris. 6. Die Madonna mit dem Kartäuser in Berlin. 7. Der Lebensbrunnen in Madrid. Anderweitige Zuweisungen von Bildern an Hubert, die außerdem noch hie und da in der letzten Zeit verfochten wurden, bedürfen kaum einer Untersuchung. Bei den oben angeführten Bildern könnte uns aber die vielfache Zustimmung, die ihre Benennung gefunden hat, zum Glauben verleiten, daß es sich um Bestimmungen handelt, die als der sichere abgeklärte Rest aus der Flut der Meinungs- verschiedenheiten in unserer Frage übrig geblieben sind. Wir haben bereits gehört, auf wie schwachen Gründen sie bei Seeck und Weale beruhen, von welchen sie aufs eifrigste verteidigt wurden. Bei dem einen stützte sich der Beweis auf grobe Irrtümer, bei dem anderen hing er in der Luft. Dennoch könnte das eine oder das andere von diesen Bildern ein Werk des Hubert sein. Erst nachdem wir sichere Kriterien seines Stiles bestimmt haben, kann diese Frage wieder in Erwägung gezogen werden. Nun genügt es aber, sich diese Kriterien in Erinnerung zu bringen, um die Frage zu ent- scheiden. Als einen allgemeinen entwicklungsgeschichtlichen Unterschied zwischen den Werken Huberts und Jans haben wir eine verschiedene Auffassung und Bewältigung der naturalistischen for- malen Darstellungsprobleme nachgewiesen, also einen verschiedenen Stil im prägnantesten Sinne des Wortes. Bei Jan trat uns der neue Stil bereits mit allen seinen wichtigen Problemen und Lösungen entgegen und, wenn wir auch nicht ohneweiters behaupten können, daß dieser Stil von Jan in die Kunst eingeführt wurde, so können wir doch als erwiesen betrachten, daß er der Kunst Huberts noch nicht, wenigstens nicht in dieser Reife und Entfaltung zugrunde lag. Denn die Bilder, die Hubert für Jodocus Vydts ausgeführt hat, waren sein letztes Werk und diese weisen noch einen älteren Stil auf, einen Stil, der sich zu jenem Jans so verhält wie überhaupt die Kunst des Trecento zu der Kunst des Quattrocento. Doch alle die genannten Bilder, die man für Huberts Werk erklärte, sind bereits in dem neuen Stile erfunden und durchgeführt und können also unmöglich als Huberts Arbeiten be- trachtet werden. Bei allen ist bereits die trecenteske Art der Formenwiedergabe, der landschaftlichen Darstellung, der Perspektive, des Kolorits und der Licht- und Schattenwiedergabe mehr oder weniger überwunden, alle gehen von jenen Voraussetzungen und Bestrebungen aus, die wir als die Grundlage des neuen Stiles bei Jan festgestellt haben. Einzelne Archaismen oder Ungeschicklichkeiten, die ihnen anhaften, können dieser in ihrer Gesamtheit neuen Auffassung der malerischen Aufgabe und der Formendarstellung gegenüber nicht in die Wagschale fallen. Auch in den schulmäßigen Gewohn- heiten und Eigentümlichkeiten sind sie von jenem Stile abhängig, den die Werke Jans aufweisen und den wir bei den Bildern Huberts noch nicht gefunden haben. Man kann sie deshalb ebensowenig für Werke Huberts ansehen, als man eine Skulptur im Stile Donatellos für ein Denkmal des XIV. oder ein Gemälde im Stile Tizians für ein Denkmal des XV. Jahrhunderts ansehen kann. Wir könnten uns wohl mit der Feststellung dieses Sachverhaltes begnügen. Damit jedoch jeder Zweifel behoben werde, sei hier versucht, die fraglichen Bilder einzeln stilistisch näher zu bestimmen. I., 2. Die Kreuzigung und das jüngste Gericht in Petersburg, die Kreuzigung in Berlin. Wir wollen diese drei Tafeln zusammen betrachten, weil sie nicht nur aus beiläufig der- Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. selben Zeit stammen sondern auch unzweifelhaft das Werk eines Malers sind. Voll hat beides be- stritten, wir werden sehen, wie mit Unrecht. Wenden wir uns zunächst zu den Tafeln in Peters- burg (Taf. XXII). Daß man die fundamentale Bedeutung dieser Bilder für die spätmittelalterliche und neuzeitliche Kunst noch nicht allgemein anerkannte und daß man sie im Gegenteil für bedeutungslose und un- interessante Schöpfungen irgend eines unbekannten Malers erklären konnte, ist wohl der eklatanteste Beweis, wie schlecht es noch immer mit der Kenntnis der am Ausgange des Mittelalters nördlich der Alpen sich vollziehenden Kunstentwicklung bestellt ist. Man hätte sonst nie zweifeln können, daß es Monumente sind, die auf der Schwelle zwischen der alten und der neuen Kunst stehen und die schon dadurch einen ganz außergewöhnlichen Wert für die Geschichte der Kunst besitzen. Man hätte dann aber auch ihre nicht minder außergewönlichen künstlerischen Qualitäten nie in dem Maße verkennen können, wie es tatsächlich geschehen ist. Werturteile, welche der richtigen Beurteilung von Kunstwerken einer vergangenen Kunstperiode im Wege stehen, gehen nicht immer nur auf die jeweiligen Kunstströmungen jener Zeit und Gesell- schaft zurück, die dieses Urteil gefällt hat, wie es in so geistreicher Weise Wickhoff an den Schicksalen der Liller Büste dargelegt hat. Sehr oft wird auch der Maßstab, den man an Werke einer Ära der Kunst anlegt, die man besser kennt, unbedenklich auf eine Zeit übertragen, in der man weniger gut Bescheid weiß, was etwa so ist, als wenn man die Vorzüge Shakespeares bei Dante, die Errungenschaften Dantes bei Valafrid Strabo suchen würde. Ahnlich verhält es sich auch mit den beiden Tafeln in Petersburg, welchen Voll eine Uberfülle des Stoffes, eine unübersichtliche Anordnung der Komposition und geringe Tiefe der Landschaft zum Vorwurfe macht. Man wird dies gewiß einmal, wenn man über die Geschichte der spätmittelalterlichen Kunst im Norden so unterrichtet sein wird, ebenso unverständlich und komisch finden wie heute die Verdammung Giottos durch Rumohr. Alle Bedenken, die gegen die künstlerische Bedeutung der Petersburger Bilder erhoben wurden, gehen von Werten aus, die erst durch den ge- reiften Stil Jans und seiner Schule zur Entfaltung gebracht wurden. Umgekehrt wurden nach diesen Werten auch die Vorzüge bemessen, welche andere Forscher den Tafeln zugesprochen haben. Es ist jedoch unzweifelhaft, daß die Bilder nicht in der Zeit entstanden sind, aus welcher man die Belege für ihre angeblichen Mängel oder Vorzüge geholt hatte. Die Kreuzigung gehört zu jenen figurenreichen Kalvariendarstellungen, die in der Trecentokunst so beliebt gewesen sind. Die gleichzeitige Erbauungsliteratur schildert in langen Beschreibungen alles, was sich während des Todeskampfes des Heilands ereignete, und diese Schilderungen wurden auch gemalt. Auch das jüngste Gericht erinnert noch an die epischen Erfindungen der giottesken Malerei. Beide Bilder schließen sich spätmittelalterlichen konventionellen Kompositionen an. Ahnliche Dar- stellungen der Kreuzigung finden wir leicht und oft überall in der Malerei des XIV. Jahrhunderts; doch auch für das jüngste Gericht gibt es Vorbilder in älteren ähnlichen Erfindungen. So enthält z. B. ein Missale im Domschatze von Barcelona, welches um die Wende des XIV. und XV. Jahrhunderts entstanden ist, eine große Miniatur, die in der Komposition fast ganz genau mit dem Petersburger Bilde übereinstimmt.^ In dem Kodex Nr. 11.041 der Brüsseler Bibliothek, welcher die somme le Roi enthält und im Jahre 1415 geschrieben wurde, finden wir auf S. 36i ebenfalls eine im wesentlichen ganz ähnliche Darstellung des jüngsten Gerichtes. Diese Beispiele ließen sich zweifellos noch ver- mehren; doch schon die angeführten dürften in ausreichender Weise den Kreis andeuten, zu dem die Darstellungen der Petersburger Bilder zu zählen sind. Es sind die Erfindungen der Trecentomalerei, die uns in diesen Bildern in einer der Hauptsache nach noch unveränderten Form entgegentreten. Das würde wenig bedeuten in Deutschland, wo sich giotteske Kompositionen vielfach bis in die zweite Hälfte des XV. Jahrhunderts erhalten haben. Doch in den Niederlanden ist diese Art der malerischen Erfindung, die noch den illustrativen Charakter der mittelalterlichen Malerei hat und in ' Die Miniatur ist abgebildet in dem Werke: L'Espagne artistique, archeologique, monumental, Barcelona, s. a., Taf. A XIII. 23o Max Dvofäk. einem Bilde soviel Figuren, Begebenheiten und dramatische Szenen bieten will, als nur möglich ist, an und für sich ein terminus ad quem, der es nicht erlaubt, die Datierung dieser Bilder viel über das zweite und dritte Dezennium des Quattrocento hinaus anzusetzen. Nachdem das neue naturalistische Prinzip, welches ein mehr oder weniger genaues Studium jeder Figur voraussetzte und auf die Ein- haltung einer räumlichen Einheit bedacht war, in den Werken des Jan van Eyck und seiner Zeit- genossen den Sieg errungen hat, verschwinden diese Bilderkompositionen aus der Malerei. Man würde sich vergeblich bemühen, eine ähnliche Erfindung in den Dreißiger- oder Vierzigerjahren in der niederländischen Malerei nachzuweisen. Die Kreuzklagen und Kreuzigungen dieser Zeit sind entweder figural einfache Kompositionen, die die Meisterschaft des Künstlers in der Darstellung der Formen zeigen sollen, oder landschaftliche Szenerien, in welchen die Probleme der Raumdarstellung im Vordergrunde stehen und die Erfindung der Figuren beeinflussen. Und wie die Komposition des jüngsten Gerichtes, die als eine Zusammenstellung von Bosch und einem der Pisaner Campo Santo- Maler erscheint und in der sich die Phantasie des gotischen Kathedralenschmuckes und die sentimentale Berichterstattung der spätgiottesken Malerei die Hand reichen, bereits im Jahre 1442 auch bei einem so unselbständigen Künstler, wie es Petrus Kristus ist, unter dem Einflüsse der neuen naturalistischen Berichterstattung zu einem mageren Skelette zusammenschrumpfte, können wir an dem Berliner Bilde des genannten Meisters beobachten (Fig. 3). Schon aus diesen Gründen kann es sich bei den Petersburger Tafeln nicht um eine Nachahmung der Werke Jans handeln. Denn alle Nachahmungen seiner Werke, die wir kennen, gehen von dem Stile der Bilder aus, die nach dem Genter Altare entstanden sind und in welchen Jan schon überall den neuen Stil auch mit der neuen Kompositionsweise verbindet. Auch die Kostüme schliei3en, wie schon von Bode hervorgehoben wurde, eine über das erste Viertel des Jahrhunderts hinausgehende Entstehung aus. Wenn sich auch die Trachtenkunde zumeist zu einem circulus vitiosus gestaltet, indem man Trachten nach Monumenten zeitlich bestimmt, deren Entstehungszeit selbst nicht sicher ist, so kann man doch, besonders wenn man viele Handschriften- illustrationen angesehen hat, über die Reihenfolge der wirklichen oder in der Malerei angewendeten Trachteneigentümlichkeiten nicht im Zweifel sein. Solche Kostüme wie in den beiden Bildern finden wir weder in den Handschriften Philipps des Guten, wo sie doch zu finden sein müßten, wenn das Werk um die Mitte des Jahrhunderts entstanden wäre, noch in den Bildern des Petrus Kristus, des Meisters von Flemalle, des Ouvater oder Dirick Bouts, sondern in Miniaturen oder Tapisserien, die zeitlich und stilistisch etwa dem Brevier des Herzogs von Bedford nahe stehen, welches in den Jahren 1422 — 1424 illuminiert wurde. Auch in der künstlerischen Durchführung der Bilder lassen sich viele Momente nachweisen, aus welchen auf eine frühe Entstehung der Bilder geschlossen werden kann. So die Landschaft in der Kreuzigung. Wir haben bei der Besprechung des Kopenhagener heil. Antonius mit dem Stifter von Petrus Kristus gehört, mit welchen Riesenschritten sich in der niederländischen Malerei des XV. Jahr- hunderts ein Fortschritt in der räumlichen und besonders in der landschaftlichen Darstellung vollzogen hat, und man braucht auf die Petersburger Kalvarienlandschaft nur einen Blick zu werfen, um sich zu überzeugen, wie weit sie in ihren Darstellungsformen hinter dem zurücksteht, was in der Zeit der Ent- stehung des Kopenhagener Bildes bereits ein Gemeingut der niederländischen Malerei geworden war. Bei der Petersburger Tafel zerfällt die Landschaft noch in zwei zusammenhanglose Teile, in die nahe- liegende, schief aufsteigende Bühne, auf welcher sich der eigentliche Vorgang abspielt, und in eine dieser Bühne sich unmittelbar anschließende Fernsicht. Das erinnert an die Landschaft sowohl der Anbetung des Lammes als auch der Madonna des Kanzlers Rolin, ohne jedoch genau auf der Ent- wicklungsstufe weder der einen noch der andern zu stehen. Der Anbetung des Lammes gegenüber ist die Einheitlichkeit und der Zusammenhang der Landschaft unvergleichlich besser gewahrt dadurch, daß das Podium der Handlung als ein über der Landschaft sich erhebendes Bergplateau dargestellt ist und so die Unterbrechung in der Landschaft wahrscheinlich gemacht wird, während sie bei dem Genter Bilde nur in ungenügender Weise verschleiert werden konnte. Dieselbe Notbrücke wie bei der Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 23l Kreuzigung finden wir jedoch auch bei der Louvre-Madonna, wo die Schwierigkeit, die Raumver- tiefung kontinuierlich darzustellen, ebenfalls dadurch umgangen wird, daß der Maler den Haupt- vorgang in eine hochgelegene Loggia verlegt, von der man auf die Landschaft herabschaut. Nur be- herrscht Jan van Eyck in diesem Bilde diese Form der landschaftlichen Perspektive bereits in dem Mal3e, daß es dem Beschauer bei einer flüchtigen Betrachtung gar nicht auffällt, daß es sich noch immer um einen Ausweg handelt, der an die mittelalterlichen neben der Landschaft sich abspielenden Szenen erinnert. Man könnte also die Petersburger Kreuzigung in bezug auf die landschaftliche Dar- stellung zwischen das Genter Bild und die Louvre-Madonna verlegen, wären nicht in der Anbetung des Lammes zweierlei Stile und Entwicklungsphasen vereinigt. Jedenfalls können wir aber behaupten, daß die Art der landschaftlichen Darstellung der Petersburger Tafel als eine künstlerische Form be- trachtet werden muß, die bereits in der Rolin-Madonna unvergleichlich entwickelter verwendet wurde, in den letzten Arbeiten Jans aber wie auch in allen gleichzeitigen anderweitigen Bildern schlechtweg nicht mehr möglich ist. Auch aus den Gestalten und Typen auf den beiden Flügeln in der Eremitage können wir auf dieselbe Entstehungszeit schließen. Ein Berichterstatter hat sie lächerlich und abgeschmackt gefunden, ein anderer meisterhaft und bewunderungswürdig. Lächerlich und ungeschickt sind sie gewiß nicht; als altertümlich kann man sie jedoch bezeichnen, wenn man sie mit Gestalten der niederländischen Malerei vergleicht, die nach dem Genter Altare entstanden sind; als bewunderungswürdig und uner- hört neu müssen wir sie betrachten, wenn wir sie mit jenen Schöpfungen der Kunst vergleichen, von welchen sie abstammen, nämlich mit den Personen und Personifikationen der spätgotischen Malerei und Plastik. In keiner Periode der Entwicklung der christlichen Kultur vor der Gegenreformation öffnete man im religiösen Leben, in der Literatur und Kunst den Kräften, welche dem Seelenleben des'Menschen ent- springen, so weit die Tore, wie im XIIL und XIV. Jahrhundert. Alles, was den Menschen bewegt, von der erdrückenden Schwere des Kummers und der Verzweiflung bis zu dem wildesten Auflodern der Leiden- schaft, wollte man in der Religion empfinden, in der Literatur nachempfinden und sehen an den Werken der bildenden Kunst. Schritt für Schritt begegnen wir in den unerschöpflichen plastischen Enzyklopädien des christlichen Kampfes und Sieges an den großen Kathedralen, in den unendlichen legendarischen Chansons de Geste der großen Glasmalereien, in den Illustrationen der Hand- schriften und in dem Figurenschmucke der gestickten und gewebten Stoffe und Gewänder Versuche, in jeder einzelnen Figur ein bestimmtes Sentiment zu verkörpern und die psychischen Emotionen zu veranschaulichen, welche die Beweggründe der Taten gewesen sind. Der Verkündigungsengel lächelt, der Scherge in der Geißelung grinst, Magdalena ringt über dem Leichnam Christi verzweifelt die Hände und im höchsten Paroxismus der Wut und des Hasses verzerren die den Heiligen folternden Henker ihre Gesichter. Doch da man in der menschlichen Gestalt überhaupt das Individuelle nicht darstellen konnte, kam man auch bei der Verbildlichung der Affekte nicht über allgemeine erstarrte und zumeist karrikaturenhaft übertriebene Gefühlsposen und Mienenmasken hinaus. Das Lachen und Klagen versteinerte und wanderte als steinerne Formel von Figur zu F'igur überallhin, wo man seiner bedurfte. In Deutschland erhält sich diese konventionelle mimische Sprache bis in die zweite Hälfte des Quattrocento. Doch in den Niederlanden verschwindet sie wie in Italien bereits in dem zweiten Viertel des Jahrhunderts, da sie durch den neuen naturalistischen Stil vollkommen entwertet wurde. Die Petersburger Bilder stehen auch in dieser Beziehung auf der Grenze des alten und des neuen Stiles. Die kräftigsten dramatischen Akzente werden auf eine Art hervorgerufen, die noch vollkommen der Kunst des vorangehenden Jahrhunderts entspricht. Das höhnische Lachen der Juden, das bos- hafte Zähneflätschen der Henkersknechte, der grelle Verzweiflungsschrei der Verdammten werden in derselben überlieferten Weise geschildert wie in der Kunst des Trecento. Besonders deutlich tritt das beim jüngsten Gerichte hervor, in welchem die Chöre der Seligen in Sta. Maria Novella mit einer jener schauererregenden Darstellungen des dies irae verbunden zu sein scheinen, in welchen die Massen- phantasie der spätgotischen Steinmetze und Maler alle Qualen verkörperte, die dem menschlichen 232 Max Dvofäk. Geiste der Gedanke auf ein Jenseits zu bereiten vermag. Kein Bildhauer und kein Maler der vorher- gehenden Periode hätte jedoch vermocht, eine so ergreifend wahre Gruppe zu erfinden, wie es die sinkende Madonna mit dem sie stützenden Johannes und den zwei klagenden Frauen in der Kreuzigung ist, und neben den typischen Grimassen finden wir Versuche, die Menschen und ihre Posen und Gesten zu individualisieren, in einer Fülle und Sicherheit der Beobachtung, die alles, was die Kunst um die Wende des XIV. und XV. Jahrhunderts in dieser Richtung zu schaffen vermochte, weit zurückläßt. Die zwei Tafeln sind weder .provinzial noch das Werk eines zurückgebliebenen Künstlers sondern tragen deutlich den Charakter einer suchenden und sich erst entwickelnden Kunst und so müssen wir sie wohl in jene Ubergangsperiode verlegen, welcher dieses Suchen eigentümlich war. Doch steht das nicht im Widerspruche mit dem, was wir oben allgemein über diese Bilder gesagt haben, daß sie nämlich durchwegs unter dem Einflüsse des neuen Stiles Jan van Eycks stehen? Könnten diese zwei Bilder vielleicht nicht doch von Hubert sein? Sie sind es aus dem eben genannten Grunde nicht. Sie sind stilistisch weit entwickelter als die Bilder Huberts, und zwar in der Richtung jener Errungenschaften, aufweichen der neue Stil Jans beruht. In der Kunst Huberts erscheint der Zusammenhang mit den Darstellungsformen der Tre- zum erstenmale in den Bildern Jans nachweisen können. Huberts Perspektive beschränkt sich auf be- stimmte Regeln und Lösungen, wogegen die beiden Bilder in Petersburg darin vollkommen frei und modern sind. Fast möchte man in der Kreuzigung die Gestalt eines im jähen Schrecken nach vorn kopf- über stürzenden Kriegsknechtes so erklären, daß uns der Künstler an dieser schweren Aufgabe sein Be- herrschen der perspektivischen Aufgaben zeigen wollte. Während die Gestalten Huberts aneinander- kleben, ist es dem Meister des Petersburger Altares bereits gelungen, Raum zwischen sie zu bringen und sie frei und ungezwungen in der zurücktretenden Ebene zu gruppieren. Und was das Wichtigste ist, in den Formen, in der Modellierung, in der Licht- und Schattenbehandlung, in der künstlerischen Verwertung der Farben zur Darstellung der materiellen Beschaffenheit und der plastischen Gestaltung der Gegenstände treten uns in beiden Tafeln jene Er- rungenschaften entgegen, die wir in den Bildern Jans als ein unterscheidendes Stil- merkmal den Bildern Huberts gegenüber gefunden haben und die als Kennzeichen des neuen Stiles bezeichnet werden müssen. Von den schematischen trecentesken Kopftypen, von den schablonenhaften Draperien, von der abstrakten Modellierung und Kolorierung Huberts sind diese Bilder bereits fast ebenso entfernt wie die von Jan gemalten Teile des Genter Altares. Man kann jedoch auch noch mehr behaupten. Es sind nicht nur die allgemeinen künstlerischen Errungenschaften, welche diese Bilder mit der Kunst Jans verknüpfen, sondern ein Vergleich mit den Werken des letzteren lehrt uns, daß wir sowohl in der Kreuzigung als auch im jüngsten Gerichte alle wichtigen individuellen Kennzeichen des Stiles Jans linden können. Es besteht zwischen den centomalerei kaum irgendwo gelockert, in den Petersbur- ger Bildern ist er bereits völ- lig aufgelöst und beschränkt sich mehr auf Äußerlich- keiten. Hubert malt noch eine Landschaft im mittelalter- lichen Aufrisse, die Land- schaft in der Kreuzigung ist aber eine, wenn auch auf Fig. 27. Jan van Eyck, Kain und Abel, vom Genter Altar. Brüssel, königl. Museum. Umwegen erreichte Darstel- lung eines einheitlich sich vertiefenden Raumes, mit einer Fernsicht, wie wir sie Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 233 Petersburger Flügeln und den Werken Jans zumindestens ein unmittelbarer Schulzusammenhang, welchen man in der Landschaft bis zur geringsten Einzelnheit und fast an jeder Figur, bei jeder Form belegen kann. Mit diesem Vergleiche können wir auch die Frage nach dem Autor verbinden. Es sei uns ein auf diese Frage bezügliches Geständnis gestattet. Es schien uns a priori unmöglich zu sein, daß diese Bilder, in welchen das Alte mit dem Neuen kämpft, gerade von jenem Meister wären, dessen Kunst bisher als die nach der Art der Cuvier'schen Katastrophen sich vollziehende Wandlung selbst aufgefaßt wurde; das wäre ein gar zu unverhoffter Glückszufall. Wir waren also fast sicher, Beweise dafür zu finden, daß die Bilder nicht von Jan sein können. Statt dessen fanden wir aber immer wieder neue Belege dafür, daß sie von niemandem anderen sind als von dem fabelhaften Prometheus der niederländischen Malerei selbst. Es ist bereits von Justi und Tschudi eine Reihe von Ubereinstimmungen zwischen den beiden Bildern und den Werken Jan van Eycks hervorgehoben worden, Ubereinstimmungen, die zuweilen so stark sind, daß wir an Nachahmungen denken könnten, wären nicht die ihnen zugrunde liegenden Motive in einer anderen Verbindung ange- wendet worden, die nicht als Nachahmer- arbeit bezeichnet werden kann. Es ist je- doch nicht nötig, daß wir uns auf diese Tautologien berufen, da beide Bilder genug Züge aufweisen, die von dem dargestellten Gegenstande unabhängige Kennzeichen der eigenhändigen Werke Jans bilden. Zu diesen Kennzeichen gehören vor allem die Hände, welche dieselben Eigen- tümlichkeiten aufweisen wie die Hände Jans. Eine ähnliche Sicherheit, die Hände in den verschiedensten Stellungen mit gleicher Na- turtreue darzustellen, wie wir sie auf den Bildern in Petersburg finden, läßt sich in der älteren niederländischen Malerei nur bei Jan van Eyck nachweisen, und daß wir sie auch in diesen Bildern ihm zuschreiben können, wird sowohl durch die zierliche überkleine Gestaltung der Hände nachgewiesen — man beachte nur die frauenhaften und wohlgestal- teten Hände der Kriegsschergen — als auch durch die allen diesen Händen zugrunde liegende ideale Grundform, die dieselbe ist, welche wir als ein Kriterium der Werke Jans gefunden haben. Wer die- sem Beweise nicht folgen kann, den verweisen wir auf andere, die noch drastischer sind. Voll beklagte sich in einer seiner Abhandlungen, daß die über den Figuren des Adam und der Eva vom Genter Altare gemalten Steinreliefs mit der Darstellung des Opfers und des Mordes Kains und Abels bisher wenig für das Studium der Kunst Jans verwertet wurden. Doch ließ er sich dieselbe Unterlassung zuschulden kommen, da er sonst die Zuweisung der Petersburger Tafeln an Jan nicht bekämpft hätte. Man beachte, wie auffallend und unnatürlich lange Arme die Figuren jener Steinbilder haben, Arme, die ihren Inhabern in aufgerichteter Stellung bis über die Knie reichen würden. Dieselben dünnen über- langen Hände finden wir sowohl bei dem gekreuzigten Christus und den beiden Häschern auf dem Kal- varienbilde als auch bei den aus den Gräbern Auferstehenden und den Verdammten auf dem jüngsten Gerichte zu Petersburg. Wollte man die Ubereinstimmung in dieser merkwürdigen Abnormität auch noch für einen Zufall erklären, so gibt es doch auch in der Zeichnung und Form dieser Arme einen eigentümlichen Zug, von dem wir nicht annehmen können, daß ihn ein Schüler nachgeahmt hätte oder daß er unabhängig bei zwei verschiedenen Künstlern vorkommen könnte. Die Arme der Figuren in den zwei Giebelbildern sind in einer nicht zu verkennenden Weise verzeichnet; man könnte sie XXIV. 33 Fig. 28. Jan van Eyck, Jüngstes Gericht. St. Petersburg, Eremitage (Ausschnitt). 2 34 Max Dvorak. Händen von Hampelmännern vergleichen, welche man einmal im scharfen, ein anderesmal im stumpfen Winkel biegen kann, die aber in ihrer Bewegung nur in dieser einen Richtung frei sind. Dieselben eigentümlichen Verdrehungen der Arme sehen wir z. B. bei dem rechten Schacher in der Kreuzigung oder bei den meisten der aus den Gräbern sich erhebenden Toten des jüngsten Gerichtes (Fig. 27, 28 und Taf. XXII). Und wen das noch immer nicht überzeugen sollte, der beachte, wie die Landschaft in der Kreuzigung, wie der Seesturm im jüngsten Gerichte gemalt ist. Auch ein Nachahmer hätte vielleicht eine Landschaft malen können, die in den Motiven dem Panorama der Louvre-Madonna so nahe steht wie das herrliche Tal der Petersburger Kreuzi- gung, doch nur ein Meister konnte sie so aus- führen, wie sie auf diesem letzteren Bilde und auf den Bildern Jans ausgeführt ist. Es gibt bei den größten Meistern künstlerische Poten- zen, die zeitlos zu sein scheinen, weil sie als das nur einem Genius zukommende Vermögen weder erlernt noch auf andere übertragen wer- den können. Zu diesen Potenzen ist die Mal- weise Jans zu rechnen, wie sie uns besonders in seinen Landschaften entgegentritt. Sie läßt sich nur mit Dürers Zeichnung, mit Michelangelos plastischer Wiedergabe des Fleisches oder mit Tizians Farbenglut vergleichen. In einer Zeit, welche erst vor kurzem die allgemeine Vorherr- schaft der Umrißzeichnung und des abstrakten Farbenauftrages überwunden hat, verwendet Jan besonders in Hintergrundlandschaften den Pinsel und die Farben mit einer Kühnheit und Unfehlbarkeit, die sonst vielleicht nur bei den Japanern zu finden ist. Ein einziger Pinsel- strich genügt, um uns eine als weiße Silhouette vom dunklen Gelände sich abhebende Archi- tektur in ihrer ganzen charakteristischen Form und landschaftlichen Bedeutung erkennen zu lassen, mit einer einzigen Zickzacklinie veran- schaulicht er uns den Lauf eines Flusses bis Fig. 29. Jan van Eyck, Kreuzigung. zur vollen Illusion, mit wenigen Punkten schil- Beriin, kgi. Gemäldegalerie. dert er unübertrefflich Bäume und Baum- gruppen, Fluren und Gärten oder charakteri- siert eine schneebedeckte Bergkette so scharf, daß wir überzeugt sind, sie in der Wirklichkeit wieder- zufinden und gleich wiederzuerkennen, obwohl sie Jan wahrscheinlich frei erfunden hat. Sein Farben- auftrag ist dabei so leicht und flüssig wie bei einem modernen englischen Aquarellmaler, zugleich aber von einer Kraft und Eindringlichkeit und von einer malerischen Kühnheit, die uns zuweilen ganz vergessen läßt, daß es sich um einen Künstler des XV. Jahrhunderts handelt, wie z. B. bei dem See- sturm, der auf dem jüngsten Gerichte dargestellt ist und dem man in der ganzen niederländischen Malerei nur weniges vergleichen kann (Fig. 28). So finden wir bei den frühen und in mancher Hin- sicht noch mittelalterlich befangenen Bildern in Petersburg ähnlich wie gleich bei den ersten Zeich- nungen Dürers, wie bei dem Kentaurenrelief Michelangelos oder wie bei der Zigeunermadonna Tizians jene Qualitäten, die nicht aus einem geschichtlichen Zusammenhange restlos zu erklären sind sondern die als das angeborene Können eines weit über alles Normale hinaus begabten Genius der Mensch- Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 235 heit einigemale im Verlaufe der Geschichte geschenkt wurden. An eine Nachahmung kann man denken, wo es sich um ein stilistisch entwickeltes Werk handelt in einer mangelhaften Ausführung; wo uns aber ein stilistisch unentwickeltes Werk in einer unübertrefflichen Durchführung vorliegt, da ist die Entscheidung nicht schwer. Man rufe sich die besten Landschaften Rogiers oder jene der besten niederländischen Quattrocentolandschafter, des Bouts oder des Meisters von Flemalle, in Er- innerung, man vergleiche z. B. die Petersburger Madonna mit dem heil. Lukas von Rogier, mit der Madonna des Kanzlers Rolin und man wird leicht erkennen, wie unnachahmlich und einzig die ge- schilderte spielend leichte und sichere Malweise in ihrer Zeit gewesen ist. Eine ähnliche Landschaft in derselben Durchführung finden wir jedoch an der Berliner Kreuzigung (Fig. 29). Es ist dieselbe Szenerie. Von einem Hügel, auf dem sich der Crucifixus mit Maria und Johannes an den Seiten erhebt und der uns den Mittelplan der Landschaft wiede- rum nicht vermissen lassen soll, sehen wir eine Fernsicht, die nur eine wenig veränderte Varia- tion der landschaftlichen Vedute ist, die in dem Petersburger Bilde den Horizont abschließt. Wenn wir von dem Stadtbilde absehen, welches als eine Phantasieerfindung in den beiden Bildern etwas verschieden ist, so ist es sogar unzweifelhaft dieselbe Fernsicht, nur von verschiedenen Beobachtungspunkten gesehen, eine Fernsicht, die wir wieder in anderen Varia- tionen an der Madonna in der Sammlung Roth- schild und an der Louvre-Madonna beobachten können. «Jan aber hat sich selbst niemals wieder- holt,» behauptet Voll, und es ist das richtig, wenn wir nur statt wiederholt «kopiert» sagen. Er versuchte aber unzweifelhaft öfters, ein und dasselbe Problem an denselben oder ähnlichen Motiven, ähnlich wie Dürer oder Rembrandt, immer wieder neu zu lösen. Zweimal malt er den Kanonikus van der Pale, zweimal Giovanni Arnolfini, in der Pariser Kartäuser- Madonna beschäftigt er sich mit demselben Motiv und Problem wie in der Madonna des Kanzlers Rolin, in der Petersburger Verkündigung mit demselben wie auf dem Mittelbilde des Dresdener Altärchens und wie in der Kirchenmadonna und seine Frauenköpfe sind alle Werke einer Reihe, einer und der- selben Aufgabe. Dasselbe gilt auch für unser landschaftliches Motiv, bei welchem wir so glücklich sind, es in nicht weniger als in vier Entwicklungsphasen beobachten zu können. Bei dem Berliner Bilde erscheint dieses Motiv in einer Form, die uns vielleicht durch ihre Alter- tümlichkeit berechtigt, sie an den Anfaqg der genannten Reihe zu stellen. Die Hügelreihen, die unseren Blick in die Tiefe leiten sollen, sind noch eng aneinander gedrängt, so daß man noch an die Kulissen- landschaften des Trecento erinnert wird, und gar zu deutlich erkennen wir die perspektivische Mission des Flußlaufes im Hintergrunde. In der Malweise treten uns jedoch, wenn auch vielleicht ebenfalls noch in einer unentwickelten Gestalt, dieselben Eigentümlichkeiten entgegen wie bei anderen Land- schaften Jans. Der Fluß im Hintergrunde und die in seiner Nähe liegenden Architekturen, der Weg, der sich auf dem Hügel rechts zu einer Windmühle hinzieht, die Schatten und Lichter an den Bauten des Stadtbildes, die Bäume, Sträucher, die Vögel in der Luft sind in derselben Weise und mit derselben erstaunlichen Sicherheit durch einmalige Pinselberührung oder durch einige Striche und Linien oder 33* 236 Max Dvofäk. Punkte hingehaucht wie in den anderen Landschaften Jans und wie sonst bei keinem Meister seiner Zeit. Auf ein besonders auffallendes Beispiel dieser Malweise sei noch hingewiesen. Der kahle Felsen- abhang, auf dem sich die Tragödie der Erlösung vollzieht, ist nur mit wenigen Pflanzen bewachsen, denselben, welche wir auch auf den Felsen der Seitentafeln des Genter Altares finden; sonst bedeckt ihn nur Steingeröll. Dieses Geröll ist in einer besonderen Weise gemalt. Die Steine sind mit weii3en oder dunkleren Tupfen, Strichen oder auch kleinen Kreisen bedeckt, die auch auf dem zerklüfteten Steinboden hie und da angebracht sind. Weiter in der Tiefe des Bildes verschwinden dann die Um- risse der einzelnen Steine vollkommen und die Steinmassen werden nur durch Farbenklekse angedeutet, wobei es dem Maler vollkommen gelungen ist, dem Beschauer den Eindruck zu erwecken, den ein sol- ches Steinfeld, von der Ferne gesehen, in ihm erwecken müfSte. In genau derselben* Weise finden wir aber den felsigen Boden, Felsen und Steine sowohl an der Petersburger Kreuzigung dargestellt als auch an den unteren Seitentafeln des Genter Altares: überall sind über die in ähnlicher Weise zerrissenen Felsen weiße Flecken, Tupfen, Striche verstreut und die schwammartigen Steine bestehen wie bei der Berliner Tafel nur aus lichten und dunklen Punkten (vgl. Fig. 17, 29 und Taf. XXII). Bei den Schülern und Nachahmern Jans finden wir dagegen stets flächen- hafte, den Bestrebungen, dem ganzen Bildausschnitte eine einheitliche Beleuchtung und von dieser abhängige Modellierung zu geben, angepaßte Verteilung der Licht- werte, in der Ferne auch einheitliche, durch die Luft- perspektive gegebene Farbentöne, nie aber eine an das Verfahren eines Gobelinwebers oder Brodeurs er- innernde Technik wie bei den Werken Jans und an den fraglichen Bildern in Petersburg und Berlin. Nachdem wir nun auf diese Ubereinstimmung in der malerischen Durchführung der Landschaft im Berliner Bilde mit den Tafeln in Petersburg und den Bildern Jans hingewiesen haben, wenden wir uns noch zu den Figuren des Berliner Kalvarienberges, die so merkwürdig und dem Stile Jans fremd zu sein scheinen, daß man sie als einen Beweis gegen die vorangehenden Ausführungen auffassen könnte. Sie schließen jedoch diesen Beweis, wenn es uns gelingt, sie mit stilistisch verwandten Gestalten Jans zu belegen. Wieder könnte auf die Hände hingewiesen werden, die eine ähnliche lange, schmale, zierliche Form mit feinen Knöcheln und zarten langen und zugespitzten Fingern haben, wie z. B. die Hände der singenden Engel oder die Hand des Zacharias am Genter Altare oder die Hand des Reiters unter den gerechten Richtern, welchen man für ein Bildnis Huberts erklärte, oder die Hände Arnolfinis und seiner Frau oder des Engels und der Madonna in der Petersburger Verkün- digung. Die Linke des Johannes, die er erhebt, um sich die Tränen abzuwischen, kehrt in gleicher Gestalt bei der gemalten Steinfigur Johannes des Täufers am Genter Altare wieder. An diese letzte Gestalt erinnert auch stark die barocke und etwas hölzerne Draperie des Mantels, welchen der weinende Johannes in der Berliner Kreuzigung umhat, wogegen die großzügigen Falten seines Unter- gewandes an den Gewändern der Einsiedler zu finden sind, bei welchen auch wie bei den Pilgern die merkwürdige Fußstellung des Johannes wiederkehrt. Alle diese Formen halten sich im Rahmen von Gewohnheiten, welche jedem Kenner des Stiles Jan van Ej'cks geläufig sein dürften. Doch kann man dasselbe auch von den Köpfen behaupten? Leicht wird man erkennen, daß schlagende Analogien für den Kopf Christi, der in beiden Kreuzigungsbildern derselbe ist, unter den Köpfen der heiligen Einsiedler Fig. 3i. Jan van Eyck, Verkündigung. Kais. Eremitage zu St. Petersburg (Ausschnitt). Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. vom Genter Altare zu finden sind. Unmöglich scheint es jedoch zu sein, daß Jan auch die Köpfe der Madonna und des Johannes gemalt hätte, die so aussehen, als hätte sie der Maler genau nach Skulp- turen aus dem XIV. Jahrhundert kopiert. Schon bei dem Petersburger Bilderpaar haben wir die mittel- alterliche Darstellung des Sentiments hervorgehoben; auf dem Berliner Bilde tritt sie uns noch viel deutlicher in jener Form entgegen, die wir an tausenden von Beispielen in der spätmittelalterlichen Plastik beobachten können. Dem Schmerze des heil. Johannes hat der Maler einen intensiveren Aus- druck gegeben; man könnte ihn fast den Grimassen der gotischen Grotesken vergleichen. Noch deut- licher ist der Zusammenhang mit den Typen und Ausdrucksmitteln der gotischen Kunst bei der im stillen Kummer versunkenen Madonna. Über ihr Gesicht gleitet der Widerschein einer inneren Be- wegung, den man als ein bittersüßes Lächeln bezeichnen müßte, wenn diese Bezeichnung dem darge- stellten Momente nicht widerspräche. Tatsächlich ist es der seit dem XIII. Jahrhundert der ganzen gotischen Skulptur geläufige Ausdruck für seelische Vorgänge, der unterschiedlos von dem Bildhauer oder auch Maler an- gewendet wird, ob er das glückverheißende Lächeln des Engels in der Verkündigung, die strahlende Mutter- liebe der Madonna, eine klaglose Trauer oder über- haupt nur ein inneres Leben und die Spiegelung der Seele in der Materie darstellen will. Wenn wir die körperliche Form dieses Ausdrucks analysieren, so fin- den wir, daß er hauptsächlich durch die Gestaltung der Augen, welche als eine schmale Spalte zwischen stark wulstartig vortretenden Augenlidern gebildet sind, durch die tiefe Furche, die von der Nasenwurzel an den Mundwinkeln vorbei hinunterzieht und durch die wie beim Lächeln geschwungene Linie des großen Mundes hervorgerufen wird. Diese Form liegt auch dem seeli- schen Ausdrucke der Madonna in der Berliner Kreuzi- gung zugrunde und auch das schmerzverzogene Gesicht des Johannes läßt sich auf sie zurückführen. Dieselbe Form finden wir aber sowohl bei einzelnen Köpfen auf den Petersburger Tafeln, so bei der klagenden Frau mit weissem Kopftuche oder dem heil. Johannes, als auch an den von Jan gemalten Tafeln des Genter Alta- res oder anderen Werken seiner Hand. Eine Reihe von Köpfen bei der Pilger- und Einsiedlergruppe ist so gemalt, auch unter den Engelsköpfen begegnet uns derselbe Typus, ja selbst bei jenem Reiter klingt er noch nach, dem die spätere unkontrollierbare Tradition den Namen Huberts gegeben hat. Von anderen Bildern Jans tritt er uns besonders bei der Verkündigung in Petersburg deutlich entgegen, während er in den letzten Werken des Meisters ganz verschwindet (Fig. 29, 3o, 3i, Sa). Solange die drama- tischen Aufgaben der gotischen Kunst im Stile Jans noch eine Rolle spielen, erhält sich auch die ihnen entsprechende Ausdrucksform für psychische Vorgänge, mit dem vollen Siege des neuen natu- ralistischen Prinzips mußte sie ipso facto verschwinden. So sprechen die absonderlichen Kopfe der Madonna und des Johannes in der Berliner Kreuzigung nicht nur nicht gegen die Autorschaft Jans sondern stehen in unmittelbarer Verbindung mit der Entwicklung seiner Kunst, deren historische Grundlagen und Beziehungen zu der vorhergehenden Kunst zu entdecken sie uns möglich machen. Unabhängig von den Petersburger Flügeln konnten wir auch für die Berliner Kreuzigung die Urheberschaft Jans und eine ähnliche Stellung in der Geschichte seiner Kunst nachweisen, wie sie die Bilder in der Eremitage einnehmen. Es ist das ein neuer Beweis für die Richtigkeit der zeitlichen und stilistischen Bestimmung beider Werke. Fig. 32. Jan van Eyck; Die gerechten Richter, vom Genter Ahar. Berlin, königl. Gemäldegalerie (Ausschnitt). 238 Max Dvorak. Der Beweis Ueße sich noch weiterspinnen, aber die vorstehende Untersuchung, die ohnehin bereits den ihr in der Anlage unserer Abhandlung zugewiesenen Umfang überschritten hat, dürfte genügen, das geniale Apercu Justis, als welches seine Beziehung der beiden Petersburger Bilder auf Jan van Eyck betrachtet werden muß und ohne die die analoge Bestimmung der Berliner Kreuzigung kaum möglich gewesen wäre, durch neue, alle Zweifel ausschließende entwicklungsgeschichtliche Gründe befestigt zu haben. Ist eine Bestimmung richtig, so findet man ja leicht immer wieder neue Beweise für sie. Daß wir jedoch so lange bei diesen Bildern verweilten, geschah deshalb, weil wir sie als wichtige Glieder der Kette ansehen, welche den Stil Jans mit der Kunst der älteren Perioden verbindet. Es gibt wenig Denkmäler, welchen eine so außergewöhnliche Bedeutung für die Geschichte der Kunst beizumessen wäre wie den unscheinbaren Uberresten eines Triptychons in Petersburg, dessen Mittel- stück erst im vorigen Jahrhunderte dem damaligen Besitzer des Werkes gestohlen wurde, um nie mehr zum Vorschein zu kommen, — ein unersetzlicher Verlust — und dem ebenso unscheinbaren Bilde in Berlin, auf welches man erst vor zehn Jahren aufmerksam geworden ist. Betrachtet man nun diese Bilder als die ältesten uns erhaltenen Offenbarungen der Kunst Jans und vergleicht man sie mit dem, was in den ersten Jahrzehnten des XV. Jahrhunderts in Italien und im Norden gemalt wurde, so dürfte uns auch ihr künstlerischer Wert in einem ganz anderen Lichte erscheinen. 3. Die Frauen am Grabe. Auf Grund der vorangehenden Ausführungen können wir uns bei diesem Bilde umso kürzer fassen. Das Bild in Richmond hat man besonders eifrig für ein Werk Huberts erklärt. Doch wenn man von der Beweisführung Seecks und Weales absieht, wußte man keinen Grund dafür anzuführen als die Ubereinstimmung mit der Anbetung des Lammes, die man vermutungsweise auch Hubert zugeschrieben hat. Diese Ubereinstimmung beschränkt sich jedoch nur auf die ziemlich große Ähnlichkeit des auf dem Grabe Christi sitzenden Engels mit den Engeln, welche vor dem Altare mit dem Lamme knien. Die letzteren sind, wie wir gesehen haben, sicher zum Teil von Jan und gerade den von Jan gemalten ähnelt der Engel des Richmonder Bildes. Auch die Ähnlichkeiten in der Landschaft beschränken sich auf die oberen von Jan gemalten Teile der Genter Mitteltafel oder auf die Seitenbilder zu dieser. Weder von dem altertümlichen Stile noch von den individuellen Krite- rien der Kunst Huberts finden wir an dem Cook'schen Bilde auch nur das mindeste. Dafür lassen sich jedoch überall Beziehungen zu den Bildern Jans und ihrem Stile nachweisen. Seinen Gewohnheiten entspricht die landschaftliche Szenerie, wiederum ein schief aufsteigende? Berg- plateau, dann eine Stadt, Hügel und schneebedeckte Berge, welche den Horizont abschließen. Die große Felsenkulisse, vor der die heiligen drei Frauen stehen, kennen wir aus den Seitentafeln der An- betung des Lammes, auf welchen wir auch einen ähnlich zerklüfteten felsigen Boden finden. Dieselben Sträucher, Blatt für Blatt mit einer geradezu botanischen Genauigkeit gemalt, die hinter dem Sarko- phage dargestellt sind, hat Jan van Eyck in ganz analoger Verwendung auch an der Madonna des Kanzlers Rolin angebracht. Genau in derselben Weise wie auf dem letzteren Bilde sind auch auf dem Bilde in Richmond die Weingärten im Hintergrunde dargestellt, während die silhouettenartig auf der Horizontlinie dargestellten Bäume in der Anbetung des Lammes und an den Kreuzigungen zu Berlin und Petersburg wiederkehren. Der Weg auf dem Hügel ist ähnlich wie auf allen Landschaften Jans dargestellt, die Stadt ähnlich gemalt wie auf den beiden Kreuzigungen. Besonders auffallend ist die scharfe Beleuchtung der in der Ferne liegenden Architekturen, wie wir sie ebenfalls auf den beiden Kal- varienszenen beobachten können. Ebensoviel Jan verwandte Züge wie die Landschaft weisen auch die Figuren auf. Der Engel, welcher den Frauen die Auferstehung Christi verkündet, gleicht nicht nur Jans Engeln in der An- betung des Lammes sondern auch allen seinen übrigen ähnlichen Gestalten. In der Draperie des Ge- wandes steht er besonders der Madonna in der Petersburger Verkündigung oder der heil. Barbara in Antwerpen nahe; der Kopf erinnert im Typus, im Ausdruck und in der Art, wie die Haare gemalt sind, besonders an die Madonna des jüngsten Gerichtes in Petersburg oder an den heil. Michael auf dem Dresdener Triptychon. Die vorderste der Frauen hat dieselbe merkwürdige Stellung wie die Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. Magdalena in der Petersburger Kreuzigung und ihre Hände mit langen schmalen spitzigen Fingern gehören ebenfalls zu dem Formenbestande Jans. Das Kinderhändchen, in welchem die am weitesten vom Beschauer stehende Frau die Salbenbiichse hält, können wir in genau derselben Stellung, Größe und Form bei einer der zwei heil. Einsiedlerinnen vom Genter Altare entdecken. Das wilde, verwitterte Gesicht des schlafenden Soldaten begegnet uns ebenfalls unter den Einsiedlern vom Genter Schreine und unter den Juden der Petersburger Kreuzigung, auf der auch ein Kriegsknecht mit ähnlichen krummen, in hohen Tuchschuhen steckenden Füi3en vorkommt, wie sie der Soldat mit der Hellebarde auf dem englischen Bilde hat. Die Spiegelung und die farbigen Reflexe auf seinem Panzer sind aber so gemalt wie bei den vordersten zwei Gestalten unter den Streitern Christi, was uns schon allein belehren könnte, wie weit das Bild bereits von der Kunst Huberts entlegen ist. Trotz aller dieser Ubereinstimmungen ist es kein eigenhändiges Werk Jans. Es steht zwar auch unter dem Einflüsse seiner Malweise, ist jedoch ganz anders gemalt als die Originale Jans. Von der wunderbar flüssigen, breiten und dennoch unfehlbar alle Formen charakterisierenden Malweise Jans ist es ebenso entfernt als von seiner ebenso unfehlbaren Zeichnung. Der Maler der Marien am Grabe wird verschwommen, wo er malerisch wirken, und hart, wo er scharf und bestimmt schildern will. Der Oberfläche des Steinbodens, auf der Jan noch eine ganze Welt von Erscheinungen zu beobachten weiß, widmet er nur eine geringe Aufmerksamkeit, der Kulissenfelsen bildet beinahe eine ungegliederte Masse und bei dem Stadtbilde vermissen wir die Feinheit und Eindringlichkeit der Schilderung. Die Häuser und Türme scheinen kunterbunt untereinandergeworfen zu sein und werden in keiner Weise durch genaue Beobachtungen belebt. Wie verschieden davon die Malweise Jans ist, möge man an folgendem Beispiele beobachten. Jan malt in allen seinen Stadtansichten die Zinnen der Türme und Häuser in der Weise, daß er weiße Tupfen oder Striche aneinander reiht. Der Maler der Richmonder Bilder aber, der viel peinlicher vorgeht, zeichnet fast geometrisch die Umrisse der Zinnen und unter- scheidet sie nicht in der Farbe von dem Mauerwerke, zu dem sie gehören. Den Baum, der sich hinter dem Grabe erhebt, würden wir kaum mehr für eine Pinie halten, die er nach Analogie der Werke Jans darstellen sollte, und ebenso ist es bei den übrigen Bäumen und Büschen. Das ist jedoch nicht als ein pri- mitiver Zug aufzufassen sondern als eine Ungeschicklichkeit, da wir überall deutlich erkennen, daß der Maler bestrebt war, die Motive Jans in ähnlicher Weise wie dieser zu malen. Auch an den Figuren tritt uns die Verschiedenheit von der Malweise und Formengebung Jans deutlich entgegen. Man vergleiche, wie Jan die Haare malt, so daß man trotz voller Beachtung der Glanzlichter jedes einzelne Haar zu sehen glaubt, wogegen das Haar des das Grab Christi bewachenden Engels einer Perücke aus Wolle gleicht. Nie hat Jan so seelenlose Augen gemalt, wie wir sie bei den Figuren des Richmonder Bildes finden, nie eine Hand mit ähnlich gespreizten krummen Fingern wie die Rechte der Madonna, nie ein solches Ohr, wie es der Soldat mit der Hellebarde hat. Die vielen Einzelnheiten des Bildes, die auf Werken des Jan zu belegen sind, machen es un- wahrscheinlich, daß es sich um eine freie Erfindung eines Nachahmers handelt, der aus einer ganzen Reihe von Bildern des Meisters Entlehnungen hätte machen müssen. Fast von den meisten be- rühmten Werken der altniederlandischen Malerei haben sich Kopien oder mehr oder weniger freie Re- pliken erhalten. So besitzen wir bekanntlich von den Hauptwerken des Rogier vielfach mehrere Exemplare, unter welchen zuweilen schwer das Originalbild zu bestimmen ist. Aber auch bei anderen Künstlern der altniederländischen Schule sind Wiederholungen keine Seltenheit. Minder talentierte Maler benützten noch nach mittelalterlicher Art ohne Bedenken Erfindungen größerer Meister und für die Kopien scheint man ebenso Besteller gefunden zu haben wie für die Originalwerke. Auch von den meisten Bildern Jans besitzen wir Kopien und Wiederholungen, und wenn sich von einer seiner Erfindungen nur ein Exemplar erhalten hat, ist es nicht autfallend, daß es nicht gerade das Ori- ginal ist. Für eine Entstehung der Richmonder Kopie erst nach dem Tode Jans spricht aber sowohl das Kolorit, welches nicht jene an Moretto erinnernde silbergraue Stimmung hat, die den Bildern Jans eigen- tümlich ist, sondern mehr in gelbbraunen Tönen gehalten ist, die an Bilder der zweiten Generation der 240 Max Dvofäk. niederländischen Malerei gemahnen, als auch die vielbewunderte Abendstimmung, die der Maler der Landschaft zu verleihen \vu(3te. Die auf einem Hügel im Hintergrunde sich erhebende Stadt wird grell von der untergehenden Sonne beleuchtet. Auch bei den Landschaften Jans leuchten in der nebligen Ferne einzelne Farben und Lichtflecken auf, so wie es der Maler in der Natur beobachtet haben mag; aber auf keinem der authentischen Bilder finden wir diese Beobachtung mit einer bestimmten momen- tanen atmosphärischen Luftstimmung verbunden. Erst der Kopist mag ihr eine solche Deutung gegeben haben, die am Anfange des Jahrhunderts beispiellos, in den Werken des Dirck Bouts und seiner Zeitgenossen jedoch keine Selten- heit ist. Es gibt auch eine äußere Be- stätigung für diese Datierung. Auf dem Bilde ist das Wappen der Familie de Commines gemalt, und da es von einer Kette des Michaels- ordens umgeben ist, kann es sich nur um das Wappen des Histori- kers und Staatsmannes Philippe de Commines handeln, der im Jahre 1477 den Michaelsorden erhalten hat. ' Das Original Jans dürfte sich wohl in einer Kirche befunden haben und die Annahme, daß Phi- lippe sein Wappen darauf hätte malen lassen, wie Friedlander ver- mutet, ist wenig wahrscheinlich. Der größte Historiker Frankreichs besaß eine glänzende humani- stische Bildung und war ein eifri- ger Sammler von Kunstwerken ^ und so mochte diese Wiederholung von einem berühmten Bilde Jans für seine Schatzkammer oder Ka- pelle gemalt worden sein. 4. Die Stigmatisation des heil. Franziskus in Turin. Die- ses Bild enthält eine Komposition, welche besonders berühmt oder beliebt gewesen sein muß. Sie hat sich in zwei alten Repliken erhal- ten und wurde noch von dem Meister des Todes Maria benützt und von Patinir wiederholt. Daß ihre Erfindung, wenn einem von den Brüdern, so Jan und nicht Hubert zugeschrieben werden muß, kann aus denselben Gründen als unzweifelhaft angesehen werden, die wir bei den früher besprochenen Bildern geltend gemacht haben Fig. 33. Petrus Kristus, Madonna mit dem Stifter. Berlin, königl. Gemäldegalerie. ' Kervyn de Lettenhove, Lettres de Philippe de Commines I, 161. Kaemmerer vermutet, daß es sich um die Insignien eines Jakobsritters handelt; doch der St. .lagoorden kommt nicht in Betracht und der holländische Jakobsorden, der im XIII. Jahrhundert existiert haben soll, scheint eine Erfindung der Schriftsteller des XVII. Jahrhunderts zu sein. ^ Kervyn de Lettenhove, Lettres II, 340 ff. Das Rätsel der Kunst de und die wir hier wiederholen könnten. Daß das Turiner Exemplar nicht das Original ist, dürfte noch deutlicher sein.^ Von den Eigentümlich- keiten der eigenhändigen Werke Jans besitzt das Bild auch nicht die geringste Spur mehr. Der aus Platten und Würfeln bestehende Felsen, die runden Bäume im Mittelplane, deren Laub- werk wie an den Bildern des Petrus Kristus durch ganz kleine Punkte gemalt ist, die spitzigen Fel- sen im Hintergrunde mit Büschen auf den Spitzen, wie sie Bouts anwendet, die willkürliche Häu- fung der Falten, die groben Hände, die Augen des Franziskus, deren Unterlid wie bei Petrus Kristus oder Ouvater nur ganz wenig, das Ober- lid sehr stark gebogen ist: das sind alles Eigen- tümlichkeiten, nach welchen die Entstehung des Bildes in das dritte Viertel des Jahrhunderts ver- legt werden muß. Das Original Jans mag darin weder ganz treu noch ganz frei wiederholt sein. Die Figuren erinnern in mancher Beziehung an Ouvater, die Landschaft an Bouts und so dürfte der Kopist in der Nähe dieser Maler zu suchen sein. 5,6. Die Madonna mit dem Kartäu- ser in der Sammlung Rothschild und die Bourleigh-House-Madonna in Berlin. Die Madonna Rothschild könnte man nur dann für ein Werk Huberts erklären, wenn man auch die Madonna des Kanzlers Rolin ihm zuschreiben wollte; daß jedoch diese ein Werk Jans ist, steht, wie wir bereits sagten, außerhalb jeder Dis- kussion, und daß sie mit der Kunst Huberts in keiner Beziehung mehr etwas zu tun hat, geht aus allen bisherigen Ergebnissen unserer Unter- suchung unzweifelhaft hervor. Beide Bilder sind zwei verschiedene, doch mit denselben male- rischen Mitteln ausgeführte Fassungen einer und derselben Idee und stimmen gegenständlich und stilistisch so überein, wie man es «im ganzen Bereich der niederländischen Kunst bei verschie- denen Meistern nie findet» (Tschudi). Fraglich könnte nur sein, ob nicht das Rothschild'sche Bild als eine Nachahmung der Louvre-Madonna betrachtet werden muß, wie von Kaemmerer be- hauptet wurde, der das Bild für ein Werk des Petrus Kristus erklärte. Es weist zweifellos Mängi sein scheinen, wie z. B. den hölzernen Körper des Brüder van Eyck. 24 I Fig. 34. Petrus Kristus, Verliündigung und Geburt Christi. Berlin, königl. Gemäldegalerie. auf, die mit der Meisterschaft Jans unvereinbar zu Christuskindes und die auffallend leeren Köpfe der ' Das Exemplar in der Sammlung des Herrn John G. Johnson in New- York, von dem ich eine Photographie der freundlichen Vermittlung Herrn Berensons verdanke, ist eine Wiederholung des Turiner Bildes aus dem XVI. Jahrhunderte. XXIV. 34 242 Max Dvofäk. Heiligen Barbara und Elisabetii. Manches davon mag auf die schlechte Erhaltung des Bildes zurück- zuführen sein, welches nicht nur eine Anstückelung sondern auch eine starke Restaurierung erfahren hat, wie man sich z. B. an den zu einer formlosen Masse zusammengeschmolzenen Haaren der heil. Barbara oder an der barocken Kuppel überzeugen kann, mit welcher der Restaurator einen mittelalter- lichen Turm im Hintergrunde ausgestattet hat. Die unversehrten Teile des Bildes weisen jedoch die Formengebung und Malweise Jans so überzeugend und schlagend auf, daß man an der Autor- schaft Jans gar nicht zweifeln kann und im allgemeinen heute wohl nicht mehr zweifelt. Die Berliner Madonna mit dem Kartäuser ist bekanntlich eine abgekürzte Wiederholung des Rothschild'schen Bildes. Das Bildnis des Kartäusers hat der Maler treu bis auf ganz geringfügige Änderungen nach der Pariser Tafel kopiert. Ein Vergleich der Gestalten auf den beiden Bildern lehrt uns, daß das Verhältnis nicht umgekehrt gewesen ist und daß die Berliner Wiederholung weder aus derselben Zeit sein kann noch von demselben Meister wie das Pariser Original. Die Körperformen und Gewandfalten haben die scharfe und sichere Zeichnung, die elementar herbe Charakteristik, zu- gleich aber auch ihren Stil eingebüßt; der Kopist hat sie in Gemeinplätze verwandelt und damit trotz aller Treue der Wiederholung ganz und gar verändert. Als ein Beispiel dafür beachte man z. B., wie die bei der Pariser Figur stofflich begründete Fältelung des linken Armeis auf der Berliner Kopie zu einem sinnlosen ornamentalen Schnörkel geworden ist. Im gleichen Verhältnisse zu dieser Verflachung der Zeichnung steht das Bestreben des Kopisten, die malerische Helldunkelwirkung des Porträts zu ver- größern, wobei er jedoch weder Ängstlichkeiten noch Kleinlichkeit zu vermeiden wußte. Diese Umgestaltung des Originals deutet uns schon an, daß wir den Urheber des Berliner Bildes wohl unter den Schülern und Nachahmern Jans zu suchen haben, deren Bestrebungen den Ver- änderungen der Vorlage genau entsprechen. Wem von ihnen das Bild zuzuschreiben ist, hat bereits Kaemmerer richtig bestimmt. Denselben ornamentalen Schnörkel wie auf dem linken Ärmel des Kartäusers finden wir oft an derselben Stelle bei den Figuren des Petrus Kristus und auch die Hände des Stifters führen uns auf diese Spur. Zur vollen Gewißheit machen diese Bestimmung die übrigen Teile des Werkes, die mit Benützung der Motive des Pariser Bildes von dem Nachahmer selbständig erfunden wurden. Wollten wir alle for- malen Übereinstimmungen der Bourleigh-House-Madonna mit den Werken des Petrus Kristus er- wähnen, der zumeist, was er gemalt hatte, oft wiederholt, so müßten wir alle Teile des Bildes Linie für Linie beschreiben. Nur auf einiges sei hingewiesen. Unverkennbar sind die Frauenköpfe des Petrus Kristus, die fast immer in gleicher Gestalt wiederkehren. Als Beispiel vergleiche man die Köpfe der Madonna und heil. Barbara des Berliner Bildes mit den Köpfen der Madonna oder des Verkündigungsengels auf dem bezeichneten Altärchen, welches sich ebenfalls in Berlin befindet. Unverkennbar sind auch seine Hände, die wir z. B. an denselben soeben genannten Figuren ver- gleichen können. Die Ohren haben die für ihn charakteristische, schon früher besprochene Form. Das Jesukindlein kehrt mit gleichem Kopf und Körper auf dem Frankfurter Bilde wieder, an dem auch der Kopf des heil. Franziskus als ein Gegenstück zu der kraftlosen Modellierung des Mönchs- kopfes auf dem Berliner Bilde verglichen werden kann. Als eine auffallende Eigentümlichkeit des Petrus Kristus können noch die merkwürdige Augenstellung der Barbara oder die Darstellung der Frauen- haare in geteilten Strähnen, die wie Schraubenzieher aussehen und in einzelne strickartige Haare aus- laufen, oder die manirierte Linie der Goldbordüre am Mantel der Madonna genannt werden. Wenn irgendwo der Meister mit voller Sicherheit genannt werden kann, so ist es hier. Da das Berliner Bild jedenfalls um Jahre, vielleicht um Jahrzehnte später gemalt wurde als das Pariser, könnte man sich fragen, wie es dann möglich ist, daß auf beiden Bildern derselbe Stifter nach derselben Aufnahme dargestellt wurde. Dafür gibt es natürlich eine Reihe von Erklärungen, doch eine scheint mir besonders wahrscheinlich zu sein. Weale hat ohne Angabe der Quelle, doch als einen Auszug aus einem alten Dokumente eine Nachricht veröffentlicht, der zufolge auf dem Bilde Hermann Steenken aus Suntdorp, Vikar des Kar- täuserklosters der heil. Anna ter Woestine bei Brügge, dargestellt sein soll. Trotz der bedenklichen Art Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. der Wiedergabe dieser Nachriclit sciieint sie doch richtig zu sein; denn aus einem anderen Berichte er- fahren wir, daß Pater Hermann ein besonderer Verehrer der heil. Barbara gewesen sei und zu ihr betend einmal in volle Verzückung geraten ist. Er ist im Jahre 1428 gestorben und wurde als Heiliger verehrt. Das Rothschild'sche Bild konnte wohl noch zu seinen Lebzeiten entstanden sein, in den ersten Jahren des Aufenthaltes Jans in Brügge; daß aber von dem Bilde eines als heilig verehrten Mannes später eine Replik gemacht wurde, ist nichts Auffallendes. 7. Der Lebensbrunnen in Madrid. Es gibt kein Bild, welches so oft und so bestimmt als ein W^erk Huberts bezeichnet worden wäre wie dieses, und da es Züge aufweist, die in der Kunst Jans und seiner Zeitgenossen nicht nach- gewiesen werden können, müssen wir uns mit dieser Zuweisung etwas ausführlicher auseinander- setzen. Bürger und Cavalcaselle haben es für Jan van Eyck erklärt, Waagen für die Kopie nach einem Originale Huberts, welche Meinung auch neuerdings wieder von Weale vertreten wurde und der auch Bode zugestimmt hat, wogegen Justi und Tschudi es für eine mehr oder weniger treue Wiederholung eines Werkes Jans halten. Kaemmerer dachte an Petrus Kristus, Voll bezeichnete das Bild als ein von einem Nachahmer mit Benützung einzelner aus dem Genter Altare geraubten Figuren zusammen- gestelltes Werk. Seeck nahm es wiederum in die Liste der Werke des Hubert auf, was neuerdings hie und da wiederholt wurde. In einem der kleinen meisterhaften Aufsätze Justis finden wir alles, was über die Provenienz und Deutung des Bildes ermittelt werden kann. Unzweifelhaft kann das Bild im Prado weder ein Original Huberts noch Jans sein. Es für Hubert in Anspruch zu nehmen, ist schon aus den oben angeführten Gründen ganz ausgeschlossen; es ist die Technik und der Stil Jans, von dem der Meister dieses Bildes ausgeht. Aber auch von Jan selbst kann es nicht sein, wie bereits Justi hervorgehoben hat; denn «es hat weder viel noch wenig von seiner Hand und Tonalität, am wenigsten von seiner gediegenen Feinheit». Für die Annahme, daß wir es mit einer Kopie nach einem verschollenen Werke Huberts oder Jans zu tun haben, scheint die Beschreibung zu sprechen, welche uns Poncz in dem Berichte über seine Reise durch Spanien von einem Bilde der Kathedrale zu Palencia hinterlassen hat und welche der Pradotafel zu entsprechen scheint. Doch stammt die letztere nicht aus Palencia sondern aus dem Kloster Parral bei Segovia; auch widerspricht die «unendliche Ausführlichkeit, deren gleichen zu finden auch in jenem alten Stil nicht möglich sei», einer Identifizierung mit dem Madrider Bilde. Poncz sah von dem Bilde in Palencia «algunas copias» in Castilien «pero infinitamente distantes de la exacta execucion» des Originals. Eine dieser Wiederholungen könnten wir in dem erhaltenen Bilde ver- muten. Es frägt sich nun, ob uns diese vermeintliche Kopie einen Schluß auf den Urheber des ver- schollenen Originals gestattet. Auch in dieser Richtung scheint uns jede Beziehung zu Hubert ausge- schlossen zu sein. Einzelne Figuren erinnern wohl ikonographisch an Huberts Gestalten vom Genter Altare; doch ebenso deutlich erinnern andere Figuren an Gestalten Jans, was an und für sich der Zuweisung an Hubert widersprechen dürfte, da wir kaum annehmen können, daß Jan Figuren aus einem älteren Bilde Huberts wiederholt oder nachgeahmt hätte. Überdies tragen diese Gestalten und das ganze Bild nicht nur in der Ausführung sondern auch in der ganzen Komposition die Signatur der Kunst Jans. Auf einen Zusammenhang mit dem neuen Stile weist die freie perspek- tivische Behandlung der Gruppen zu beiden Seiten des lebenspendenden Brunnens, das Bestreben, jeden Kopf der Vertreter des alten und neuen Bundes porträtmäßig individuell zu gestalten, der zwang- lose und reiche Faltenwurf und die Malweise, die ganz und gar bereits auf den Neuerungen Jans be- ruht. Weder in den Typen noch in den Formen finden wir an dem Bilde wie an den Tafeln Huberts eine unmittelbare Abhängigkeit von den Gewohnheiten der Trecentomalerei, die doch unbedingt auch bei der Kopie zutage treten müßten, falls sie an dem Originale vorhanden gewesen wären. Eine Abhängigkeit von Jan äußert sich dagegen in jeder Beziehung, und zwar beruht sie nicht nur auf den allgemeinen Prinzipien der Kunst Jans sondern besteht in einer direkten Nachahmung 34* 244 Max Dvofäk. seiner Formengebung und der malerischen Eigentümlichkeiten seines Stiles. Das ist gar zu offen- kundig, als daß es notwendig wäre, es im einzelnen zu belegen. Als ein Spezimen möge man die Hände betrachten, die ebenso zierlich sein sollen wie die Hände auf den Werken Jans, oder die Art, wie die Haare der Madonna, des Johannes, der Engel gemalt sind oder wie breite Glanzlichter an den Gewändern angebracht werden. Falls also die Tafel wirklich eine Wiederholung eines Bildes von einem der Brüder van Eyck sein sollte, so hätte das Original nur ein Werk Jans sein können. Ob wir aber das Bild in der Tat als eine halbwegs treue Kopie nach einem Originale Jans be- trachten können, wird wohl nie bestimmt zu entscheiden sein. Sowohl die künstlerischen Qualitäten des Bildes als auch einzelne äußere Eigentümlichkeiten scheinen dagegen zu sprechen. Es ist kaum wahrscheinlich, daß an einem Bilde Jans die Nichtbeachtung der natürlichen Größeverhältnisse so groß und auffallend gewesen wäre wie an dem Madrider Bilde, wo nicht nur die Engel den übrigen Figuren gegenüber unverhältnismäßig klein sondern auch die vorderen unter ihnen viel kleiner sind als die hinteren, und zwar bei einer Anlage, die nicht erst der Kopist verschuldet haben könnte. Während sich die Vertreter der Kirche und Synagoge ziemlich genau an Gestalten Jan van Eycks anschließen, kann bei den Engeln nur von einer beiläufigen Ähnlichkeit die Rede sein. Auch die architektonischen Formen der großen Schaubühne entsprechen nicht den Gewohnheiten Jans. Eine Reihe von Bildern bezeugt uns bekanntlich die große Vorliebe Jans für architektonische Darstellungen und die unermüd- liche Sorgfalt, die er ihnen zu widmen pflegte. Er verwendet wohl bei ihnen romanische und gotische Formen, aber stets schließen sich seine Darstellungen entweder bestimmten oder doch zum mindesten in seiner Zeit und in seiner Heimat möglichen und wahrscheinlichen Bauten an und architektonische Darstellungen, die wir als seine Erfindung betrachten können, sind mit demselben und mit ebenso großem Stilgefühl erfunden, als wenn sie ein gleichzeitiger französischer oder niederländischer, und zwar ein hervorragender Architekt konstruiert hätte. Der architektonische Aufbau des Lebensbrunnens ist ganz anders beschaffen. Eine phantastische Scheinarchitektur, ist er wie alte Theaterdekorationen aus verschiedenen architektonischen Motiven ohne Verständnis für die tatsächliche architektonische Bedeutung und Verwendung dieser Motive und ohne Zusammenhang mit der so einheitlichen und logisch konsequenten gleichzeitigen monumentalen Baukunst zusammengesetzt. Wuchtige Strebepfeiler werden angebracht, wo es nichts zu stützen gibt, und ohne die zu ihnen gehörigen Mauern schlanke Säulen einfach auf sie gestellt; die Türme, welche das Gehäuse flankieren, verändern plötzlich ihre Basis und werden über Eck gestellt und die Nische, vor welcher Gott Vater thront, wird dadurch gebildet, daß zwei Fensterumrahmungen neben- einander gestellt werden und wie die Rippen einer Wölbung in einem Schlußsteine verlaufen. Doch es kann kein Bau so wunderlich oder märchenhaft sein, daß er nicht in seinen Formen wie auch in seiner allgemeinen Gestalt von bereits bestehenden baulichen Schöpfungen ausgehen würde, und da gibt es bei der Architektur des Lebensbrunnens vieles, was uns an spanische Vorbilder und Gewohn- heiten denken läßt. Am deutlichsten ist es vielleicht bei den Fenstern, die durch Bögen in maurischer Hufeisenform abgeschlossen sind. Es ist dies ein Motiv, welches wir in der nordischen Architektur dieser Zeit nicht finden, welches aber in Spanien geläufig war. Auch der ganze dekorative Charakter der Architektur des Pradobildes erinnert mehr an spanische Skulpturen als an französische oder nieder- ländische Bauten. Als das Werk eines spanischen Holzschneiders oder Steinmetzen würde uns eine solche Custodia kaum überraschen. Es wäre allerdings möglich, für den spanischen Charakter dieser Burg des Glaubens auch bei Jan eine Erklärung zu finden; denn er war ja auf der Halbinsel. Das wäre unbedingt zu erwägen, wenn wir nur irgendwie vermuten könnten, daß es sich um die Erinnerung an bestimmte spanische Sachen handeln könnte. Es ist jedoch kaum anzunehmen, daß der geniale Gast aus der Fremde seine Wirte durch eine sinnlose und rohe Zusammenstoppelung einheimischer Motive hätte ehren oder zu Hause über das Gesehene in dieser Weise berichten wollen. Es hat ja selten einen so sachlichen Berichterstatter gegeben, wie es Jan van Eyck gewesen ist. Dilettantenhafte Mißverständnisse und Phantastereien können wir bei ihm von allen Künstlern jener Zeit am wenigsten erwarten. Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. So liegt es viel näher, den Ursprung dieser Architektur dort zu suchen, wo ihre Art und Motive zu Hause gewesen sind. Man kann einem gleichzeitigen spanischen Maler wohl zumuten, was bei Jan als ausgeschlossen betrachtet werden muß. Die feine Empfindung für architektonische Werke und die auf ihnen beruhenden stilistischen Gesetze, wie sie die Werke Jans auszeichnet, konnte nicht so leicht nachgeahmt werden wie bestimmte Typen und Formen. Dazu kommt noch, was man bisher über- sehen hat, daß das Madrider Bild nur teilweise der Beschreibung des Poncz entspricht. Ganz scheint nur die Gruppe der Juden mit dem Bilde zu Palencia übereinzustimmen, die gegenüber gemalte Gruppe deutet Poncz schon als «Doctores de la Iglesia Grega y Latina», wogegen in dem Pradobilde die Vertreter der verschiedenen Stände des Christentums dargestellt sind. Das könnte man immerhin durch einen Irrtum erklären. Auch die Angabe, daß oberhalb dieser Gruppen die Dreifaltigkeit dargestellt sei, wogegen auf dem Madrider Lebensbrunnen nur Gott Vater und das Lamm zu finden sind, oder daß zur Rechten Gottes Johannes der Täufer sitze, wo- gegen wir auf dem Bilde den Evangelisten fin- den, könnte man als eine Verwechslung oder schlechte Erinnerung auffassen. Kaum ist dies aber der Fall mit der Nachricht, daß zu beiden Seiten der heil. Dreifaltigkeit auch die Apostel «y otras figuras» gemalt seien. Stimmt aber das Bild mit der Beschreibung nicht überein, so ent- fällt vollends jeder Grund, es für eine treue Kopie eines Eyck'schen Originals zu halten. Es kann jedoch auch über die Entstehungs- zeit der Tafel kein Zweifel sein. Die richtige Spur scheint uns bereits Kaemmerer gefunden zu haben, der das Bild vermutungsweise Petrus Kri- stus zugewiesen hat. Von Petrus Kristus selbst ist es sicher nicht, weder die Komposition noch die Formengebung entspricht seiner Eigenart; doch weist das Bild Züge auf, welche an seinen Stil erinnern. Die Köpfe der Madonna und des Johannes gemahnen an seine Typen und auch die Engel stehen seinen Figuren näher als den Schöpfungen Jans. Auch die scharfe Licht- und Schattentrennung, die nachlässige, gar nicht mehr ins Detail eingehende Malweise, der Verzicht auf Prunk und Glanz stellen Beziehungen zu der auf Jan folgenden Generation her. Das Hieronymitenkloster zu Parral, aus welchem das Bild stammt, wurde im Jahre 1447 gegründet und im Jahre 1459 eingeweiht und da die dem Formate des Bildes entsprechende Mauernische, in der die Tafel gehangen hat, bereits beim Baue entstanden ist, so dürfte es doch am wahrscheinlichsten sein, daß das Bild nicht nur in dieser Zeit in das Kloster gekommen ist sondern auch für dasselbe gemalt wurde, was auch durch seinen Stilcharakter bekräf- tigt wird. Fig. 35. Luis Dalmau, Der Brunnen des Lebens. Madrid, Pradomuseum (Ausschnitt). 246 Max Dvofäk. Doch in diesen Jahren wäre ein ähnliches Gemisch von letzten Errungenschaften und primitiven Barbarismen bei einem Niederländer erst recht unerklärlich. Es hat schon Waagen hervorgehoben, daß die Ausführung des Bildes keinem der bekannten Meister der Schule Jan van Eycks zugeschrieben werden kann, obwohl es unzweifelhaft in ihrer Zeit entstanden ist. So führt uns alles zu dem Schlüsse, daß der Meister des Bildes, der einen so wunderlichen Stil malt, kein Niederländer gewesen sein kann. Das müßte man als sicher betrachten, auch wenn es nicht möglich wäre, diesen Künstler zu nennen. Fig. 36. Luis Dalmau, Madonna mit Stiftern und Heiligen. Barcelona, städt. Museum. Es gibt jedoch einen gleichzeitigen spanischen Maler, auf den alles das genau paßt, was über den Meister der Pradotafel gesagt werden konnte. Auf einem des öfteren in der Literatur erwähnten Altarwerke in Barcelona nennt er sich Luis Dalmau, was nach Justi, dem wir eine Studie über ihn verdanken, einen Einwohner von Barcelona be- deutet. Wir wüßten kaum etwas von ihm, wenn uns nicht zufällig die Inschrift seinen Namen er- halten hätte. Der Retablo, eine Stiftung der Ratsherren von Barcelona, die ihn mit ihren Bildnissen schmücken ließen, ist nicht nur ein Werk der neuen niederländischen Richtung sondern erinnert in jeder Be- ziehung so stark an die Werke des Jan van Eyck, daß Justi gewiß recht hat mit der Ansicht, daß Dal- Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 247 mau den «persönlichen Unterricht des Meisters genossen haben muß». Außer von Petrus Kristus können wir es nur von diesem Catalonier mit Bestimmtheit behaupten. Unter einer sonderbaren Architektur, die etwa an einen Chorabschluß erinnern könnte, sitzt die Madonna mit dem Jesukinde auf einem Throne, dessen Lehnen durch zwei sitzende Heiligenfiguren geschmückt sind. Auch die Pfeiler der Nische, die den Thron umfaßt, sind mit Heiligenstatuen unter gotischen Baldachinen geschmückt. Wir werden hier etwa an die Kirchenhalle des Dresdener Altär- chens von Jan van Eyck erinnert; nur ist der Kirchenraum bei Dalmau stark abgekürzt und will- kürlich umgestaltet. Nur die einzelnen verwendeten Motive entstammen der gleichzeitigen Archi- tektur, der Gesamtbau ist dagegen eine bizarre, an kein bestimmtes Vorbild sich anlehnende Er- findung des Malers, ähnlich wie der Aufbau des Lebensbrunnens. Das Bild scheint nur aus Remi- niszenzen an Jans Werke entstanden zu sein. Die Madonna steht ebenfalls der Dresdener Maria nahe, die knienden Figuren der Stifter sind nach dem Vorbilde des Jodocus Vydts entstanden, die heil. Eulalia ist deutlich durch den bei Jan van Eyck geläufigen Typus der heiligen Frauen beeinflußt und die singenden Engel sind nur eine neue Redaktion der berühmten Engelschöre des Genter Altares. Der heil. Andreas ist dagegen einer der griesgrämigen Gesellen, die Hubert in der linken Heiligen- gruppe in der Anbetung des Lammes gemalt hat. Auch bei dem Lebensbrunnen fanden wir Anklänge an Hubert'sche Figuren. Auch anderweitig finden wir bei Dalmau eine Verknüpfung der letzten Errungenschaften der niederländischen Malerei mit Stileigentümlichkeiten, die in der Heimat des neuen Stiles schon über- wunden und aus der Malerei verschwunden waren. Dazu gehören vor allem die Engelsköpfe, die trotz aller Anlehnung an den Genter Altar doch mittelalterlich karikaturenhaft erscheinen; oder die Land- schaft, die, obgleich sie nur aus Motiven der Landschaften Jans besteht, doch noch recht primitiv aus- gefallen ist. So gehört der Retablo in Barcelona wie das Pradobild einer Kunst an, die sich nebst bestimmten Reminiszenzen fast alle Darstellungsmittel der Malerei des Jan van Eyck angeeignet hat, ohne sie jedoch in derselben freien Weise benützen zu können, wie es ihre Erfinder vermochten, und ohne das ganze Bild diesen Darstellungsmitteln entsprechend zu gestalten, wie es in den Niederlanden gar nicht anders möglich war. Wir finden in der gleichzeitigen deutschen Malerei ähnliche Erschei- nungen. Es sind die Kennzeichen einer Kunst, bei der ein neuer Stil aus der Fremde entlehnt wurde, wobei seine organische Verbindung mit dem gesamten Kunstvermögen noch lückenhaft geblieben ist. Wir besitzen also in der Tafel zu Barcelona einen unzweifelhaften Beleg, daß die Eigenart des Lebens- brunnens wirklich als die der gleichzeitigen spanischen Malerei zu betrachten ist. Die Ubereinstimmung mit dem Bilde des Dalmau beschränkt sich Jedoch nicht nur auf diese allge- meinen Züge; ein genauer Vergleich lehrt uns, daß beide Werke nicht nur die Erzeugnisse eines und desselben provinzialen Stiles sondern auch eines und desselben Künstlers sind. Als ein Schulgut könnten noch einige besonders auffallende Motive in der Architektur aufgefaßt werden, wie z. B. die maurischen Kielbogen, die wir auf beiden Bildern finden, die Verwendung der Vierpässe als einer Maß- werkdekoration in einer Art, die den architektonischen Gewohnheiten widerspricht, oder die Aus- schmückung des Baues durch unmotivierte, stalaktitenartig herunterhängende Schlußsteine. Die Ver- wandtschaft der Madonnen auf beiden Bildern ist Jedoch bereits größer, als daß sie durch eine gemein- same Schulüberlieferung erklärt werden könnte. Besonders der merkwürdig lange Hals und die steife Haltung des Kopfes sind dafür bezeichnend. Die Modellierung stimmt ganz und gar überein, so auch die Darstellung der Haare. Die nachlässige Andeutung des Faltenwurfes, die wir bei der Madonna in Barcelona beobachten können, wiederholt sich in der Gewandung der Juden im Lebensbrunnen. Dort und da wechselt sie mit einer Gewandbehandlung ab, die geradezu als plastisch zu bezeichnen ist. Die zwei vornehmsten Qualitäten der Gewanddarstellung des Jan van Eyck, nämlich die Beherrschung der Form und das Vermögen, die stoffliche Eigentümlichkeit der Gewänder malerisch darzustellen, treten hier gesondert und als eine angelernte und verständnislos angewendete Äußerlichkeit des Neo- phyten entgegen. Gleich ist die Art und Weise, wie die Engel auf dem Barceloner Altare in den Fensteröffnungen, auf dem Madrider Bilde in den Türmen untergebracht wurden, und gleich sind 248 Max Dvofäk. auch die Engel selbst; es sind fast dieselben Gruppen mit denselben Köpfen, mit denselben preziösen Bewegungen. Die Augen sind in derselben Weise gezeichnet und auf beiden Bildern wiederholt sich der einmal stechend scharfe, ein andermal seelenlos glotzende Blick, der jedoch im wesentlichen derselbe ist und eine Nachahmung des ruhigen Vorsichhinblickens werden sollte, wie es Jan zu malen pflegte. Dasselbe wiederholt sich bei den Händen. Man vergleiche z. B. die Hände der Rats- herren mit den Händen des vor dem Lebensbrunnen knienden Kaisers und Königs, die Hand der heil. Eulalia mit den Händen des judischen Hohenpriesters, die Rechte der Madonna mit den Händen des ein Schriftband haltenden Engels, die Linke des Andreas mit den Händen des Juden, welcher sich sein Kleid zerreißt. Alle diese Hände gehen deutlich von den Formen Jans aus, es fehlt ihnen jedoch sowohl die unvergleichliche Schönheit der Vorbilder als auch, wie bereits Justi hervorgehoben hat, «die flan- drische Ausführlichkeit». Die kräftige Betonung der charakteristischen Formen, wie sie die Hände Jans aufweisen, ist hier wiederum zu einer Schablone geworden, die auf beiden Bildern die gleiche ist. Wenn wir aber auch noch die Hände Gott Vaters, der Madonna, des Johannes und der Mehrzahl der Engel zum Vergleiche heranziehen, so finden wir diese Relationen noch einmal bestätigt mit einer fast doku- mentarischen Bestimmtheit. Es sind ganz unmögliche Hände mit haardünnen, substanzlosen und in geradlinigen Winkeln an willkürlichen Stellen gebrochenen Fingern, die etwa an steifgegliederte Marionettenhände erinnern. Und dieselben sonderbaren Hände finden wir auch bei den Engelschören auf dem Retablo zu Barcelona. Auch ihnen liegen Formen des Jan zugrunde, der, wie wir gehört haben, zierlich gebaute Hände bevorzugte und besonders Frauenhände unendlich zart und delikat zu gestalten wußte. So hat auch hier der Nachahmer individuell künstlerische und ungetrennt im Wesen seiner Kunst wurzelnde Vorzüge des Meisters als erlernbare Normen aufgefaßt und sich an- geeignet, um sie getrennt nach jeweiligem Ermessen als bestimmten Aufgaben zukommende Lösungen zu verwenden. In welchem Verhältnis Spanien zu der französischen und niederländischen Kultur und Kunst im XV. Jahrhundert gestanden ist, beweisen noch klarer als literarische Zeugnisse die großen Kathedralen, in welchen alles, was die Kunst der großen Kunstzentren des Nordens hervorgebracht hatte, mit einer fast orientalischen Prunkliebe in glänzendster Weise, doch auch in einem im Vergleiche zu den Vor- bildern etwas stillosen Reichtum vereinigt wurde. Trotz aller italienischen Einflüsse beruht im XV. Jahrhundert die ganze Kultur in Spanien wie in England in jeder Richtung auf denselben Grund- lagen wie in den Niederlanden und es ist kaum zu wundern, daß sich diese Abhängigkeit schon so früh auch in der Malerei geltend macht. Es ist bereits Waagen aufgefallen, daß der Lebensbrunnen nicht in allen Teilen gleichwertig ist. Der untere Teil mit den beiden Gruppen der Vertreter des alten und des neuen Bundes ist unver- gleichlich besser komponiert und durchgeführt als die darüber befindlichen Gruppen und Gestalten. Waagen glaubte daraus schließen zu können, daß zwei ungleich talentierte Künstler das Werk ge- schaffen haben, ^ was bei der vollen Identität der Formen und der Malweise gewiß ausgeschlossen ist. Eine andere Erklärung bietet sich dadurch, daß der untere Teil des Bildes der Poncz'schen Beschreibung ziemlich genau entspricht, wogegen der obere Teil von ihr abweicht. Besonders was wir über die eine Gruppe lesen (a un lado se ve un sacerdote de la ley antigua con estandarte roto y algunos doctores o rabinos con muy tristes semblantes) könnte wörtlich auch auf das Bild des Dalmau bezogen werden. Dazu kommt, daß gerade diese Teile des Bildes auch stilistisch am meisten an Jan van Eyck erinnern, und so mag vielleicht der Sachverhalt der sein, daß Dalmau einzelne Elemente der Komposition wirk- lich von Jan van Eyck entlehnte, doch das ganze Werk zu einer selbständigen und freien Wieder- holung gestaltet hat, was ebenso dem kompilatorischen Wesen seiner Kunst als einer in seiner Zeit allgemeinen Gewohnheit entsprochen hat. ' In Jahns Jahrbüchern I, 40 fF. Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 249 So lehrt uns die Betrachtung der Bilder, die man noch in den letzten unserer Frage gewidmeten Schriften mehr oder weniger bestimmt und übereinstimmend für Arbeiten Huberts erklärte, im Gegen- teil, daß sie alle nicht nur einem anderen Maler sondern auch einem anderen allgemeinen Stile ange- hören. Man kann unter ihnen ebenso wenig ein Werk Huberts suchen und finden als ein Bild Am- brogio Lorenzettis oder Orcagnas unter Gemälden, die bereits die Stilprinzipien Masaccios und Dona- tellos aufweisen. Da nun aber wenig Hoffnung vorhanden ist, daß man vielleicht anderweitig Bilder Huberts entdecken könnte, so werden wir uns wahrscheinlich immer mit jenen begnügen müssen, welche wir als seinen Anteil an dem Genter Altare festgestellt haben. Ein Glück, daß wir uns nach diesen einzigen Dokumenten der Malweise Huberts ein hinreichendes Bild von den Eigentümlichkeiten seines Stiles machen können. P^ür drei der vermeintlichen Arbeiten Huberts hoffen wir den endgültigen Beweis gebracht zu haben, daß sie als Werke Jans betrachtet werden können, und zwar als Werke, die uns die Kunst Jans nicht mehr so ganz als eine «gleich in voller Rüstung aus dem Haupte des Zeus gestiegene Pallas Athene» zeigen sondern sie wenigstens in den Grenzen der persönlichen Entwicklung des Meisters in ihrer allmählichen Entstehung erkennen lassen. Auch das Nachleben und Nachwirken dieses Jugend- stiles Jans konnten wir bis zur vollen Umwertung und Verprovinzialisierung verfolgen. Nachdem wir das Material in dieser Weise gesichtet und geordnet und nachdem wir den Stil Huberts so weit festgestellt haben, als er nach den unzweifelhaften dokumentarischen Nachrichten und den erhaltenen Denkmälern festzustellen war, können wir zu der Frage zurückkehren, von der wir ausgegangen sind. Es scheint nun klar zu sein, wer von den beiden Brüdern der Begründer des neuen Stiles gewesen ist oder wenigstens sein könnte. Hubert gewiß nicht; denn er war ein Künstler der alten Richtung. Das Wesen der neuen Richtung bestand hauptsächlich in einerneuen Auffassung und Darstellung der Natur. Man hat begonnen, die Naturtreue eines Kunstwerkes in einer anderen Weise zu erstreben und nach einem anderen Maßstabe zu bemessen als bisher, was ja zu allerletzt die Quelle aller Stilwand- lungen ist. Die neue Auffassung der Naturtreue unterschied sich von der älteren hauptsächlich da- durch, daß sie an Stelle der schablonenhaften Ähnlichkeit der Personen und Gegenstände — einer Ähn- lichkeit, die sich mit der Darstellung der Spezies in der Gestalt eines aus Erinnerungen und Verallge- meinerungen entstandenen Typus begnügte, — die exakt und wissenschaftlich treue malerische Wieder- gabe der individuellen Formen und materiellen Eigenschaften der dargestellten Objekte zu einem ausnahmlosen Erfordernis der malerischen Naturwahrheit erhob. Wir finden diese Auffassung wohl bei Jan, doch nicht bei Hubert. Das aber ist der springende Punkt des Unterschiedes zwischen der bildenden Kunst des Trecento und der Renaissance, des Mittelalters und der Neuzeit. Andernteils ist trotz aller fundamentalen Neuerungen der Stil Jans nicht ein zeitloses Produkt sondern nur eine Umwertung jener Kunstformen, die auch dem Stile Huberts zugrunde liegen und über deren Entstehung oder Einführung in die Kunst des Nordens wir nur ganz im allgemeinen unter- richtet sind. Woher die Kunst Huberts stammt, wissen wir ebensowenig als wie Jans neue Auffassung der Naturtreue entstanden ist. Hubert und Jan stehen sich wie Masolino und Masaccio gegen- über. Doch beweist nicht diese fiorenlinische Analogie allein, daß es sich in unserem Problem nicht um eine einzige einfach zu stellende Frage handelt sondern um eine Reihe bisher unerforschter geschicht- licher Zusammenhänge, die nicht a priori oder auf Grund einer Analyse der Werke der beiden großen altniederländischen Meister sondern nur auf Grund einer historischen Untersuchung gefunden werden können. IV. Die geschichtliche Stellung Huberts und Jans und das Geheimnis der neuen Kunst. Zwischen der Entstehung der gotischen Plastik und Malerei und zwischen der epochalen Schöpfung der Brüder van Eyck in Gent sind dreihundert Jahre verflossen. Wir kennen wohl die XXIV. 35 250 Max Dvorak. ersten Jahrzehnte dieser langen Periode als eine an Versuchen, an bewegenden Ideen und neuen Problemen überaus reiche Jugendzeit des gotischen Stiles; doch aus ihrem weiteren Verlaufe müssen wir uns mit einigen wenigen Angaben zumeist denkmalgeschichtlichen oder kulturhistorischen Inhaltes begnügen, als ob in diesen Jahrhunderten die Evolution der Kunst, wie einst in dem Pharaonenreiche, stillgestanden wäre und sich nichts weiter ereignet hätte, als daß in dem und dem Jahre die und die Kathedrale begründet oder beendet wurde. Selbst Courajod, der sich noch am eingehendsten mit der Geschichte der französischen Skulptur und Malerei im XII., XIII. und XIV. Jahrhunderte beschäftigte, betrachtete alle drei Zentenarien in bezug auf die Entwicklung der Darstellungsprobleme als eine einheitliche Stilperiode, in der eine Einteilung nur durch barocke Ausbildung bestimmter Stileigen- tümlichkeiten, doch nicht durch Neuerungen entwicklungsgeschichtlicher Bedeutung begründet werden kann. In einer ähnlichen Weise, wie man dogmatisch die allgemeine Stilentwicklung dieser langen Periode, die das Kunstleben vieler Generationen umfaßt, auf einige wenige Tatsachen und Gesichts- punkte zurückführt, verfährt man auch bei Einzeluntersuchungen, in welchen die gestellte Frage eine Einteilung der geschichtlichen Faktoren notwendig macht. Zwischen der Inangriffnahme des Louvre- baues und dem Tode Huberts sind fast hundert Jahre verflossen und doch nennt man durch die Bank Andre Beauneveu, der noch bei jenem Louvrebaue beschäftigt gewesen ist, dann etwa Jan van Hasselt, der im Jahre i365 zum Maler des Grafen von Flandern ernannt wurde, oder Jan Maluel und Melchior Broederlam, die in Diensten Philipps des Kühnen gestanden sind, als Künstler, die in einem und dem- selben Stile gemalt haben, und betrachtet sie kurzweg und summarisch als die Vorläufer Jan van Eycks, dessen Kunst mit ihrer Kunst zu vergleichen ist. Man vergegenwärtige sich aber nun, welche Umwälzungen, welche enorme Entwicklung sich in dreihundert Jahren nach der Entstehung des Genter Altares in den malerischen und plastischen Problemen vollzogen hat. Oder wenn man diesen Fortschritt in den Aufgaben und Mitteln der Kunst mehr in der Nähe und in der Entstehung betrachtet: wie viel hat sich in hundert Jahren in Florenz oder in Venedig verändert. Jede Generation fast bedeutet neue Ziele, ein neues Suchen und Finden. Welche Anzahl von Zwischenstadien und Entwicklungsphasen mußte die Malerei im Norden zurück- legen, um von der Kunst Jan van Eycks und Rogiers zu der Kunst Rembrandts zu gelangen? Und in dem Säkulum, welches dem Genter Altare vorangeht, hätte sich kunstgeschichtlich nichts ereignen sollen? Die Tausende von Kunstwerken, welche in den Inventaren der Kunstschätze jener Zeit oder in den Rechnungen und Ausgabebüchern der Kunstmäcene erwähnt werden, sollen alle aus einem homogenen, sterilen, toten Kunstschaffen entstanden sein; die Hunderte von Künstlern, die uns ge- nannt werden, sollen auf jeden Fortschritt in der Kunst verzichtet haben oder seiner nicht fähig ge- wesen sein? Statt diese Frage zu beantworten, was wir als überflüssig betrachten, wollen wir gleich die Gründe auseinandersetzen, die das meiste dazu beigetragen haben, daß für die spätere Zeit eine mannigfaltige und intensive Entwicklung als selbstverständlich angenommen und auch nachgewiesen wurde, wogegen man sich für die unmittelbar vorausgehende Kunstperiode mit der Voraussetzung einer fast einem Still- stande gleichenden Einheitlichkeit des Kunstschaffens durch viele Generationen und mit der Fest- stellung weniger Generalien begnügte. Als die nächste Ursache dessen könnte man die geringe Anzahl der erhaltenen Denkmäler ansehen. Während sich aus der Renaissance und der Barockzeit fast alle wichtigen Kunstwerke erhalten haben, die uns über die Wandlungen der Kunstideale einen ununter- brochenen Bericht erstatten, gibt es in der Kunst des späteren Mittelalters, besonders im Norden, große Kategorien von Kunsterzeugnissen, von welchen nur ganz vereinzelte Uberreste auf uns ge- kommen sind. Doch auch da, wo ein unvergängliches Material lückenlose Reihen von Monumenten vor dem Untergange bewahrte, wie in dem Skulpturenschmucke der großen Kathedralen, nahm man sich bisher wenig Mühe, den Eigentümlichkeiten der einzelnen Generationen und Künstler nachzugehen. Man könnte einwenden, das sei leicht durch die unvergleichlich größere Rolle zu erklären, welche in Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. der späteren Zeit der künstlerischen Individualität beizumessen ist. Doch auch dieser Einwand könnte nur in bezug auf die persönliche Bedeutung der Künstler, die gewiß auch nicht ganz außer acht zu lassen ist, und nicht in bezug auf die allgemeinen Strömungen in dem Kunstschaffen zugelassen werden. Der Hauptgrund, warum dem allerletzten Künstler der späteren Kunstperioden und der geringsten stilistischen Schwankung mehr Interesse entgegengebracht wird als den wichtigsten Entwicklungs- phasen der gotischen Kunst, ist vor allem in den literarischen Quellen unseres kunstgeschichtlichen Wissens zu suchen. Von der Entwicklung der Kunst im Quattro- und Cinquecento wissen wir des- halb so viel, weil das Leben ihrer Träger in der gleichzeitigen oder nicht viel späteren humanistischen Literatur ausführlich geschildert und der Zukunft überliefert wurde. In den «ruhmreichen und die Vaterstadt ehrenden» Lebensschicksalen der einzelnen Künstler, welche von ruhmsüchtigen Literaten und zur Verherrlichung der Kommunen beschrieben wurden, spiegeln sich naturgemäß auch die Ge- schicke der Kunst. Ein weiteres mittelbares und unmittelbares Verdienst dieser Literatur ist es jedoch, daß man auf die Erhaltung jener Denkmäler bedacht gewesen ist, welchen sie eine zweite Existenz, vitam aere perennius verliehen hat. Da jedoch die kunstgeschichtliche Literatur der Renaissance und auch später ein treuer Wieder- hall der gleichzeitigen Kunstströmungen gewesen ist, fand sie nur solche Kunsterzeugnisse beach- tenswert, die in irgendwelcher erkenntlicher Beziehung zu dem damals modernen Kunstleben ge- standen sind. Diese Wertschätzung, welche natürlich nicht nur auf die Bücher beschränkt geblieben ist sondern als der allgemeine Gesichtspunkt der humanistischen Bildung vergangenen Kunstperioden gegenüber betrachtet werden kann, erklärt uns auch, warum sich Kunstdenkmäler bis zu einem ge- wissen Zeitpunkte reich oder zumindestens ausreichend erhalten haben, in der unmittelbar voran- gehenden Zeit jedoch plötzlich fast ganz fehlen. Von der giottesken Wandmalerei besitzen wir heute noch einen großen Teil des ursprünglichen Bestandes und jedenfalls alle wichtigeren Werke, von den romanischen Wandgemälden, die, wie wir heute bereits mit Bestimmtheit schließen können, die Wände in allen Kirchen bedeckten, nur das, was zufällig unter der Kruste späterer Ubermalungen nicht zugrunde ging. Ein ähnliches Fatum hat noch unerbittlicher im Norden gewaltet. Dort griff die humanistische Bewegung später ein und so wurde auch die Grenze der beachtenswerten Kunstdenkmäler weiter hinaufgeschoben. Während wir in Italien über die Kunst des XIV. Jahrhunderts noch ziemlich gut unterrichtet sind, finden wir in der Literatur des XVI. und XVII. Jahrhunderts, die sich mit der Geschichte der Kunst nördlich der Alpen beschäftigt, nicht einmal eine Erwähnung, daß es vor dem XV. Jahrhundert auch Künstler und eine Kunst gegeben hat. Da diese Literatur durchwegs auf An- schauungen beruht, die in der italienischen Kunstentwicklung des XV. und XVI. Jahrhunderts ihren Ursprung haben, waren ihr die Kunstwerke der spätgotischen Kunst nicht nur künstlerisch unverständ- lich sondern auch deshalb uninteressant, weil sie in ihrer Mehrzahl nicht zu jenen Kategorien von Kunsterzeugnissen gehören, an welche die Schicksale der Kunst seit der Renaissance gebunden waren. Nur gelegentlich und der Vollständigkeit halber erwähnt Vasari einen Teppichweber, einen Glasmaler oder Illuminator, was ja in der Kunst, welche er zu schildern hatte, natürlich und berechtigt war. Nicht anders ist es bei seinen Nachahmern im Norden, bei welchen solche Erwähnungen noch seltener und kürzer sind. Kunstwerke der Teppichweberei, der Glasmalerei oder Illuminierkunst haben für sie bereits nur einen kunstgewerblichen Wert und Perioden, in welchen sich die Fortschritte der Malerei vor allem in diesen Kunstzweigen vollzogen haben, keine geschichtliche Bedeutung. Dadurch wird uns verständlich, warum etwa die Fresken Agnolo Gaddis in literarischen Zeugnissen und im Original bis auf uns gekommen sind, wogegen z. B. von der großen Tapisserie mit der Darstellung der Schlacht von Roos- becke, welche der Herzog von Burgund im Jahre i386 in der Länge von 285 m zu Arras weben ließ und welche an kunstgeschichtlicher Bedeutung gewiß nicht den Freskenzyklen der bedeutendsten unter den gleichzeitigen italienischen Malern nachstand, auch nicht einmal eine kurze Beschreibung sich er- halten hat. Auch diese Kunstwerke hätten sich zweifellos erhalten, wenn man ihnen in späteren Zeiten irgendwelche künstlerische oder nationale Bedeutung beigelegt hätte. Als aber ein kulturgeschicht- 35* 252 Max Dvofak. liches Interesse für das Mittelalter erwachte, war jede unmittelbare Überlieferung, aus der man Nach- richten über Künstler und Kunstentwicklung der der Renaissance vorangehenden Periode hätte schöpfen können, und die meisten Kunstdenkmäler dieser Periode schon längst verloren. Doch steht nicht auch die Forschung unserer Zeit noch unter dem Banne dieser humanistischen ungleichen Wertschätzung der geschichtlichen Bedeutung einzelner Kunstperioden und Kunst- kategorien? Nebst dem Mangel an literarischen Nachrichten und Monumenten ist gewiß darin die wich- tigste Ursache zu suchen, warum die Kunstevolution der jenseits «der großen Wandlung» liegenden Zeiten und Gebiete so lange als ein jahrhundertelanges Nichtsgeschehen aufgefaßt werden konnte. Und müht man sich nicht auch heute noch ab, von den einigen wenigen Tafelbildern, die sich aus der voreyckschen Zeit erhalten haben, die Geschichte der Malerei dieser Zeit abzulesen, wie man sie von den Tafelbildern der Renaissance ablesen kann, als ob auch im späten Mittelalter sie die einzigen Verkörperungen des malerischen Fortschrittes gewesen wären? Das ist nicht so zu verstehen, als ob sich die gotische Malerei nur in einer Kategorie von Kunstwerken oder in einer mehr als in einer anderen entwickelt hätte. Von geringen Schwankungen abgesehen, hat sich sicher jeder Fortschritt auf allen Gebieten des malerischen Schaffens bald geltend gemacht; doch gerade die Tafelmalerei, für die man in einer gotischen Kathedrale so wenig Verwendung hatte, spielte in dieser Periode eine so geringe Rolle, war ein so wenig gepflegter Kunstzweig, daß es ein Wunder wäre, wenn sich von den wenigen Tafelbildern gerade solche erhalten hätten, die uns über die Geschichte der malerischen Pro- bleme jener Zeit erschöpfend belehren könnten. Aus diesen Ursachen ist es jedoch auch erklärlich, warum die Gestalten Huberts und Jans so lange als zeit- und heimatlose Mannequins auf der Bühne der Geschichte erscheinen mußten. Man ver- nachlässigte es seit Jahrhunderten schon und bis auf den heutigen Tag, jene Zeit und jene Kunst näher kennen zu lernen, welche die Prämisse der Kunst der beiden Brüder gewesen ist. Sie mußten die Erfinder und Begründer bleiben, eben weil man in der Tat die Geschichte der modernen Kunst mit ihnen begonnen hat. Damit ist aber auch das einzig mögliche Mittel gegeben, den Schleier zu lüften, welchen die Zeiten über die Wiege der neuen Kunst gelegt haben. Unbekümmert um die Anschauungen der huma- nistischen Literatur müssen wir es versuchen, uns aus den Trümmern des einstigen Kunstreichtums eine Vorstellung von den künstlerischen Bestrebungen der einzelnen dem Auftreten der Brüder van Eyck vorangehenden Generationen zu bilden, um die Frage nach dem Verhältnisse des neuen Stiles zu der älteren Kunst auf den wirklichen, differenzierten, geschichtlichen Sachverhalt zu stützen, statt sie, wie es bisher geschehen ist, durch eine allgemeine Spekulation und auf Grund willkürlich heran- gezogener Denkmäler und willkürlich verallgemeinerter Annahmen zu beantworten. Wie weit man von der Erfüllung einer solchen Forderung noch ist, kann nach folgendem Bei- spiele beurteilt werden. Auch in Werken, in welchen die Palme des Siegers über die alte Kunst dem jüngeren Bruder gereicht wurde, hat man doch Hubert als den Schöpfer der inhaltlichen Idee der großen malerischen Epopöe des Christentums zu Gent, als Denker und Philosophen und als grübelnden Geist gefeiert, «der das Ganze genial ersonnen und erfunden hat». Gegen diese Anschauung hat sich Voll gewendet, um die Annahme einer großen persönlichen Bedeutung Huberts zu entkräften, und zwar mit einem Hinweise auf das Malerbuch vom Berge Athos, in dem ähnliche Darstellungen be- schrieben werden, wie sie auf den Tafeln des Genter Altars gemalt sind, so daß «der religiöse Tief- sinn der Komposition das Ergebnis kalter scholastischer Spekulation und aus mönchischen Vorbildern mehr oder weniger direkt entlehnt ist». Das ist gewiß ein richtiger Hinweis, mit dem es sich jedoch nicht viel anders verhält, als wenn jemand hervorheben würde, daß einzelne Motive des jüngsten Ge- richtes Michelangelos bereits in der altchristlichen Kunst nachgewiesen werden können, ja sogar in der Bibel in ähnlicher Schilderung enthalten sind, oder wenn man das verlorene Paradies Miltons aus der Legenda aurea oder aus den Flores historiarum erklären wollte. Daß eine Darstellung der novem chori et beatitudines in der Hermeneia erwähnt und beschrieben wird, ist ebenso selbstverständlich als daß der religiöse und ikonographische Inhalt des Genter Altares nicht von Hubert erfunden wurde und Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 253 daß die apokalyptische Szene nicht die erste ihrer Art war sondern unter anderem auch unter den «mönchischen Vorbildern» nachgewiesen werden kann, ebenso unzweifelhaft, als daß irgendwelche alte Vorbilder nicht die Quelle der Genter Kantate auf die ewige Seligkeit gewesen sind. Es gibt viel- leicht aus dem ganzen Mittelalter kein einziges kirchliches Kompendium, in dem nicht eine ähnliche Umschreibung des Psalmes 148 wie in dem Malerbuche enthalten wäre. Es ist aber überhaupt nicht nötig, den Ursprung der einzelnen Elemente der berühmten Genter Komposition erst zu erforschen und in der vorangehenden Kunst nachzuweisen, weil es bis zum XVI. Jahrhundert keine Kirchenbilder gibt, deren Darstellungen nicht aus älteren oder gleichzeitigen literarischen oder künstlerischen Quellen und Analogien abgeleitet werden könnten. Die Darstellungsstoffe der religiösen Kunst haben sich bis zu dem Barocco ununterbrochen und einheitlich entwickelt und das ikonographische Problem, welches ein Kunstwerk dieser Periode bieten kann, hat sich nicht mit der Frage zu beschäftigen, ob das Werk mit dieser Entwicklung zusammenhängt, was nicht erst erwiesen werden muß, sondern mit der Frage, in welches Verhältnis es zu einer bestimmten Phase der allgemeinen Uberlieferung zu stellen und wie es daraus zu erklären ist. Das ist jedoch eine Frage, an die man bei dem Genter Altare bisher nicht einmal gedacht zu haben scheint. Man muß wahrlich nicht in der Weite suchen und nach «scholastischen Vorbildern» fahnden, wenn man wissen will, woher Hubert die Idee des Schreines genommen hat. Die Darstellung des Mittelbildes ist bekaantlich auf Grund einer Stelle in der Apokalypse ent- standen: «Post haec vidi turbam magnam, quam dinumerare nemo poterat: ex omnibus gentibus et tribus et populis Staates ante thronum Dei in conspectu Agni» (Apok. Kap. 7). Die Frage ist, was den Meister veranlaßt haben kann, gerade diese Stelle auf dem von dem Genter Patrizier gestifteten Altare darzustellen. Es ist die Verwendung der angeführten apokalyptischen Worte im Kreislaufe des kirch- lichen Jahres, welche uns die Wahl des Stifters oder des Malers erklärt. Das 7. Kap. der Apokalypse gehörte zu den liturgischen Texten des Allerheiligenfestes, bei dem sie in der Kirche gelesen wurde und aus den Breviarien und Gebetbüchern zu beten war. Wenn wir nun den übrigen kanonischen und traditionellen liturgischen Inhalt dieser Kirchenfeier heranziehen, so finden wir das ganze Pro- gramm der Hauptdarstellungen des Genter Altares darin enthalten. In unzähligen Variationen, doch immer wesentlich das Gleiche berichten uns über den Ursprung des Allerheiligenfestes Sermones de sanctis, Ritualbücher, Agenden, Summae officiorum, Postillen, kurz die ganze liturgische und legendäre Literatur des späten Mittelalters und der ganzen Folgezeit. In diesen Berichten wird erzählt, daß einer der Hüter der Petersbasilika in Rom bei seinem Rundgange durch die Kirche eingeschlafen sei. Da hatte er einen Traum und sah den allmächtigen Gott, «regem regum» auf einem Throne sitzend und zu seinen Seiten die Engelschöre — «omnes angelos in circuitu morantes». Zu der Rechten Gottes thronte die Madonna — • «virgo virginum cum dyademate praefulgenti» — und zu seiner Linken Johannes der Täufer, «vestitus pilis came- lorum». Zu dem Throne kamen jedoch «innumerabilis multitudo virginum, multitudo venerabi- lium seniorum, cohors in habitu pontificali: Postea processit innumerabilis multitudo militiae, demum advenit turba diversarum gentium infinita». Dann zeigt Petrus dem Wächter das Purgatorium und fordert ihn auf, dem Papste zu sagen, er möge ein Fest zu Ehren Aller Heiligen an diesem Tage feiern lassen. So wird uns als ein Traum des Hüters der Petersbasilika fast alles beschrieben, was die Haupt- darstellung des Genter Altares bildet, nur die Anlehnung an die Apokalypse fehlt. Doch die finden wir auch, wenn wir die eigentlichen liturgischen Texte des Allerheiligenfestes zur Hand nehmen. Da heißt es in der Lectio im Anschlüsse an die Apokalypse: «Dignus est agnus, qui occisus est, accipere virtutem et divinitatem et sapientiam et fortitudinem et honorem et gloriam et benedictionem. Et omnem crea- turam, quae in coelo est et super terram et sub terra et quae sunt super mari et in eo, omnes audivi dicentes: Sedenti in throno et agno benedictio et honor et gloria et potestas in saecula saeculorum. Et viginti quatuor seniores ceciderunt in facies suas et adoraverunt viventem in saecula saeculorum.» 254 Max Dvofak. Dazu kommen dann die Landes, in welchen die Gruppen der Teilnehmer an der heiligen Ge- meinschaft aufgezählt werden: «Apostoli cum vatibus, patrumque coetus, cohors triumphans marti- rum, almus sacerdotum chorus, chorea casta virginum et quos eremus incolas transmisit astris . . . Tenent timpanum et cytharam, gaudent ad organi sonum» wird von den Engeln gesagt, «super quorum choros exaltata est virgo virginum», und immer wieder werden in Gesängen und Gebeten die «principatus et potestates, patriarchae et prophetae, sancti legis doctores, apostoli, omnes Christi mar- tires, sancti confessores, virgines Domini, anachoritae, sanctique omnes» gepriesen und um Fürsprache gebeten. So ist die Hauptdarstellung des Genter Schreines ein ausführliches Allerheiligenbild, welches sich treu an den Gedankengang und Inhalt der kirchlichen Andacht des Allerheiligenfestes anschließt. Keine Darstellung hätte prägnanter die Stellung der Genter Tafeln zu dem Gedanken- und Gefühls- leben einer bestimmten Zeit und einer bestimmten Strömung in der geistigen und religiösen Ent- wicklung des Christentums bezeichnen können als gerade diese. Es gibt zwei Perioden in der Geschichte der christlichen Kunst, in welchen das christliche Gebet, die Liturgie des Gottesdienstes, das eigentliche Mysterium der religiösen Betätigung besonders stark auf die Gemüter und auf die Kunst eingewirkt haben. Zum erstenmale in der Zeit des ersten Christen- tums, als man noch «Gott und Christum mit dem Herzen sah». Damals hat man das geheimnisvolle Hoffen auf ein besseres Jenseits und alles das, worum man in den Gedichten und Litaneien fleht, auch bildlich auf Gemälden, die die Katakomben schmückten, und auf kunstgewerblichen Gegenständen dar- gestellt. Mit der Antike und mit der Dogmatisierung des Christentums ging jedoch diese liturgisch kontemplative Kunst zugrunde und wurde durch eine hieratische Gelehrsamkeit ersetzt. Die Religion war im Mittelalter vor allem ein Wissen und die Statuen und Bilderreihen der romanischen und gotischen Dome haben zu der persönlichen Andacht und religiösen Empfindung, zu der auf Gefühls- faktoren beruhenden Uberemstimmung zwischen dem, was auf dem Altare und in der Seele des Kirchenbesuchers vorgeht, keine Beziehung; es sind Predigten, welche die Gemeinde über Himmel und Hölle, über Sünden und Tugenden, über die sichtbare und unsichtbare Welt der Lebenden und Toten, der Seligen und Verdammten belehren sollen. Mit diesen Kunstwerken, die wir noch am ehesten mit Voll als Produkte scholastischer Spekulation bezeichnen könnten, wären sie nicht älter als die Scholastik, hat die Erfindung des Genter Altares nur wenig Gemeinsames mehr. Zum zvveiten- male hatte die bildende Kunst und besonders die Malerei im XIV. Jahrhundert eine sentimentale Strömung aufzunehmen, in der die Liturgie wieder einen viel stärkeren Einfluß auf die Gemüter und auf die Kunst gewinnt als in der vorangehenden Zeit. Nicht der allgemeine kirchliche Pomp allein, nicht die abstrakte kirchliche Heilslehre waren im XIV. Jahrhundert die Quellen, aus welchen das religiöse Leben und die religiöse Kunst ausschließlich zu schöpfen hatte. An die Stelle der historischen und theologischen Programmkunst treten Kunstwerke, die auch bestimmten religiösen Empfindungen, sei es des Künstlers oder des Bestellers, ihre Entstehung verdanken und die auch bestimmte Gefühls- akkorde in dem Beschauer erwecken sollen. Während jedoch in der älteren giottesken Kunst, wie wir früher einmal zu schildern versucht haben, die menschlichen Leiden und Freüden des Gottessohnes und seiner Mutter in der Andacht und in der Kunst neu miterlebt wurden und jene Bilderzyklen entstanden sind, in welchen mit einer nie früher und nie später erreichten Dramatik die altbekannten Szenen der heiligen Schrift und der Le- gende als psychische Ereignisse geschildert werden, beginnt in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts eine auch von dem persönlichen religiösen Empfinden der Künstler oder Besteller ausgehende Indi- vidualisierung der Kunstwerke. Die kirchlichen Kunstwerke verlieren ihren doktrinären und er- zählenden Charakter und sind dazu da, um von einer besonders weihevollen und andächtigen Stimmung des Stifters, von seinem persönlichen Andachtsverhältnisse zu den Heroen des Christen- Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. tums oder zu bestimmten Momenten des religiösen Lebens zu berichten und ähnliche Stimmungen und Beziehungen auch in den Beschauern zu erwecken. Jede Stadt hat ihre Madonna, an die, die selbst eine freudevolle und tiefbekümmerte Mutter gewesen ist, sich jeder mit seinen persönlichen Schmerzen und Sorgen wenden kann. Die Heiligen hörten auf, feierliche und uninteressierte Zeugen und Be- kenner der Erlösungswahrheiten zu sein, und wurden Patrone und Fürbitter von Gemeinden, Korpo- rationen und Privatpersonen, die durch ihre besondere Verehrung ein besonderes Recht auf sie zu be- sitzen glaubten. Es gibt besonders bevorzugte Kirchenfeste und Gebete, und zwar nicht jene, welche die Kirche besonders zu feiern wünscht, sondern solche wie z. B. das Rosenkranzfest, die unmittelbar aus dem religiösen Leben der Gegenwart entstanden sind. Selbst die transzendentalsten Lehren des Christentums werden nur im Spiegel des persönlich innerlich Erlebten und Empfundenen dargestellt. So gewinnt das Gebet, die Andacht und die Andachtsliteratur wieder eine ähnliche Bedeutung als die wichtigste Quelle der inhaltlichen künstlerischen Inspiration wie in der Kunst des antiken Christentums. Diese Periode in der Entwicklung des religiösen Lebens und der kirchlichen Kunst äußert sich in dem gedanklichen Inhalte des Genter Altares. Der Schrein, den Hubert im Auftrage des Genter Patriziers auszuführen hatte, war ein Allerheiligenbild, doch nicht mehr von jenem antiquarischen und dozierenden Inhalte, wie es z. B. Honorius von Autun entwirft, auch nicht eine mystisch-exaltierte Apotheose, wie wir sie etwa in der Summa des Albertus Magnus finden, sondern eine Verbildlichung der Andacht, welche den Kirchenbesucher bei jenem Feste erfüllen sollte, das eingeführt wurde, «damit der Christ in Liebe und Demut auch zu solchen Heiligen beten könne, an die man bisher zu vergessen pflegte». Die persönlichen Beziehungen zwischen den Gläubigen und den himmlischen Scharen sollten lückenlos sein. Welch eine Umdeutung der alten Heiligenreihen, die aufgeführt wurden, «quia Dens dicitur dominus Sabaoth hoc est exercituum». Doch auch mit solchen Schilderungen, die uns wie im Campo Santo von Pisa berichten, «wie alles war und sein wird», haben die Hauptdar- stellungen des Genter Schreines nur wenig Gemeinsames mehr. Es ist ein Werk, welches bereits in die lange Reihe der Andachtsbilder gehört, an die seit dem Beginne der Renaissance bis zur Sixti- nischen Madonna und bis zu den Martyrien Pomerancios die Entwicklung der religiösen Malerei ge- bunden war. Nur Reife und Erfahrung trennt das Allerheiligenbild Dürers von dem Allerheiligen- bilde Huberts. Hat man sich schon je die Frage vorgelegt, wo die Anfänge der Wandlung zu suchen sind, welche die Skulpturenreihen der Kathedralen zu einer inhaltlich irrelevanten Dekoration verändert und den Blick der Kirchenbesucher von den Historien der Reliefs und Glasgemälde in das Sanktua- rium der Kapellen, auf die Altäre und zu den göttlichen Gestalten, die dort zu wohnen scheinen und die «zu den Herzen sprechen», und zu den heiligen Vorgängen, die sich dort abspielen, geleitet hat? Alle Versuche, die bisher zur Erforschung der Vorgeschichte der neuen niederländischen Malerei unternommen wurden, gehen von der als selbstverständlich angenommenen Voraussetzung aus, daß diese Vorgeschichte in den Niederlanden zu suchen sei. Doch mit Recht sagte einer der Forscher, die sich mit diesen Versuchen abgemüht haben: «je voudrais voir quelque chose, mais n'apercois rien». Nirgends scheint der Sprung zwischen dem «alten» und dem «neuen» Stile so stark gewesen zu sein als gerade in den Niederlanden. Alles, was sich uns an Kunstwerken von gesicherter geographisch-nieder- ländischer Provenienz erhalten hat, kann kaum als eine rudimentäre Vorstufe der neuen Kunst be- trachtet werden; ja wir finden in der altniederländischen Kunst weit weniger als anderswo die Anfänge jener Neuerungen, welche die Quelle des neuen Stiles gewesen sind. In bezug auf die Plastik ist in ausführlicher Weise der Beweis für diese Behauptung zur selben Zeit geliefert worden, als ich an diesem Kapitel schrieb, zum Glücke noch rechtzeitig genug, um mich darauf berufen zu können. Auf Grund aller erhaltenen Monumente der belgischen Skulptur aus dem XIII. und XIV. Jahrhundert untersuchte Raymond Köchlin die Richtigkeit der Behauptung, 256 Max DvoFak. daß die niederländische Kunst des späteren Mittelalters im Gegensatze zu dem französischen Idealismus immer naturalistisch gewesen sei, und kommt zu dem Schlüsse, daß davon keine Rede sein kann.^ Sowohl im XIII. als auch im XIV. Jahrhundert hat man in den Niederlanden den französischen plasti- schen Stil übernommen, ohne ihn in irgendwelcher Weise zu verändern. «L'art des Pays-Basau XIII^ sifecle n'est qu'une province de cet art international d'origine francaise qui s'etait repandu dans toute l'Europe occidentale, et mSme Ton nV decouvre pas ce restc d'originalite qui demeura dans la sculpture alle- mande: malgre la formule francaise qui les domine les grandes statues de Bamberg et de Treves, ä plus forte raison, celles de Strasbourg et de Naumbourg demeurent foncierement allemandes par Tacuite de l'observation de detail et par l'accent dramatique qui se sent sous la formule; nulle confusion n'est pos- sible entre une figure allemande et une figure francaise. II n'en va pas ainsi de la sculpture des Pays- Bas; de meme que la Flandre etait politiquement vassale de la France, la sculpture beige fut vassale de la sculpture francaise et Ton y chercherait en vain au XIII" siecle sous la formule venue de France un trait individuel qui la marquät profondement et la distinguät essentiellement de l'art francais contem- porain.» Doch auch im XIV. Jahrhundert kann man keine einzige niederländische Statue, kein ein- ziges Relief finden, die nicht den allgemeinen französischen Stil aufweisen würden oder in den natura- listischen Problemen besonders vorgeschritten wären; im Gegenteile, die «accents realistes, qu'on peut distinguer dans certains monuments francais n'ont guere d'echo dans l'art beige». Selbst am Schlüsse des Jahrhunderts und in dem ersten Viertel des folgenden, also in einer Zeit, in welcher die ersten Werke des neuen Stiles bereits entstanden sind, kann von einer besonderen und selbständigen Ent- wicklung der niederländischen Skulptur noch keine Rede sein; noch immer hält sie sich in den Grenzen des allgemeinen französischen Stiles und statt jener Vorzüge, die auf die kommende Kunst hinweisen würden, finden wir «un realisme modere avec une sorte de gräce familiere meme et aussi incapable de puissance que peu dispose aux exagerations». So kommt Köchlin zu dem Schlüsse, daß man aus der niederländischen Skulptur weder den Naturalismus der Bildhauer Karls V., Andres Beau- neveu oder Jeans von Lüttich, erklären könne noch den großen Stil der Schule von Dijon, des Jean de Marville oder Claus Slüter. Zu denselben Ergebnissen führt uns eine Betrachtung der Entwicklung der niederländischen Malerei im XIII. und XIV. Jahrhundert. Wenn sich auch nur wenig an Werken der monumentalen Malerei in den Niederlanden erhalten hat und wenn auch die Miniaturhandschriften sicher niederlän- discher Provenienz aus dieser Periode nicht gar zu zahlreich sind, so genügt dieses Material doch, um uns über die allgemeine künstlerische Höhe und den Stil der spätmiltelalterlichen Malerei in den niederländischen Provinzen zu belehren. Sämtliche Forscher, die sich bisher mit der Geschichte der niederländischen Malerei im XIII. und XIV. Jahrhundert beschäftigt haben, betonen die rohe provinziale Art dieser Malerei. Doch nicht der künstlerische Wert allein mangelt den niederländischen Gemälden jener Zeit sondern auch der indi- viduelle Charakter, welchen man bei ihnen manchmal entdecken zu können glaubte. Wie die Skulp- turen, so stehen auch die Werke der niederländischen Malerei sowohl im XIII. als auch im XIV. Jahr- hundert vollkommen unter französischem Einflüsse und unterscheiden sich von gleichzeitigen provin- zialen Arbeiten französischen Ursprungs nur durch eine technisch und künstlerisch minderwertigere Ausführung. Die Fresken in der Chapelle de Cortes de Hainaut zu Möns, die aus der ersten Hälfte des XIII. Jahrhunderts stammen, gehören noch einer romanischen Werkstatt an, in der sich jedoch auch bereits jene Richtung bemerkbar macht, die der romanischen Malerei in Frankreich eigentümlich gewesen ist. Werke aus der zweiten Hälfte des XIII. Jahrhunderts, wie z. B. die Wandmalereien in der Kathedrale von Tournai oder im Hospitale de la Biloque zu Gent, die um die Wende des XIII. und XIV. Jahrhunderts entstanden sein dürften, oder die Gemälde, welche den Schrein der heil. Ottilie schmücken, der im Jahre 1292 in Lüttich ausgeführt wurde, und viele andere Uberreste von monumentalen Malereien, die sich uns aus jener Periode erhalten haben, sind durchwegs Werke des ' Gazette des Beaux Arts 1904. Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. allgemeinen französischen illustrativen Stiles, und wenn Eigentümlichkeiten an ihnen den franzö- sischen Vorbildern gegenüber zu beobachten sind, so sind es eher Archaismen als fortschrittliche Neue- rungen. Selbst Wauters, der zu den eifrigsten Verfechtern des national-niederländischen Ursprungs der neuen niederländischen Malerei gehört, weist diese Malereien der «enfance de l'art» zu, was natürlich nicht richtig ist, aber ihre geringe geschichtliche und künstlerische Bedeutung recht drastisch hervorhebt. Das gilt auch für die Miniaturmalerei. Nur beispielsweise sei hier auf das Psalterium Nr. i40der Kommunalbibliothek zu Douai verwiesen, welches im letzten Viertel des XIII. .lahrhunderts in der Abtei von Marchiennes entstanden ist und Miniaturen und Ornamente im Stile der Handschriften des heil. Ludwig enthält,^ oder auf ein anderes Psalterium niederländischen Ursprungs, Nr. 8070 der Brüsseler Bibliothek, welches man, wüßte man nicht, wo es entstanden ist, ohne Bedenken als eine französische Arbeit ansehen würde. Diese vollständige Abhängigkeit der niederländischen Malerei von der gleichzeitigen Stilent- wicklung in Frankreich läßt sich auch durch das ganze XIV. Jahrhundert hindurch verfolgen. Eine ziemlich große Anzahl von Denkmälern gibt uns darüber Aufschluß. Von Wandmalereien z. B. die Fresken in der Dominikanerkirche zu Maestricht aus dem Jahre iSSy, die etwas späteren in dem Hospital de St. Jean et de St. Paul zu Gent, aus der zweiten Hälfte des Jahrhunderts die Wandgemälde in der Kapelle des Menetriers zu Brügge, in der Beguinage von St. Trond, in der Kirche von Ander- lecht, die Bildnisse der Grafen von Flandern in Notre Dame zu Courtrai, die von Jean de Hasselt in den Jahren iSyo — i38o gemalt sein dürften. Alle diese Malereien sind kolorierte Umrißzeich- nungen jener Art, wie wir sie in Frankreich und in allen von Frankreich beeinflußten Kunstgebieten in der ersten Hälfte des XIV. Jahrhunderts überall finden können, doch selten so plump und stilis- tisch zurückgeblieben. «Die Formen sind steif, noch ganz und gar von altertümlichem Gepräge, durch keine Schatten gehoben, durch keine Mitteltöne gerundet, gleichsam flach gefärbt» (Crowe und Caval- caselle). Als das eigentliche Gebiet der Kunst, in dem man das Wirken der «dem niederländischen Volke von Anfang an eigentümlichen Begabung» bereits sehr früh beobachten könne, hat man die Bücher- malerei hingestellt. «Die niederländischen Miniaturen, obzwar ganz in der Art der französischen dieser Art, unterscheiden sich von jenen zu ihrem Vorteile dadurch, daß sich darin mehr Streben zum Indivi- dualisieren, mehr Naturwahrheit, ein größerer Reichtum launiger Erfindungen, eine sorgfältigere Angabe von Schatten, frischere und mannigfaltigere Farben von stärkerem Gummigehalte vorfinden» (Waagen). Die späteren Vorzüge der niederländischen Miniaturmalerei auch in die ältere Zeit übertragend, hat man jene Werke für Specimina der niederländischen Illuminierkunst erklärt, in welchen solche Vor- züge zu finden waren. Wenn wir jedoch Handschriften durchsehen, die unzweifelhaft in den Nieder- landen entstanden sind, finden wir, daß in der angeführten Charakteristik nur der Hinweis auf den französischen Stil der niederländischen Arbeiten richtig ist. Wauters hebt bei Erwähnung des Missale, welches im Jahre i323 von Pierre de Raimbeaucourt illuminiert wurde, den satyrischen Sinn des niederländischen Malers hervor, den man in den Randdrolerien «des femmes, des singes, des cerfs, des chiens, des oiseaux, des etres fantastiques» beobachten könne. Diese Aufzählung allein läßt uns bereits vermuten, wo der Stil des Pierre de Raimbeaucourt seinen Ursprung hat, und in der Tat finden wir aus dem ganzen XIV. Jahrhundert keine einzige flandrische Handschrift, die nicht von der gleich- zeitigen französischen Büchermalerei beeinflußt wäre und die stilistisch oder künstlerisch über das Durchschnittsmaß der französischen Arbeiten hinausginge. Die merkwürdige Keure des Drapiers von Yppern vom Jahre iSöS,^ das Missale, welches etwas später für Louis de Male illuminiert wurde, ^ die Missalbücher aus St. Sauver in Brügge, die großen Bilderbibeln, Handschriften, die für Fürsten und Kirchen, für Korporationen und für den Privatgebrauch hergestellt wurden, zeigen alle einen derben ' Ein Faksimile davon bei Dehaisnes, Histoire de l'art dans la Flandre I, Taf. zu S. 228. ^ Im Archiv von Yppern. ^ Brüsseler Bibliothek, Nr. 9217. XXIV. 36 258 Max Dvofäk. und wenig fortgeschrittenen Stil, der als eine Verprovinzialisierung der gleichzeitigen französischen Illuminierkunst bezeichnet werden muß, wie wir sie im XIII. und XIV. Jahrhundert in vielen von Frankreich abhängigen Kunstgebieten finden können. Eine eingehende Untersuchung der lokalen flandrischen Büchermalerei im XIV. Jahrhundert würde zu ähnlichen Ergebnissen führen wie Vogel- sangs schöne Arbeit über die Illuminierkunst in Holland. Weder technisch noch künstlerisch kann auch nur von einem Schritthalten, geschweige denn von einem Wettstreite der flandrischen Büchermaler mit den großen französischen Ateliers die Rede sein. Den letzteren entlehnten sie ihre Komposi»onen; doch ihre Farben sind salopp und ihre Formengebung roh und ungelenk, was uns über ihr Verhältnis zu der gleichzeitigen französischen Malerei keinen Zweifel gestattet. Die Brüsseler Handschrift des Augustinus, die um das Jahr 1410 in Flandern entstanden sein dürfte ^ und die als ein Beispiel der niederländischen Miniaturmalerei genannt wurde, ist eine deutliche Nachahmung der Handschriften des Herzogs von ßerry, doch nicht der gleichzeitigen sondern jener, welche beiläufig zwanzig bis dreißig Jahre älter sind. Schon dieses Zurückgreifen auf so alte Vorbilder beweist, daß der provinzial- flandrischen Malerei in dieser Zeit die Führung nicht zugesprochen werden kann; denn man greift nicht zu anderweitig bereits überwundenen Vorlagen dort, wo das Neue zu Hause ist. Wäre nicht am Schlüsse des Speculum, Nr. gSSa der Brüsseler Bibliothek, die Nachricht enthalten, daß die Hand- schrift im Jahre 1428 von Jan de Stavelot aus der Abtei St. Laurenz zu Lüttich geschrieben wurde, müßte man den Kodex nach den darin enthaltenen Zeichnungen für ein Werk des XIV. Jahrhunderts erklären, dessen Bilder nur den allgemeinen französischen Stil, doch nicht eine bestimmte lokale Provenienz erkennen lassen. Noch um das Jahr 1430 ist der alte französische Einfluß in Flandern vorherrschend, wie wir z. B. an den Miniaturen des flämischen Gebetbuches, Nr. 10772 der Brüsseler Bibliothek, sehen können, welches für einen Brügger Kanonikus illuminiert wurde, und selbst in dem großen Brevier Philipps des Guten ^ kann man noch ein Nebeneinandergehen des allgemeinen fran- zösischen Stiles und der neuen niederländischen Malerei beobachten. Erst um die Mitte des Jahrhunderts vollzog sich eine vollständige Trennung. Auch die wenigen flandrischen Tafelbilder, die sich aus dem XIV. und dem Anfange des XV. Jahrhunderts erhalten haben, bestätigen diesen Sachverhalt. Die Kreuzigung der Antwerpener Galerie vom Jahre i363, die vielleicht in Holland gemalt wurde, ^ und die Kreuzigung in St. Sauveur in Brügge, die um das Jahr 1400 entstanden sein dürfte,'^ stellen uns Glieder einer Entwicklungsreihe der gotischen Malerei dar, wie wir sie fast überall nördlich der Alpen in der zweiten Hälfte des XIV. Jahrhunderts feststellen können. Die Antwerpener Kreuzigung zeigt uns noch den gotischen malerischen Stil, welcher in der ersten Hälfte des Jahrhunderts der allgemeine gewesen ist, bevor die Kunst in den großen Kunstzentren durch die neuen Probleme der italienischen Malerei bereichert wurde. Noch altertümlicher im Verhältnis zur gleichzeitigen französischen oder auch deutschen Malerei ist die Brügger Kreuzigung, die stilistisch beiläufig mit den Werken des sogenannten Meisters Wilhelm zu vergleichen wäre. Beide Meister, der Kölner und der Brügger, sind von einem gemein- samen Stile ausgegangen, welcher beiläufig um die Wende des dritten und vierten Viertels des XIV. Jahrhunderts entstanden ist. Doch um wie vieles weiter gelangte Meister Wilhelm in den male- rischen Problemen, die diesem Stile zugrunde liegen. Seine Figuren sind malerisch durchmodelliert, der gotische Schwung der Gestalten und Draperien ist durch eine natürliche Haltung ersetzt worden und der ganze Bildausschnitt wird als eine Raumdarstellung, sei es eine Landschaft oder ein Innen- raum, behandelt. Bei dem Brügger Meister wechselt noch eine zeichnerische Darstellung mit einer malerischen, die schlanken Figuren biegen sich noch wie die Madonnen der gotischen Kathedralen und die Raumdarstellung beschränkt sich auf eine Bodenandeutung und auf eine Wolke, die über dem goldenen Hintergrunde schwebt, wie an Gemälden, die anderswo um fünfzig Jahre früher anzusetzen ' Nr. 9005/6. Das Schlußdatum iSys bezieht sich nur auf die Übersetzung. ^ Brüsseler Bibliothek, Nr. 95 11. ' Phot. von G. Hermens in Antwerpen. ■* Phot. Bruckmann. Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. wären. Auch dem Kolorit fehlt die lebhafte Frische, welche sonst für Werke aus den letzten Jahr- zehnten des XIV. Jahrhunderts bezeichnend ist. In der Antwerpener Kathedrale hängt ein gro(3er Altar, der für das Werk eines Kölner Malers erklärt wurde. Die kölnischen Anklänge, die man an dem Schreine zu entdecken glaubte, gehen nicht über Eigentümlichkeiten hinaus, die auch bei anderen als kölnischen gleichzeitigen Arbeiten gefunden werden könnten; dagegen entspricht der ganze Charakter der Tafeln dem provinzialen flandrischen Stile um die Wende des XIV. und XV. Jahrhunderts. Manche Typen erinnern da an die Werke Huberts; doch der ganze Stil ist nur um weniges entwickelter als bei der Brügger Kreuzigung, jedenfalls nicht so entwickelt, daß man von diesem Werke bereits eine Brücke zum Genter Altare schlagen könnte. An Stelle eines intensiven Fortschrittes, aus welchem man die Neuerungen des neuen Stiles erklären könnte, finden wir in der flandrischen Malerei wie in der Skulptur bis an die Schwelle der neuen Epoche ein provinziales Zurückbleiben. Wenn es auch einer eingehenderen Durchforschung der Geschichte der gotischen Kunst in den Niederlanden zweifellos gelingen dürfte, lokale Schulen und Stileigentümlichkeiten festzustellen und in die scheinbare Einheitlichkeit eine weitere Gliederung zu bringen, so können wir doch bereits auf Grund der vorstehenden Ubersicht mit Bestimmtheit behaupten, daß die Entwicklung der Kunst des XIII. und XIV. Jahrhunderts in jenen Gebieten, in welche die Heimat und Entstehung der modernen Malerei verlegt wird, nicht nur keine Besonderheiten und Vorzüge aufweist, welche als individuelle Vorzeichen des neuen Stiles aufgefaßt werden könnten, sondern im Gegenteile vollkommen unter dem Einflüsse der Entwicklung steht, die sich gleichzeitig in Frankreich vollzogen hat. Es ist eine Auffassung, die erst durch den Merkantilismus entstanden ist, daß eine bestimmte Kultur an be- stimmte politische Grenzen gebunden ist, und gerade dieser Ursprung jener Auffassung beweist, wie lächerlich und unrichtig sie ist. Die flandrischen Provinzen gehörten zu Beginn des XV. Jahrhunderts auch politisch zu Frankreich, und daß es auch kulturell der Fall war, sollte doch nicht erst bewiesen werden müssen. Trotz aller nationalen und sozialen Emanzipation blieb die Kultur dieser Gebiete auch noch heute französisch; am Ende des XIV. Jahrhunderts waren aber in Flandern alle gesellschaftlichen Schichten, die in der Geschichte der Kultur eine Rolle spielten, auch national und ihrer sozialen Zu- gehörigkeit nach einfach dieselben wie in Frankreich, und wenn sie zuweilen etwas von den südlichen Nachbarn trennte, so waren es Parteifehden und lokale Interessen, doch absolut nicht irgendwelche Unterschiede in der Zivilisation. Es ist da gewiß nicht merkwürdig, daß auch in bezug auf die Kunst Flandern enge mit Frankreich verbunden war und daß das Verhältnis der flandrischen Kunst zu der allgemeinen französischen ein ähnliches gewesen ist, wie wir es auch sonst zwischen einem provin- zialen französischen Stile und der allgemeinen französischen Kunstentwicklung finden können. Flan- dern war auch kunstgeschichtlich eine französische Provinz, wie die Picardie oder Bretagne, wie die Auvergne oder Gascogne, und spielte im XIII. und XIV. Jahrhundert in der Geschichte der Kunst keine wesentlich verschiedene und größere Rolle als jene Kunstgebiete. Doch waren nicht gerade die größten Künstler, die im XIV. Jahrhundert in Frankreich wirkten und von welchen sich Nachrichten und Werke erhalten haben, ihrer Geburt nach Niederländer? Drei Hofkünstler Karls V. waren Niederländer: Jean de Liege, der die Statuen des Königs und der Königin meiselte, die den Louvre schmückten, Jean de Bruges, von dem wir Miniaturen besitzen und der die Kartons für die Angerser Apokalypse gezeichnet hat, und .Andre Beauneveu aus Valenciennes, einer der führenden Künstler im dritten Viertel des Jahrhunderts, von dessen Kunst uns sowohl beglaubigte Miniaturen als Bildwerke eine Vorstellung geben. Auch am Hofe des Herzogs von Berry und der Her- zoge von Burgund finden wir Künstler aus dem Norden: die Illuminatoren Jaquemart de Hesdin und die Brüder von Limburg, die Maler Jean de Beaumez und Melchior Broederlam aus Yppern, die Bild- hauer Jean de Marville und Claus Slüter, der gar in Holland geboren war. Das sind jedoch auch Namen, die Etappen in der Entwicklung der französischen Kunst be- deuten; ja man hat gerade diesen Künstlern die Belebung der französischen Kunst, den Fortschritt und die Uberwindung des alten eigentlich französischen Idealismus durch die frische und kräftige nieder- ländische Vorliebe für den Naturalismus zugeschrieben. Wir stehen also vor dem sonderbaren Wider- 36* 26o Max Dvorak. Spruche, daß die Flamänder das französische Kunstleben im XIV. Jahrhundert beherrscht und es in neue Bahnen geleitet haben sollen, während wir in ihrer Heimat eine in der Entwicklung zurück- stehende Kunst gefunden haben. Koechlin hat in bezug auf die Plastik bereits auf diesen Widerspruch hingewiesen, doch ohne eine Erklärung dafür zu suchen. Er bemerkt nur, daß Courajod, der am eifrigsten nebst Taine den niederländischen Ursprung des modernen Naturalismus verfochten hat, eben einfach alle Denkmäler aus dem XIV. Jahrhundert für niederländisch erklärte, bei welchen realistische Vorzüge zu bemerken waren. In dieser Bemerkung ist jedoch zweifellos ein guter Teil einer Erklärung des merkwürdigen Gegensatzes enthalten, der mehr durch unsere aprioristische Auffassung der stattgefundenen Entwicklung als durch den wirklichen geschichtlichen Verlauf verschuldet wurde. Neben den angeführten Niederländern nehmen an dem französischen Kunstleben des XIV. Jahr- hunderts unzählige Künstler teil, die nicht aus dem Norden gekommen und dennoch an denselben oder ähnlichen Kunstschöpfungen beschäftigt gewesen sind und sich eines nicht geringeren Ruhmes erfreuten wie die ersteren. Und wenn man bisher mehr Werke der aus den flandrischen Provinzen stammenden Künstler bestimmen konnte als ihrer französischen Zeitgenossen, so liegt das vor allem daran, daß man sich mehr für sie interessierte und daß vor allem Urkunden veröffentlicht wurden, die entweder aus flandrischen Archiven stammen oder sich auf Kunstzentren und Zeitabschnitte beziehen, in wel- chen die nordfranzösischen Gebiete eine besonders wichtige Rolle spielten. So hatte man nur das gefunden, was man suchte, und ging an den Legionen von Statuen, welche die großen Kathedralen schmücken und in welchen die Entwicklung derselben Probleme beobachtet werden kann wie in den Werken der genannten Niederländer, oder an den zahllosen Bücherillustrationen, welche uns diese Entwicklung in der Malerei schrittweise verfolgen lassen, achtlos vorüber, als würden sie gar nicht bestehen. Doch isl nicht auch die ganze Trennung der niederländischen und französischen Kunst und Künstler die Folge einer dogmatischen Auffassung, die dadurch entstanden ist, daß man die Verhält- nisse, wie sie sich in der Renaissance entwickelt haben, ohneweiters auch in der vorangehenden Zeit gelten ließ? Wäre es je jemandem eingefallen, Froissard oder noch Philippe de Commines als flandrische Schriftsteller zu betrachten? Die lokale Kunst in Flandern war, wie wir gesehen haben, französisch, so gut und schlecht wie in jeder anderen französischen Provinz. Ist es da nicht selbstverständlich, daß aus Flandern stammende Künstler auch an der allgemeinen Entwicklung der französischen Kunst teil- genommen, ja sie vielleicht auf Grund vieler günstiger Umstände besonders gefördert haben, ohne daß man deshalb von einer französischen und niederländischen Kunst sprechen könnte? Würde man nicht lachen, wenn jemand behaupten wollte, daß die moderne Malerei in der Normandie entstanden sei, weil Millet in der Nähe von Cherbourg geboren wurde? Im XV. und XVI. Jahrhundert war wohl die engere Heimat, die Provinz, die Vaterstadt bestimmend für den Stil eines Künstlers; doch weder für die vorangehende noch für die folgende Zeit kann dasselbe ohneweiters angenommen werden. In der Barockzeit entwickelte sich die Kunst nicht mehr in kleinen Landstädten sondern in den großen Re- sidenzen. Den Ursprung des Stiles Pietros da Cortona oder Borrominis würde man vergeblich in Cor- tona oder in Bissone suchen und mehr als von seinen flämischen Vorfahren hat Rubens in Rom ge- lernt und in Venedig. Nicht viel anders vollzog sich jedoch die Entwicklung der gotischen Kunst. Der Fortschritt war da ebensowenig an das kommunale und territoriale Kunstleben gebunden als im XVII. Jahrhundert. Wenn wir fast in der ganzen abendländischen Kunst des XIII. Jahrhunderts aus Chartres oder in der Kunst des XIV. Jahrhunderts aus Reims stammende Entlehnungen und An- regungen finden können, so ist dies gewiß nicht so zu erklären, daß die lokale Kunst von Chartres oder Reims zu einer außerordentlichen Bedeutung gekommen wäre. Der Bau der großen Kathedralen vereinigte Künstler aus nah und fern und das große gemeinsame Werk eröffnete der Kunst der Künstler, die es geschaffen haben, neue Möglichkeiten und führte zu neuen Lösungen. Ahnlich verhielt es sich auch mit den großen künstlerischen Unternehmungen der weltlichen Prunksucht der Fürsten und Dynastien. Aus der ganzen Welt beinahe wurden zum Baue und zur Ausschmückung der päpstlichen Burg in Avignon Künstler herangezogen und aus ihrem Zusammenwirken ist ein neuer Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 261 Stil entstanden. Dasselbe wiederholte sich überall, wo große Werke geschaffen wurden, beim Louvre- baue, als das Schloß von Bicetre oder das Hotel du Nesle ausgeführt und geschmückt wurde, in Dijon oder Bourges. Uberall strömen Künstler aus den entlegensten Gegenden zusammen und nur die Stümper bleiben an der aus der Heimat mitgebrachten Kunst haften, ohne sich zur vollen Höhe der gemeinsamen Aufgabe und der letzten Probleme und Entdeckungen der Kunst emporzuarbeiten. Die wahren Künstler gingen über das hinaus, was vorangehende Generationen ohne Unterschied der Her- kunft gefunden hatten. Es ist zweifellos, daß sich in diesem gemeinsamen Schaffen persönliche und nationale Eigentüm- lichkeiten geltend gemacht haben; es dürfte jedoch vorläufig kaum möglich sein, sie festzustellen, und es handelt sich in unserer Frage auch nicht darum. Was für unsere Untersuchung vor allem in Be- tracht kommt, ist die Feststellung, daß die Probleme, welche als eine Errungenschaft der neuen nieder- ländischen Malerei und ihrer vermeintlichen Begründer angesehen wurden, weder als eine natio- nale Besonderheit der flandrischen Kunst betrachtet werden können noch als eine lokale Schöpfung der flandrischen Provinzen entstanden sind, sondern im Zusammen- hange mit der ganzen vorangehenden allgemeinen Entwicklung der französischen Kunst stehen und aus diesem Zusammenhange abgeleitet und erklärt werden müssen. Es handelt sich darum, die entwicklungsgeschichtlichen Momente festzustellen, die zur Entstehung des neuen Stiles führen mußten, und es wäre töricht, sie in Maseyck oder Limburg zu suchen. Eine ausführliche Geschichte der gotischen Malerei in der zweiten Hälfte des XIV. Jahrhunderts zu schreiben, dürfte heute, wo fast alle Vorarbeiten mangeln, kaum durchzuführen sein und ist für unsere Aufgabe nicht einmal nötig. Es genügt, jene Stilphasen nachzuweisen, die für die Entstehungs- geschichte der Kunstprinzipien unserer beiden Meister in Betracht kommen. Das Nächstliegende ist, vor allem zu fragen, wie sich die spätmittelalterliche Malerei des Nordens dort entwickelte, wo das Kunstleben in der zweiten Hälfte des XIV. Jahrhunderts am intensivsten gewesen ist. Man hätte die Ent- wicklung des Stiles der gotischen Skulpturen in Bamberg oder Freiberg nie erklären können, hätte man ihre Anfänge nicht dort gesucht, wo man in der gleichzeitigen Bildhauerei am weitesten gekommen ist, nämlich in den Ateliers der großen französischen Kathedralen. In ununterbrochener Anordnung lassen uns die Skulpturenreihen der französischen Dome verfolgen, wie Generationen nach Generationen um die Bewältigung der plastischen Probleme gerungen haben. Es sind nicht die Künstler der Stadt Chartres, der Stadt Reims, die den neuen Stil geschaffen und ihn weiter entwickelt haben, sondern Meister, die aus nah und fern gekommen sind, um an dem großen Kirchenbaue mitzuarbeiten, und die sowohl durch das große Unternehmen geschult wurden als auch durch die Beteiligung daran an einer Vermehrung der Kunsterrungenschaften und Erfahrungen gearbeitet haben. Man kann wohl auch noch im XIV. Jahrhundert an den Fassaden oder Glasgemälden der großen Kathedralen Belehrung über die Fortschritte der bildenden Künste suchen und finden. Doch in dieser Zeit haben die Bauhütten und Werkstätten der Glasmalerei bei den großen Kirchenbauten nicht mehr jene zentrale und ausschlaggebende Bedeutung wie in der vorangehenden Kunst. Die grandiosen kirch- lichen Kunstunternehmungen der frühgotischen Zeit, welchen an Kühnheit der Projekte und an Zahl der zu bewältigenden Arbeit kaum etwas im ganzen Verlaufe der Geschichte der Kunst verglichen wer- den kann, kamen im XIV. Jahrhundert mehr oder weniger ins Stocken und neue wurden nicht mehr be- gonnen oder nur mit bescheideneren Zielen. In einem bestimmten Sinne treten weltliche künstlerische Unternehmungen an ihre Stelle. Bereits Klemens VI. begnügte sich in Avignon mit einer verhältnis- mäßig bescheidenen Kirche und ließ ein Schloß bauen und künstlerisch ausschmücken, welches nur von den großen Residenzen der Barockzeit übertroffen wurde; und seinem Beispiele folgen alle Fürsten und Edelleute, die auf der Höhe der Kulturentwicklung ihrer Zeit gestanden sind. Es wäre falsch, dies so zu verstehen, wie es so oft geschehen ist, als hätte sich im XIV. Jahrhundert ein Gegensatz zwischen der kirchlichen und weltlichen Kunst entwickelt. Es gab wie früher und wie später bis zur Revolutionszeit auch im Trecento zwischen beiden eine absolute Reziprozität und Stilgemeinschaft und der Unterschied der vorangehenden Periode gegenüber bestand nur darin, daß sich die Weiter- 202 Max Dvorak. entwicklung der Kunst vornehmlich an Aufgaben vollzogen hat, die ihr durch Prachtliebe und Prunk- sucht einzelner Menschen gestellt wurden. Es gibt Anomalien in der Geschichtschreibung, die schwer zu verstehen sind. Zu diesen gehört der Kultus und die Uberschätzung der Renaissance als einer Epoche, welche die Geschichte der menschlichen Zivilisation in zwei Hälften trennt. Es liegt uns fern, die Bedeutung des «Zeitalters der großen Taten und der großen Menschen» zu unterschätzen. Selten im Verlaufe der Geschichte gab es eine so glänzende Vereinigung eines hochbegabten Volkes mit den günstigsten wirtschaftlichen Bedin- gungen und selten hat eine solche Vereinigung so herrliche Früchte getragen wie im XV. Jahrhundert in Italien. Doch gerade das, was man als die eigentliche Kultur der Renaissance und als die eigent- lichste und bewunderungswürdigste Schöpfung dieses goldenen Zeitalters in der Geschichte der Mensch- heit zu bezeichnen pflegt, ist weder in Italien und im XV. Jahrhundert entstanden noch hat es in jener Zeit den Höhepunkt erreicht. Die Lebensführung, die Bildung und der Geschmack der italienischen Fürsten der Renaissance, deren Leben uns oft als der höchste Ausdruck einer individuellen Kultur geschildert wird, sind im wesentlichen der ganzen höfischen Gesellschaft ihrer Zeit gemeinsam, mit dem Unterschiede, daß Cesare Borgia, auch nur mit Gaston de Foix verglichen, ein Abenteurer, daß Lorenzo Magnifico, mit Philipp dem Guten verglichen, ein Parvenü gewesen ist. Eine bestimmte Kultur ist nicht etwas Gegebenes, das wie der goldene Vogel im Märchen plötzlich aus der Ferne geflogen käme, die Menschen zu beglücken, sondern ist die Lebensweisheit, welche sich eine bestimmte soziale Organisation in einer langen Abfolge von Generationen errungen hat. Sie ist ein geschichtliches Gebilde, welches weder an einem Tage entdeckt oder erlernt noch durch den menschlichen Willen allein geändert werden kann sondern ebenso durch eine lange ge- schichtliche Entwicklung wie durch Vererbung und soziale Zugehörigkeit bestimmt wird. Vergeblich würde man jedoch im XIV. Jahrhundert in Italien die Quellen und ersten Äußerungen dessen suchen, was in der Kultur der Renaissance als eine höhere Form der Lebensführung und Lebensanschauung gepriesen wird. Als ein armer Mann kam Klemens V. nach Avignon und mietete sich in einem Kloster ein; denn in Rom wurden damals von den Adeligen Türme bewohnt und seine Vorgänger hausten in alten Ruinen. Es mögen vor allem drei Ursachen bewirkt haben, daß seine Nachfolger beschlossen, einen Palast zu bauen, dem nichts Bestehendes an Größe und Pracht gleichen würde. Benedikt XII. und Klemens VI. waren ihrer Bildung nach französische Adelige und als solche wollten sie auch leben. Wenn nun aber je die Kultur einer bestimmten sozialen Deszendenz sich durch Jahrhunderte zu höheren Formen entwickelte, so war es beim französischen Adel des Mittelalters der Fall. Man lese höfische Gedichte aus dem XIII. und XIV. Jahrhundert oder das Geßchichtswerk Froissarts, um sich zu überzeugen, zu welcher Höhe einer verfeinerten Lebenskunst die adelige Gesellschaft in Frankreich damals bereits gelangt war, zu einer Höhe, von der man sonst in Europa nur etwas wußte, als man es aus Frankreich empfangen hatte. Und für diese Kultur war Luxus und Kunst ebenso unerläßlich wie für die Lebensführung der Fürsten der Renaissance. Die zweite Ursache mag in der Emanzipation des Papst- tums von seinem mittelalterlich hieratischen Charakter zu suchen sein. Die Historiker, welche den Anfang der Reformation in dieser oder jener Sekte suchen, gehen dem Probleme nicht viel tiefer auf den Grund als jene alten, auf die wir bereits einmal verwiesen haben, die ihn von dem Auftreten Luthers ableiten. Wie sich vor der französischen Revolution die Ideen der Aufklärung in England entwickelten und die Revolution nur das Gewitter bedeutet, welches sich entlud, als sie in die Niede- rungen anderer sozialen Schichten hinabgelangten, so beruhen auch die religiösen Revolutionen des XV. und XVI. Jahrhunderts auf dem religiösen Rationalismus, der bereits im XIV. Jahrhundert sich in den religiösen Anschauungen der führenden gesellschaftlichen Klassen in Frankreich bemerkbar macht und in der theologischen Literatur der französischen und englischen Universitäten seinen literarischen Ausdruck gefunden hat. Als eine Folge der intensiven und einheitlichen Kulturentwicklung, die sich in Frankreich und England seit den Kreuzzügen vollzogen hat, müssen wir diese erste religiöse Auf- klärungszeit betrachten, die als ein scharfes Messer in Kinderhänden in späterer Zeit Dinge zerschnitt. Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 263 wo es eigentlich nichts zu zerschneiden gab. Klemens VI. war wirklich kein Mönch und kein mittel- alterlicher Papst mehr sondern ein Fürst, den seine soziale Stellung und Bildung noch weit mehr über andere Menschen erhob als die ihm anvertraute Macht und Aufgabe. Doch nicht nur in der Kunst schweben die Schatten des Altertums, wirkliche aus dem Reiche Charons kommende und solche, welche die Phantasie der Nachwelt vorgaukelte, über dem neuen Schäften der christlichen Periode. Der gezwungene Aufenthalt in einer Stadt brachte es mit sich, dai3 die Päpste im Gegensatze zur mittelalterlichen Sitte an eine bestimmte Residenz gebunden waren, und wenn man die Ruinen von Avignon in einer stillen Stunde auf sich einwirken läßt, empfindet man ähnliches wie vor den titanen- haften Trümmern des antiken Rom oder vor den größten Schöpfungen des Barocco. Der Sinn für das Monumentale, für das Imposante und Bleibende unterscheidet die Erben der klassischen Kultur von allen anderen Völkern, die nicht oder nicht unmittelbar an ihr teilgenommen haben, und so baute ein Nachfolger jener Kirchenfürsten, die einst ihren Palast nach dem Vorbilde der römischen Kaiser- paläste errichtet haben, nicht eine kleine finstere Burg sondern more Romanorum ein großes Schloß mit Sälen, die an Kirchenhallen erinnern und zu deren Schmuck alles herbeigeschaff^t werden sollte, was nur möglich war. So ist aus der Verknüpfung einer langen Kulturentwicklung mit bestimmten geschicht- lichen Ereignissen nicht nur das erste Vorbild für die Schöpfung von großen Residenzen entstanden, welchen seitdem alle Öffentliche, sei es autokrative, sei es kommunale Kunstförderung galt und durch die bis auf unsere Tage die letzten Ziele der monumentalen Kunst bestimmt wurden, sondern auch jene große Inanspruchnahme der Kunst für das Luxus- und Ruhmesbedürfnis der Einzelnmenschen, die als eine Eigentümlichkeit der Renaissance galt, die jedoch seit jener avignonesischen Zeit bereits nie mehr verloren ging. Man könnte an das Amielsche Gesetz der Ironie denken, wenn man erwägt, daß die Päpste den entscheidenden Schritt in dieser Richtung getan haben; es handelt sich jedoch nicht um einen neuen Abschnitt in der Geschichte des Papsttums sondern in der Geschichte des höfischen Lebens und der ganzen Kultur. Unter der Flagge der höchsten Wissenschaftlichkeit werden jahraus jahrein «Beiträge zur Kultur- geschichte des späteren Mittelalters» veröfi^entlicht. In keinem las ich aber bisher auch nur einen Hin- weis darauf, daß die nordfranzösischen Höfe in der zweiten Hälfte des XIV. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des XV. Jahrhunderts für die ganze Kulturentwicklung eine noch bei weitem größere Bedeutung hatten als etwa der Hof Ludwigs XIV. Manchmal liest man eine Bemerkung über die Verbreitung der «französischen Sitten» in ganz Europa, als ob es eine Tatsache wäre, die keiner weiteren Erklärung bedarf. Man nehme aber einmal einen Brief oder eine Kriegsproklamation des unglücklichen Jean Sans Peur in die Hand und lese sie aufmerksam durch. Wer gewohnt ist, aus dem ideellen und formalen Inhalte eines literarischen Erzeugnisses Schlüsse auf die ganze geistige Kultur einer Zeit zu ziehen, auf den werden diese Schriftstücke wie Off"enbarungen wirken. Formell stehen sie über den Erzeugnissen z. B. der Reichskanzlei wie eine Schilderung Voltaires über einer Schulstil- übung; selbst die Lettere Petrarcas oder Enea Silvios, wenn auch von größerem dichterischen Werte, sind, was Klarheit und Anschaulichkeit anbelangt, eine Spielerei dagegen, und wenn man die individuell überlegene Auffassung eines Ereignisses als den Maßstab der geistigen Reife gelten lassen wollte, so müßte man die Zeit dieser Dokumente bereits als das goldene Zeitalter bezeichnen, das der Mensch «über sich hinaus» geschaffen hat. Man hat oft die Frage erörtert, wie die Ubereinstimmung in der objektiven Auffassung der Geschichte zwischen Philippe de Commines und Macchiavelli zu erklären sei, eine überflüssige Frage für den, der sich dessen bewußt wird, daß sie beide nicht verein- zelte Erscheinungen gewesen sind sondern daß ihr Genius nur das zu einem gewaltigen Ausdrucke brachte, was eine lange Entwicklung einer bestimmten geistigen Kultur geschaffen hat. Die Prokla- mationen des Herzogs von Burgund waren nicht die literarische Tat eines großen Schriftstellers sondern bezeugen die allgemeine kulturelle Höhe des Kreises, aus dem sie entstanden sind, eine Höhe, für die wir außer ihnen unzählige Zeugnisse sammeln könnten. Man mag die Beschreibungen der großen Feste in Paris, in St. Denis oder in Reims lesen, die unter Karl VI. stattgefunden haben und die Froissard so wundervoll beschreibt; an Prunk und Pracht dürfte sie außer den römischen Triumph- 204 Max Dvofäk. zügen kaum je etwas übertroften haben. Man mag sich über die Verwaltungsorganisation dieser Höfe unterrichten, aus Gedichten und Geschichtswerken Nachrichten über die tägliche Lebensführung, über gesellschaftlichen Verkehr und Takt, über die Ausdrucksweise dieser Kreise sammeln oder ihre reli- giösen und politischen Anschauungen verfolgen, überall finden wir die Dokumente einer souveränen Kultur, die als ein Höhepunkt der ganzen vorangehenden kulturellen Entwicklung des Westens be- trachtet werden muß und die in gleicher Weise die folgende Zeit bestimmte wie die barocke Kultur Italiens das XVII. und XVIIl. Jahrhundert oder wie die englische Aufklärung das XIX. Jahrhundert. Eine lange und intensive einheitliche kulturelle Entwicklung schuf in allen genannten Epochen Werte, die als die maßgebenden geistigen Kräfte die Geschichte der Menschheit in neue Bahnen lenkten. Die Kunst spielte in diesem Kulturkreise eine nicht geringere Rolle als in der Renaissance- gesellschaft. Wofür die Päpste in Avignon das erste Beispiel gegeben haben, das entwickelte sich an den französischen Höfen der folgenden hundert Jahre zu einer Lebensbedingung. Bereits unter Karl V. strömen Künstler aus nah und fern herbei, um beim Baue der neuen königlichen Residenz Beschäftigung oder sonst in Diensten des Königs Lohn und Anerkennung zu finden, und an den Höfen seiner Brüder und Neffen füllen Künstlernamen die Hofhaltungsrechnungen. Nicht ein Schloß wird gebaut sondern stets eine Reihe von Residenzen angelegt, von welchen die eine die andere übertreffen soll, und die Schatzinventare zählen hunderte von Nummern. Was man in Avignon noch übersehen konnte, scheint sich hier ins Unermeßliche zu steigern. Von einer leitenden Stellung des einen oder des anderen Kunstzentrums kann dabei kaum ge- sprochen werden. Künstler, von welchen wir wissen, daß sie bei den großen Kirchenbauten beschäftigt gewesen sind, finden wir später in Paris in königlichen Diensten, dann wiederum in Poitiers oder Dijon und dieselben Meister wie für den Herzog von Berry arbeiteten auch für die Herzoge von Burgund oder von Orleans.^ Man kann also weder von einer burgundischen noch von einer Pariser Schule sprechen, wenn man nicht unberechtigterweise die spätere Gestaltung der Dinge ins XIV. Jahrhundert übertragen will, wo es sich mit der Kunstentwicklung in Nordfrankreich ähnlich verhielt wie im XVII. Jahrhundert in Rom. Uber den Zusammenhang der einzelnen Ateliers, ihren zeitlichen und lokalen Ursprung könnte man aber heute nur Vermutungen aufstellen. Was Reichtum und Anzahl der Kunstwerke anbelangt, könnte man die künstlerischen Unter- nehmungen des Herzogs von Berry als den Mittelpunkt dieses Kunstschaffens betrachten, wie ja überhaupt die Hof- und Lebensführung dieses Fürsten als der höchste Ausdruck der geschilderten Kultur angesehen werden kann. Ein Unglück für Frankreich war das lange Leben des Herzogs Jean von Berry, ein besonderes Glück für die Geschichte der französischen Kunst. Alle Mitglieder des Hauses Valois waren Kunstfreunde, doch keiner von ihnen betrieb diese Liebhaberei mit einer so rücksichts- losen Energie wie der zweitjüngste Bruder Karls V., dem sein langes Leben den unverdienten Zunamen des Guten und Weisen gespendet hat. Als junger Prinz bekleidete er die Lieutenance von Languedoc und kam auf diese Weise mit dem avignonesischen Kunstleben in unmittelbare Berührung. Dort mag bereits seine Vorliebe für Kunstwerke und Kunstunternehmungen entstanden sein, der er später als Herzog von Berry und Graf der Auvergne seine ganzen Einkünfte und mehr, als seine Einkünfte be- trugen, widmete, so daß er als ein armer verschuldeter Mann gestorben ist. Nicht weniger als 17 Schlösser hat er erbaut und mit einem so großen Luxus geschmückt und mit so viel Kunstwerken gefüllt wie früher in der christlichen Zeit niemand und später erst nur die größten Kunstfreunde der Barockzeit. An seinem Hofe war die Kunst wirklich international: Italiener arbeiteten da neben ' So war, um nur einige Beispiele anzuführen, einer der Bildiiauer des Herzogs von Berry, Jacques CoUet, in Chartres und dann in königlichen Diensten tätig, bevor er in die Dienste des Herzogs trat; die Architekten des Herzogs Guy und Drouet de Dammartin waren zuerst ebenfalls beim Louvrebaue beschäftigt, der Sohn des letzteren leitete den Bau der Kathe- dralen zu Mans und Tours. Der Bildhauer Jean de Liege stand zuerst in Diensten Karls V., später des Herzogs von Burgund; Beauneveu ebenfalls zuerst in Diensten Karls V., später in Diensten des Grafen von Flandern; die Brüder von Limburg arbeiteten zuerst für den Herzog von Burgund, später für den Herzog von Berry u. s. w. Belege dafür bei Champeaux- Gauchery, Les travaux d'art executes pour Jean de Berry, und Dehaisnes, Histoire de l'art dans La Flandre, L'Artois et Le Hainaut. Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 265 Franzosen und Niederländern, Spanier neben Deutsciien, selbst nach «sarazenischer Art» wurden Räume geschmückt.^ So können die vielen Kunstwerke, die er ausführen ließ, als ein Spiegelbild aller wichtigsten Kunstbestrebungen seiner Zeit betrachtet werden; sie sind zugleich ein neuer Beweis für die universale Bedeutung des Kulturkreises, von dem wir da gesprochen haben, und der Kunst- entwicklung, zu welcher wir uns nun wenden wollen. Nach den sich vollziehenden Stilwandlungen kann man die Geschichte der französischen und niederländischen Malerei in den der Vollendung des Genter Altares vorangehenden hundert Jahren in vier Perioden einteilen, die beiläufig der Aufeinanderfolge von vier Generationen entsprechen dürften. Die erste Periode, welche beiläufig die Regierungsjahre Karls V. umfaßt, wollen wir als die des ersten italianisierenden Stiles bezeichnen; die zweite, bis zum Ende des Jahrhunderts, als die des zweiten italianisierenden Stiles; die dritte, welche mit dem Tode Huberts begrenzt werden könnte, als die des ersten naturalistischen Stiles; und die vierte, bis zum Tode Jans, als die des zweiten naturalistischen Stiles, wobei wohl nicht erst hervorgehoben werden muß, daß sich diese Einteilung mehr auf die Auf- einanderfolge der leitenden malerischen Probleme bezieht, als daß sie einen strickten terminus ad quem für die Jahre der einzelnen Stilphasen bieten wollte, was bei einem so reichhaltigen und mannig- faltigen Kunstleben nicht möglich wäre. Der erste italianisierende Stil. Bis etwa zur Mitte des XIV. Jahrhunderts gleicht die Ge- schichte der französischen gotischen Malerei einem Strome, der wohl immer breiter und mächtiger wird, doch bis dahin keine anderen größeren Flüsse in sich aufgenommen hat. Um die Mitte des Tre- cento fließen jedoch zwei Ströme zusammen. Ich versuchte in einer früheren Arbeit diese Begegnung und ihre Ergebnisse zu schildern. ^ Zuerst in Avignon, fast gleichzeitig aber oder nicht viel später in anderen Kunstzentren des Nordens sind in die Entwicklung der gotischen Malerei die künstlerischen Grundsätze und Formen eingedrungen, die sich in Italien entwickelt hatten. Auf allen Kunstgebieten, in welchen damals die Kunst vorgeschrittener gewesen ist, können wir beiläufig in den Jahren 1350 bis i38o einen Stil nachweisen, der einfach als eine Rezeption der gleichzeitigen toskanischen Malerei betrachtet werden könnte, wenn er nicht auch mit Elementen verbunden wäre, die der gleichzeitigen italienischen Malerei fremd gewesen sind. Diesem ersten giottesken Stile nördlich der Alpen liegen jene Probleme zugrunde, welche von sienesischen und florentinischen Künstlern des XIII. und XIV. Jahrhunderts in die Malerei neu wieder eingeführt wurden. Doch nicht nur das, auch die Kompositionen, Typen, technische Gewohnheiten, das Kolorit haben die nordischen Nachahmer ihren Vorbildern entnommen, ohne jedoch ganz die stilistischen Eigentümlichkeiten und den Formenschatz der früheren gotischen Malerei aufzugeben. Es hat sich in der genannten Zeit ein stark italianisierender Stil gleichzeitig in Paris, Prag und Köln, doch auch anderswo überall entwickelt, wo das Kunstleben nicht ganz zurückgeblieben war. In Nord- frankreich können wir diesen Anschluß an italienische Vorbilder zuerst an Werken der Hof künstler Karls V. beobachten, doch nicht viel später an allen malerischen Schöpfungen jener Periode. Man wird durch den merkwürdigen Mischstil dieser Werke an die ersten Versuche einer Übertragung des neuen monumentalen plastischen Stiles nach Deutschland im XIII. Jahrhundert erinnert, wie man sie z. B. in Sachsen beobachten kann, oder an die erste Verpflanzung der architektonischen Formen der italienischen Renaissance nördlich der Alpen. In einer oft merkwürdigen und unorganischen Zu- sammenstellung stehen da französische und italienische Motive neben einander, als ob kein Unter- schied zwischen ihnen wäre. Vor einem tapetierten Hintergrunde erheben sich anscheinend grundlos und unsinnig die bekannten giottesken Felsen (Fig. 37), zwischen den rauhen und karikaturenhaften Figuren der älteren gotischen Illustration erscheint plötzlich der mild lächelnde Engel der Sienesen, ' Champeaux, p. 190 ff. - Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen des Allerh. Kaiserhauses, Bd. XXII. XXIV. 37 266 Max Dvofäk. unvermittelt wird neben dem tiefen Enzianblau und Karminrot der älteren französischen Ateliers das grelle Azurro und Rosso der Italiener angebracht und auf demselben Blatte finden wir oft das franzö- sische Dornblattornament mit italienischen Rankendekorationen einfach zusammengestellt. Bei den Flußmündungen sieht man ja auch noch lange den Lauf der beiden Ströme, die zusammengeflossen sind. Der zweite italianisierende Stil. Bald können wir jedoch Versuche beobachten, aus den fremden und eigenen Elementen einen einheitlichen Stil zu gestalten, für dessen Gestaltung die Werke der Schule von Avignon maßgebend gewesen zu sein scheinen. Jedenfalls weisen nordfranzösische Bilder und Miniaturen beiläufig in den Jahren i38o — 1400 einen ähnlichen Stil auf wie z. B. gleich- zeitige Arbeiten der böhmischen Schule, die unmittelbar unter avignonesischem Einflüsse gestanden ist. Es ist jener Stil, den man manchmal als den burgundischen zu bezeichnen pflegt, ohne anderen Grund, als daß einige Werke, die diesen Stil aufweisen, im Auftrage des Herzogs von Burgund hergestellt wurden. Als charakteristische Beispiele dafür können angeführt werden: an Miniaturen die Werke des Jaquemart de Hesdin (Fig. 40) und seiner Gesellen (in den Gebetbüchern des Herzogs von Berry, Mst. lat. 919 und 18914 der Pariser Nationalbibliothek und Ms. 11060 in Brüssel) oder die Bilder- bibel Nr. gooi, 9002 der Brüsseler Biblio- thek, die nicht im XV., wie Durrieu ver- mutete, sondern noch im XIV. Jahrhundert, wahrscheinlich für den Herzog von Burgund illuminiert wurde und die ohne Zweifel unter avignonesischem Einflüsse steht, oder die schöne Bilderbibel Mst. fr. 9561 der Pariser Nationalbibliothek, die man sogar als eine italienische Arbeit angesehen hat; an Tafel- bildern die in der letzten Zeit unverdienter- maßen zu großem Ruhme gelangten Tafeln, welche Melchior Broederlam in den Jahren iSga — iSgg für den Herzog von Burgund malte (Fig. 38), und eine ganze Reihe Trag- altärchen ähnlicher Art, oder das schöne Tondo mit der Darstellung einer Pietä im Louvre (Fig. Sg) und verwandte Bilder; an Tapisserien die Apokalypse von Angers oder die Darstellungen aus der Legende des heil. Piat in der Kathedrale von Tournai, die im Jahre 1402 gewebt wurden; an Glasgemälden die Uberreste der Fenster, die der Herzog von Berry in der Kathe- drale und in der Sainte Chapelle von Bourges ausführen ließ. Auch die schöne Vorzeichnung für ein Glasgemälde mit der Himmelfahrt Maria im Louvre kann hier genannt werden, die zuerst für italie- nisch angesehen und dann mit ebenso wenig Recht Beauneveu zugeschrieben wurde. Für den Stil dieser Werke ist es bezeichnend, daß man sie vielfach für italienisch hielt, wo nicht äußere Gründe den französischen Ursprung außer Zweifel setzten. Manchmal könnte es wahrlich scheinen, als hätten wir es mit Arbeiten irgend welcher weniger bekannten italienischen trecentesken Lokalschule zu tun; so gleichen diese französischen Malereien in ihren malerischen Aufgaben und Lösun- gen den transalpinischen Vorbildern. Während bei Werken der vorangehenden Generation nur einzelne Entlehnungen aus der italienischen Kunst vorkommen, scheint an den Gemälden der Achtziger- und Neunzigerjahre alles italienisch zu sein: die Kompositionen, die Landschaften und Innenräume, die Figuren, die Formengebung, die Farben. Würde sich die Pietä im Louvre (Fig. Sg) irgendwo in Ober- Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 267 italien befinden, so hätten wohl viele Bilderkenner, bevor man sich im allgemeinen mehr mit der spät- mittelalterlichen Malerei beschäftigt hatte, als es bisher geschehen war, an der italienischen Provenienz der Tafel nie gezweifelt. Und hätten die Architekturen der von uns abgebildeten Kreuztragung aus einem Gebetbuche des Herzogs von Berry (Fig. 41), welches von Jaquemart de Hesdin und seinen Ge- sellen illuminiert wurde, nicht nordische Formen, so könnte man ein solches Bild mit anscheinend nur geringen Unterschieden auch z. B. in einer mailändischen oder veronesischen Handschrift aus der zweiten Hälfte des Trecento fin- den. Dennoch kann einem auf- merksamen Beobachter, besonders wenn er sich ein wenig in der Geschichte der Malerei jener Pe- riode umgeschaut hat, kaum ent- gehen, daß alle diese Malereien trotz der treuen Anlehnung an italienische Vorbilder von den letzteren wesentlich verschieden sind, so daß man sie, wenn man auf diese Unterschiede aufmerk- sam wurde, nie mit einer italie- nischen Arbeit verwechseln kann. Dieser Unterschied offenbart sich naturgemäß am deutlichsten bei der Zusammenstellung meh- rerer Werke dieser Gruppe, in- dem dadurch gemeinsame Schul- gewohnheiten hervortreten, für die wir in Italien keine Analo- gien besitzen. Als solche wären z. B. einzelne genrehafte Gestalten zu nennen, die wir aus den italie- nischen Trecentogemälden nicht kennen, die sich jedoch in der älteren französischen Malerei oft nachweisen lassen, wie z. B. die Gassenbuben, die schaulustig den traurigen Golgathazug begleiten, die Gestalten der beiden Schacher in zerlumptem Gewände oder der heil. Josef, der in der Reise nach Ägypten von Broederlam treu in der Gestalt eines herumziehenden Handwerksgesellen dargestellt wurde. Es wäre kaum je einem gleichzeitigen Italiener eingefallen, die scharfen Steine zu malen, über welche die nackten Füße des Erlösers schreiten mußten, oder die Landschaft in der Verkündigung an die Hirten als beschneit darzustellen (S. 82 des Brüsseler Gebetbuches). Das sind Einfälle von Künstlern, die seit langem gewohnt waren, Randleisten in Handschriften oder Wanddekorationen mit genrehaften, der Natur abgelauschten Szenen und Figuren zu beleben. Wichtiger jedoch als diese stofflichen Eigentüm- lichkeiten sind stilistische Besonderheiten, welche sie mit der älteren französischen Malerei verknüpfen und die der italienischen Trecentomalerei fremd gewesen sind. Trotz aller ikonographischen Uberein- stimmung mit italienischen Vorbildern steht der Kopf Gottvaters oder Christi in der Pietä (Fig. 3g) oder die Köpfe der beiden Heiligen in der Titelminiatur des Brüsseler Gebetbuches (Fig. 40) fran- 37* Fig. 38. Melchior liroederlam, Darstellung im Tempel und Flucht nach Ägypten. Diion, iMuseum. 268 Max Dvofäk. zÖsischen gotischen Skulpturen viel näher als giottesken Gestalten. Wir nennen plastische Werke zum Vergleiche, nicht weil sie von gleichzeitigen Malereien verschieden waren, sondern weil sie bekannter sind. Es sind ähnliche Gestalten, wie sie schon Beauneveu malte und für die wir um die Mitte des Jahrhunderts überall in französischen malerischen Werken Beispiele genug finden können. Noch deutlicher können wir diesen Zusammenhang mit der älteren französischen Kunst in der Darstellung der Gewänder und Draperien beobachten. Neben den großzügig stilisierten Gewandfiguren finden wir z. B. beim Johannes in der Pietä, bei der Madonna auf dem Bilde Broederlams oder bei Johannes dem Täufer in dem Devotionsbilde des Herzogs von Berry (Fig. 40) jene scharfbrüchige, fast barockreiche Faltendarstellung, die eine treue Begleiterin der älteren gotischen Kunst gewesen ist und die den Wunsch er- zeugt haben mag, die einfachen Steinformeln der frühgotischen Zeit durch eine natürlichere Stoffwiedergabe zu er- setzen. Wenn wir uns ferner gleichzeitige ita- lienische Bilder ver- gegenwärtigen, so wer- den wir bald die Ent- deckung machen, daß sich die nordfranzösi- schen Werke von ihnen nicht nur durch einen inhaltlich größeren Na- turalismus der Dar- stellung unterscheiden sondern auch durch eine naturalistisch weit fortgeschrittenere For- menwiedergabe. Wie schematisch ist das beste italienische Por- trät aus dem Trecento, mit den beiden Bildnissen des Herzogs von Berry im Brüsseler Gebetbuche verglichen (Fig. 40). Wie lebenstreu und charakteristisch hier der Fürst dargestellt ist, können wir erkennen, wenn wir diese Bildnisse mit jenem zusammenstellen, welches von ihm einer der Brüder von Limburg in dem Gebetbuche von Chantilly malte (Fig. 44), oder mit der herrlichen Grabes- figur aus der Sainte Chapelle in Bourges, die zwar stark zerstört ist, von deren ursprünglichen Gestalt uns jedoch eine Zeichnung Holbeins einen guten Begriff geben kann (Fig. 53). Trotz der unver- gleichlich größeren Beherrschung der naturalistischen Darstellungsmittel, die dem Illuminator des Gebetbuches von Chantilly oder dem Bildhauer in Bourges zu Gebote stand, besagen uns die beiden letzten Bildnisse über die Züge des Herzogs nicht mehr als das Werk des Jaquemart de Hesdin. Die Naturalisten der Renaissance hätten uns über das leibliche nichts weniger als anmutige Aussehen des berühmten Kunstfreundes nicht besser unterrichten können als dieser Büchermaler, der doch der Zeit nach an der Schwelle des angenommenen älteren Idealismus stehen müßte. Dieselbe Beobachtung Fig. 39. Unbekannter französischer Meister, Pietä. Louvre. Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 269 können wir auch bei anderen Werken unserer Gruppe machen. Der Louvre bewahrt eine Serie von Zeichnungen mit Darstellungen einzelner Heiligenfiguren, die auf den ersten Blick als nordfran- zösische Arbeiten aus dem letzten Viertel des XIV. Jahrhunderts zu erkennen sind und mit den zuletzt besprochenen Malereien enge zusammenhängen. Es gibt wenig Darstellungen, die an Schärfe einer großzügigen Charakteristik den Köpfen dieser Heiligenfiguren zu vergleichen wären, die uns an Jugend- werke Donatellos oder Statuen Quercias erinnern und denen gegenüber der gotische Schwung der dazugehörigen Körper fast wie ein Anachronismus erschei- nen könnte. Wenn wir nun kurz zu- sammenfassen, was uns eine allge- meine Betrachtung der Entwick- lung der nordfranzösischen Male- rei in den letzten vierzig Jahren des XIV. Jahrhunderts gelehrt hat, kommen wir zu folgendem Ergeb- nisse: In der ersten Hälfte dieser Periode vermischt sich der ältere französische Stil mit einzelnen ita- lienischen Motiven, in der zweiten Hälfte übernehmen nordfranzö- sische Maler den Stil und die malerischen Probleme der giottes- ken Malerei ganz, um sie jedoch gleich französisch zu machen, das heißt sie mit Stileigentümlichkeiten der älteren französischen Schule auszugestalten. Diese Ausgestal- tung bedeutet jedoch zugleich den italienischen Vorbildern gegenübereinengrößerenNa- turalismus der Formendar- stellung. Jetzt wollen wir aber unsere Betrachtung unterbrechen und uns fragen, wie man die beiden fest- gestellten Tatsachen: die Italiani- sierung der nordfranzösischen Ma- lerei und die Umsetzung des entlehnten italienischen Stiles in einzelne neue naturalistische Beobachtungen entwicklungsgeschichtlich zu erklären hat. Wie verhalten sich die beiden Erscheinungen zu der angeblichen Wandlung vom Idealismus zum Naturalismus? Ist der italianisierte Stil der französischen Malerei noch immer idealistisch oder ist der französisch um- gemodelte Stil der Italiener bereits naturalistisch? Um diese Fragen beantworten zu können, müssen wir noch einmal auf die Zeit Karls V. und die vorangehende Periode zurückblicken. Von einem Hof künstler Karls V. besitzen wir gesicherte Werke. Es ist dies Andre Beauneveu aus Valencienne, Maler und Bildhauer. Im Jahre 1364 übertrug ihm Fig. 40. Jaquemart de Hesdin, Titelminiatur des Gebetbuches des Herzogs von Berry. Ms. 11.060 der königl. Bibliothek iu Brüssel. 270 Max Dvofäk. Karl V. die Ausführung der Denkmäler seiner Vorgänger Philippe Valois und Johanns des Guten, dann seines eigenen und desjenigen seiner Frau Jeanne de Bourgogne für die Kirche von St. Denis. Bis auf das letzte befinden sich diese Monumente noch heute in der Abtei. Ferner wissen wir aus einem Nachlaßinventare des Herzogs von Berry, daß er für diesen einen Psalter mit Prophetenfiguren schmückte. Auch diese Miniaturen haben sich erhalten. ^ Die Statuen des Beauneveu sind wert, daß man ihrethalben nach St. Denis wandert; denn sie sind das Werk eines hervorragenden Künstlers und hinterlassen einen mächtigen Eindruck auch in dem, der nichts davon weiß, wie merkwürdige Menschen es gewesen sind, die diese Grabesstatuen vorstellen. Mit Recht bemerkte bereits Courajod, daß sie zu den größten naturalistischen Leistungen der Kunst gezählt werden müssen. Er selbst sei stets von neuem überrascht gewesen, als er sie sah; er schließt aus ihnen: «il y avait ä Paris au milieu et dans la seconde moitie du XIV. siöcle un foyer tr^s important et tres caracterise d'art naturaliste.» ^ Die Bewunderung Courajods ist begründet, doch die Erklärung, mit welcher er sie begleitet, ist falsch. Auf den ersten Blick könnte man wohl glauben, daß sich Phantome in der leiblichen wahrhaftigen Gestalt der drei Könige auf den Denkmälern niedergelassen haben und jede Weile aufstehen und in der Kirche herumwandeln könnten. Wenn man jedoch länger und genauer zuschaut, verschwindet bald diese Illusion und man entdeckt, daß sie auch künstlerisch Steinbilder sind, die nicht individuell belebten Wesen gleichen sondern starren Totenmasken. Und wer die Mühe nicht scheute und nur einmal im Leben versuchte, mit aufnahmsfähigem Blicke die langen Statuenreihen einer großen gotischen Kathedrale etwa in Reims oder Amiens in ihrer formengeschicht- lichen Entwicklung zu betrachten (ein Unternehmen, welches schon längst ebenso kodifiziert sein sollte, wie es etwa in der griechischen oder Renaissancekunst der Fall ist), wird auch den Ursprung dieser Steinformel leicht erkennen, etwa wie er den Ursprung des Typus kennt, welcher einem Kopfe im Stile der Agineten zugrunde liegt. Die Königsbildnisse von St. Denis sind weder vollkommen treue Porträte in unserem Sinne des Wortes, in welchen der Künstler mit einer lückenlosen Treue das Modell dargestellt hätte, noch ist der Naturalismus, dessen sie sich rühmen können, einzig und allein das Verdienst des Bildhauers, der sie geschaffen hat, oder der engeren Schule, des Ateliers, mit welchen seine Kunst zusammenhängt. Man müßte die ganze gotische Skulptur dazurechnen, wenn man die Genealogie dessen bestimmen wollte, was an diesen Statuen schematisch, aber auch was an ihnen naturalistisch ist. Wenn Villart d'Honnecourt einen Löwen wie einen Pudel zeichnete und dazu schrieb, daß der Löwe treu nach der Natur dargestellt sei, so ist dies nicht aus einer persönlichen Ungeschicklichkeit des Zeichners zu erklären noch auf eine stilisierende Tendenz seiner Kunst zurückzuführen sondern so- wohl der Künstler als auch seine Zeitgenossen waren gewiß überzeugt, daß die Darstellung wirklich treu und gelungen sei. Weder das persönliche Können der Künstler in bezug auf die Naturtreue der Darstellung noch die Anforderungen des Publikums in dieser Richtung werden durch persönliche Willensakte bestimmt sondern richten sich nach der Entwicklungshöhe der vorangehenden und gleich- zeitigen Kunst, Nicht anders war es mit der gotischen Plastik. Zu vermuten, daß die hundertfachen Hüter der Kathedralenfassaden deshalb alle wie Brüder und Schwestern aussehen, weil der Bildhauer sie alle idealisieren wollte, wäre dasselbe, als wollte man die Kinderart, alle Figuren gleich zu zeichnen, als Idealismus bezeichnen. Wer daran zweifeln würde, der bedenke, daß sich der Fortschritt seit dem XII. Jahrhundert nicht als Schöpfung immer einheitlicherer und ideal vollkommenerer Typen voll- zogen hat sondern bei weitem deutlicher als in der griechischen Plastik in einer immer größeren Individualisierung der Gestalten und Formen bestand. Wie groß ist, um nur ein Beispiel zu nennen, der Fortschritt im Naturalismus der Darstellung, der die röhrenförmigen parallellaufenden Gewand- falten von Chartres und die flatternden weichen, biegsamen Gewänder von Statuen trennt, die nur hundert Jahre später entstanden sind. Dieser Fortschritt entstand jedoch nicht mit einem Ruck ' In dem Psalter des Herzogs von Berry, Ms. fran. iSogi der Pariser Nationalbibliothek. ^ Une Statue de Philippe VI : Gazette de Beaux Arts 1885, p. 217 ft. Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 271 sondern läßt sich in seinem langsamen Werden an unzähligen Statuen beobachten; man könnte fast die Geschichte jeder einzelnen Falte schreiben wie in der griechischen Plastik die Geschichte jeder einzelnen Muskelandeutung bei Darstellungen des menschlichen Körpers. Es sei uns erlaubt, hier die schönen Worte anzuführen, mit welchen Vöge die Gewandung der Skulpturen im XIII. Jahrhundert beschrieben hat: «Das Gewand, das anfangs gern etwas Feinfaltiges, Anschmiegsames hatte, loste sich mit seiner Masse mehr von dem Körper los; der Stoff war damit sich selbst, seiner eigenen Schwere freier hingegeben. Die feinen Äußerungen dieses seines Sonderlebens nun — im Widerspiele gegen mannigfache Hemmungen — wissen die Gotiker darzustellen, ohne ins Kleine zu geraten. Wie die hoch herausragenden Kämme rücklings einsinken und schlaff übereinanderfallen, wie die schlanken Züge niederwallend sich stauen, so daß feine Brüche und Knicken sich bilden, wie sie am Boden schleifend ein wenig in Unordnung kommen, als laufe ein Windhauch über ihre Rücken, wie der schwere Stoff hängend hinsteht oder bei schwebendem Faltenbogen in winklig sich absetzende Stücke auseinanderfällt, diese und ähnliche Motive zeigen, wie das schöne Arrangement durchsetzt ist von Anschauung. Die letztere aber ist nicht an der ausstaffierten Puppe des Ateliers genährt, sie suchte ihre Nahrung in freier Luft, obschon im Fluge zu haschen.» ^ Diese feine Beobachtung und glänzende Schilderung Vöges hebt unserer Meinung nach richtig das Wesentliche in der Entwicklung der gotischen Plastik hervor. Es liegt uns fern, das Streben der gotischen Skulptur nach schön geschwungenen harmonischen Linien und nach einem Rhythmus in der Bewegung und Pose zu leugnen, welches man bisher als den Lebensnerv der gotischen bildenden Kunst zu bezeichnen pflegte. Ein solches Streben und naturalistische Probleme schließen sich nicht aus sondern gehen im Gegenteile Hand in Hand, wie uns die Geschichte der barocken Kunst lehren kann. Auch darf man dieses Streben nicht auf die ganze gotische Skulptur übertragen. In der drei- hundertjährigen Entwicklung gibt es gar viele Schwankungen und Veränderungen in dem, was man als die ästhetische Forderung in engerem Sinne des Wortes bezeichnen könnte. Doch was allen diesen Schwankungen zugrunde liegt und als die wichtigste Quelle der Evolution der gotischen Plastik be- trachtet werden muß, ist der Drang nach Anschauung und Veranschaulichung und das unermüdliche Bemühen, in der Belebung und Lebenstreue der Figuren über das Erlernte und Hergebrachte hinaus- zugehen. Es ist selbstverständlich, daß es sich dabei nicht um ein treues Nachschreiben der Natur handeln konnte, wie es z. B. in der Augusteischen Zeit oder im XV. Jahrhundert geübt wurde; denn eine solche souveräne Erschließung der realen Welt ist nicht der Anfang sondern ein gewisser Abschluß einer naturalistischen Kunstentwicklung. Wie vielmehr Kinder nach und nach lernen, ihre Figuren ohne eigentliches direktes Naturstudium und ohne Modell treuer und exakter zu zeichnen, so lernten auch Generationen von Bildhauern, den traditionellen Gestalten der gotischen Skulptur nach und nach einen größeren Realitätsgrad zu verleihen. Es war ja nur ausnahmsweise möglich, die konven- tionellen Heiligenfiguren mit unmittelbaren Beobachtungen nach der Natur auszustatten, und wenn es geschah, so vergrößerte es an und für sich nur wenig die künstlerische Wahrheit der Gestalten, etwa wie eine Gliederpuppe nicht zu einer Statue wird, wenn man ihr auch einen Mantel umhängt und einen Hut aufsetzt, sondern das ganze künstlerische Problem einer freien und natürlichen Gestaltung der Statuen mußte erst bezwungen werden, was nur nach und nach und unter immerwährendem An- schluß an die vorangehenden Errungenschaften geschehen konnte. Wie das am Körper klebende und archaisch ornamentale Gewand schrittweise zu natürlich und frei geordneten Draperien umgedeutet wurde, so mußte auch den Gliedern eine dem Leben entsprechende Wahrscheinlichkeit und Be- gründung, dem Körper der Schein einer tatsächlichen, dem Leben entnommenen Pose und dem Kopfe eine mehr unserer Vorstellung von der individuellen Gestaltung der Formen zusagende Durchbildung verliehen werden. Wenn wir aber von diesem Standpunkte aus die Entwicklung der gotischen Skulp- tur betrachten, so wird es uns klar, daß in keiner anderen Periode der Kunst seit der Antike und vielleicht selbst nicht in der Antike das Problem der natu r treuen Darstellung der Zur gotischen Gewandung und Bewegung : Museum VII. 272 Max Dvorak. Objekte so gefördert wurde wie in jener. Die gotischen Skulpturen sind nicht idealistisch son- dern mittelalterlich beschränkt und an bestimmte Schemen gebunden, doch in dieser Einschränkung bedeuten sie eine sukzessive Erschließung der Welt der Sinne für künstlerische Darstellungen, ohne die der Naturalismus der Renaissance und die ganze folgende Kunst ebenso unmöglich gewesen wäre als die moderne Wissenschaft ohne Scholastik. Zwischen den befangenen und leblosen Statuen von Chartres, die noch mehr architektonischen Baugliedern gleichen als plastischer Wiedergabe einer leben- digen Erscheinung, und den suggestiven Königsstatuen von St. Denis, bei welchen man leicht vergißt, daß sie noch immer an gotische Regeln gebunden sind, liegt eine zumindestens nicht minder intensive naturalistische Entwicklung als zwischen den Figuren Giottos und Michelangelos^ und wenn Beau- neveu seine Gestalten beinahe bis zur vollen Illusion einer objektiven Porträtkunst zu erfinden ver- mochte, so war es nicht sein Verdienst oder die Eigentümlichkeit eines Pariser Ateliers oder einer Schule oder einer Provinz sondern ist durch die ungeheure Summe künstlerischer Arbeit ermöglicht worden, die in den Tausenden und Tausenden von Statuen enthalten ist, welche von unzähligen Künstlern zum Schmucke der großen Kathedralen ausgeführt wurden. Es ist schon Courajod aufge- fallen, daß wir denselben Naturalismus wie bei Beauneveu auch an Skulpturen finden, die gleichzeitig in Amiens entstanden sind, und wenn er der Sache weiter nachgegangen wäre, so hätte er gefunden, daß diese Arbeiten nicht in einer besonderen Stellung oder gar in einem Gegensatze zu dem allge- meinen gleichzeitigen Stile der französischen Plastik stehen sondern im Gegenteile aus diesem Stile entstanden sind, dessen allgemeines Entwicklungsstadium bilden und überall in den Gebieten der fran- zösischen Skulptur von der Provence bis an die Grenze der niederländischen Provinzen nachgewiesen werden können. Beauneveu war nicht nur Bildhauer sondern auch Maler und noch mehr als bei seinen Statuen tritt der naturalistische Charakter seiner Kunst bei den Figuren hervor, mit welchen er einen Psalter für den Herzog von Berry geschmückt hat. Wenn man diese Gestalten in Stein ausführen ließe, würden sie sich wenig von den Skulpturen des Meisters unterscheiden und, was Naturalismus anbelangt, den letzteren jedenfalls nicht nachstehen. Dennoch sind sie nicht einfach gemalte Statuen, die die Laune des Künstlers oder des Auftraggebers auf Pergament übertrug, statt ihnen die plastische Form zu verleihen. Wie ikonographisch in den älteren Psalterillustrationen, so haben diese Personifikationen der poetischen Psalmenbilder auch stilistisch eine ebenso lange und weit zurückgehende Vorgeschichte in der französischen Malerei wie die Königsfiguren von St. Denis in der französischen Plastik. Das Dogma von dem idealistischen Charakter der gotischen Kunst wird noch Öfter in bezug auf die Malerei wiederholt als in bezug auf die Plastik und womöglich mit noch weniger Berechtigung. Nirgends kann man die naturalistischen Entdeckungen der mittelalterlichen Malerei besser beob- achten als in der Ornamentik. Die große künstlerische Erfahrung und Mannigfaltigkeit der Motive, welche dem spätantiken Ornamente zugrunde liegt, verwandelte sich im frühen Mittelalter in ein totes Erbgut, dessen man sich wohl bediente, das man seinem eigenen Werte nach jedoch nicht mehr ver- standen hat. Bis ins XIII. Jahrhundert finden wir in der malerischen Dekoration des Abendlandes naturalistische Motive der Augusteischen und folgenden Kunst, doch nicht in ihrer ursprünglichen Be- deutung, sondern unterschiedlos mit rein geometrischen Ornamenten zu einer Flächendekoration verbunden, die eher an den ornamentalen Stil schwarzfiguriger Vasen als an die spätrömischen Vor- bilder erinnert. Seit dem XII. Jahrhundert können wir jedoch beobachten, wie sich in dem ornamentalen Ranken- gewirr ein organisches Leben zu rühren beginnt. Da gibt es eine Blüte, die unmöglich mehr nur orna- mental aufgefaßt werden kann sondern auf eine Naturerinnerung zurückgeht und eine solche auch verbildlichen soll, dort wird eine flächenhafte geometrische Ranke zu einem wirklichen plastischen Zweig umgedeutet und das fantastische Getier der Völkerwanderungskunst verwandelt sich in Vogel und Haustiere. Im XIV. Jahrhundert hat das ganze spätantike ornamentale System seine alte Bedeu- tung, seinen vollen alten Realitätsinhalt wieder erhalten. Die Ranken- und Blumengewinde sind weder ganz noch teilweise eine rein ornamentale Erfindung mehr sondern sollen in allen ihren Teilen eine Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 273 nicht mehr nur zu erratende sondern zu erkennende Nachbildung einer wirklichen oder als wirklich gedachten plastischen Erscheinung vorstellen. Ein ähnlicher Prozeß hat sich aber in der ganzen Malerei vollzogen. Die wichtigsten Errungenschaften der antiken Malerei gingen nie verloren, doch erhalten sie sich im Mittelalter nur als ein System von konventionellen Darstellungsformen und werden wie jene Augusteischen Dekorationen umgedeutet und dem primitiveren Anschauungsvermögen nach und nach angepaßt, etwa wie die Heroen der Aeneis zu mittelalterlichen Helden umgewandelt wurden. Man hat nie vergessen, daß die Kunst der Malerei die räumliche und plastische Erscheinung der Dinge darzu- stellen vermag; doch dieses Bewußtsein beruhte nur zum Teil auf tatsächlicher Vorstellung und künst- lerischer Bewältigung der räumlichen und plastischen Werte und so begnügte man sich damit, von der räumlichen und plastischen Erscheinung der Objekte nur so viel anzudeuten, als man eben vermochte. Man wußte, daß eine plastische Gewandfalte oder die Rundung der Wangen auf diese oder jene Weise dargestellt werden kann, und begnügte sich damit, sie auf diese Weise so lange darzustellen, bis jemand eine bessere, zumeist eine eingehendere Weise erfunden hatte. So wurde, wie in der Skulptur, auch in der gotischen Malerei in zahllosen Glasgemälden und Handschriftenillustrationen langsam Beobach- tung an Beobachtung, Regel an Regel geknüpft, von welchen jede einzelne nicht eine einmalige und vereinzelte Entdeckung eines bestimmten Künstlers gewesen ist sondern dauernd die Welt des Darstell- baren bereicherte. Bevor die bildende Kunst plastische Objekte in ihrer individuellen Erscheinung in- dividuell treu wiederzugeben vermag, muß das Problem gelöst werden, wie überhaupt plastische Er- scheinungen bildnerisch neu geschaffen werden können, damit sie in dem Beschauer eine ähnliche Vorstellung erwecken wie die Wirklichkeit selbst, und für die Ausgestaltung dieses Problems hat die gotische Malerei ebenso wie die Skulptur unendlich viel geleistet und dadurch ebenso wie die letztere die ganze folgende Entwicklung ermöglicht. Am besten sieht man es vielleicht, wenn man z. B. in Chartres Glasmalereien aus der Zeit des heil. Ludwig mit solchen vergleicht, die hundert Jahre später entstanden sind. Es ist vielfach die Anschauung verbreitet, als ob der Stil der gotischen Glasmalerei aus dem Bestreben entstanden wäre, die Darstellung in möglichst einfache Flächen und Linien aufzu- lösen, wie es der in der Glasmalerei angewendeten Technik entsprochen hatte. Eine Betrachtung der gotischen Glasmalerei lehrt uns jedoch das gerade Gegenteil: die Darstellung wird immer reicher an Modellierung und Linien, so daß wir im XIV. Jahrhundert bereits Szenen und Gestalten finden, die mit allen Darstellungsmitteln der Wand- oder Tafelmalerei in ihrer plastischen Erscheinung nicht ausführ- licher geschildert werden konnten. Es ist dies nur ein Beweis, daß diese große Vermehrung der male- rischen Darstellungsmittel der eigentliche Fortschritt der ganzen gotischen Malerei gewesen ist, so daß er sich selbst in einer Technik geltend macht, die seiner Aufnahme oder Forderung so ungünstig ge- wesen ist wie die Glasmalerei. Vergleicht man die Miniaturen Beauneveus oder andere französische Gemälde aus derselben Zeit mit frühgotischen Malereien, so besteht zwischen diesen und jenen vor allem ein zweifacher Unterschied. Während bei französischen malerischen Werken aus dem XII. oder XIII. Jahrhundert die Darstellung der räumlichen und plastischen Werte nur aus einzelnen zusammenhanglosen Andeutungen besteht, mit welchen die Umrißzeichnung einer einzelnen Gestalt oder die Komposition einer ganzen Szene aus- gestattet wird, schließen sich diese Andeutungen im XIV. Jahrhundert zu einem fortlaufenden ununter- brochenen Berichte. Das könnte an die alte Auffassung von dem zeichnerischen Charakter der mittel- alterlichen Kunst erinnern, hat jedoch mit ihr nichts zu tun; denn es gilt auch für Malereien, die voll- kommen mit Farben bedeckt sind. Wenn wir die Malereien des XII. oder XIII. Jahrhunderts genauer betrachten, so werden wir bemerken, daß die Farbe nicht überall für die Modellierung und Formen- gebung eine Bedeutung hat sondern nur eine kolorierte und ornamentierte Fläche bildet und daß auch die auf ihr angedeuteten plastischen Formen, z. B. Falten, mehr einem ornamentalen Geschnörkel gleichen, als daß sie einer bestimmten Formenvorstellung entsprechen würden, wie wir es in ähnlicher Weise auch bei frühgotischen Skulpturen hervorgehoben haben. Sieht man von diesen Lückenbüßern ab, die nur als eine Frucht der allgemeinen traditionellen Forderung nach plastischer Gestaltung entstanden XXIV. 38 Max Dvofäk. sind, ohne daß ihnen eine tatsächliche Anschauung zugrunde liegen würde, so bleibt bei allen Werken der frühgotischen Malerei eine ebenso eingeschränkte und gebundene Anzahl von formalen und plas- tischen Vorstellungen und entsprechenden Darstellungsmotiven übrig wie in der gleichzeitigen Skulptur, Wie man sich in der gleichzeitigen Literatur stets, wenn man die Fehler oder Vorzüge eines Helden, sei er eine dichterische Erfindung, eine historische Persönlichkeit oder selbst ein Zeitgenosse, schildern will, derselben bis zu den Worten formelhaften Charakteristik bedient, ohne daß es jemandem einge- fallen oder möglich gewesen wäre, mit eigenen Worten und nach einer subjektiven Beobachtung die seelischen Eigenschaften eines Menschen zu schildern, so vermochten auch die gleichzeitigen Maler nur in ganz bestimmten schablonenhaften Andeutungen die Formen und Körperlichkeit der Objekte oder ihre räumlichen Relationen darzustellen, wobei diese Einschränkung sich nicht nur auf die ein- zelnen Motive sondern selbstverständlich noch weit mehr auf ihre natürliche und kontinuierliche Ver- knüpfung bezieht. Weil man nicht imstande gewesen ist, mehr malerisch darüber zu berichten, und nicht aus einer künstlerischen Einschränkung, malte man die Augen immer gleich oder einige wenige Faltenzüge, wo die ganze plastische Erscheinung einer reichgewandeten Figur dargestellt werden sollte. Doch wie rasch änderte sich das und wie ungeheuer groß war der Fortschritt, der sich in dieser Be- ziehung bis zur Mitte des XIV. Jahrhunderts vollzogen hat. Bei den Gestalten Beauneveus und seiner Zeitgenossen kann von einer intermittierenden Darstellung der plastischen Erscheinung der Objekte keine Rede mehr sein sondern die Darstellung einer jeden Sache erscheint als eine ununterbrochene Wiedergabe aller ihrer plastischen Eigentümlichkeiten. Die Darstellung der Gestalten besteht nicht mehr aus Andeutungen, die eine Zusammenfassung durch den Beschauer voraussetzen, sondern kann über die allgemeine körperliche Erscheinung der darge- stellten Objekte in ausreichender und präziser Weise auch jenen belehren, der ihr Vor- bild nicht kennen würde. Wenn jemand die Menschen, die im Psalter des heil. Ludwig gemalt sind, mit einem Zauberstab beleben würde, so wären es monströse Schattenbilder mit durchsichtigen Körperteilen; täte er dasselbe mit den Gestalten im Psalter des Herzogs von Berry, würde er uns wirkliche und normale Menschen vorzaubern. Auch die letzteren sind noch nicht Bildnisse in unserem Sinne des Wortes, das heißt, treue Wiederholungen eines einzelnen Modelles; aber das System der mittelalterlichen Darstellungsmittel der bildenden Künste ist im Verlaufe des Xlll. und XIV. Jahrhunderts so entwickelt und durch einen immer sich erneuernden Niederschlag von formalen Erinnerungen und Beobachtungen ausgestaltet worden, daß am Schlüsse dieser Periode das Problem der plastischen und malerischen Darstellung der menschlichen Gestalt und aller anderen Einzelnobjekte fast bis zur wissenschaftlich oder mechanisch treuen Wiedergabe der wirklichen Erscheinung gelöst worden zu sein scheint. Die Figuren Beauneveus und seiner Zeitgenossen in Frankreich sind auch noch Schemen, deren Genealogie wir historisch fest- stellen können; sie entsprechen jedoch allen Anforderungen, die wir als die allgemeine Voraussetzung einer malerischen oder plastischen Naturnachahmung betrachten. Doch der Naturalismus in der bilden- den Kunst ist nicht etwas Absolutes sondern das Ergebnis einer geschichtlichen Entstehung. Und sind nicht jene Anforderungen gerade durch die geschilderte Entvvicklung der gotischen Kunst bestimmt worden? So bedeutet die Zeit Karls V. in der Skulptur und in der Malerei eher den Abschluß einer Evo- lutionsreihe in der Geschichte der bildenden Kunst als den Beginn einer neuen. Die Ausgestaltung der Darstellungsprobleme der gotischen Malerei und Plastik erreichte einen Höhepunkt, den auf den alten Wegen zu übertreffen kaum möglich schien. Da ereignete sich jedoch etwas, was sich seitdem einigemal wiederholte. Wie platonische Ideen, unerschöpflich und immer wieder neu, begleiten die antiken Kunstwerke im weitesten Sinne des Wortes die ganze Geschichte der christlichen Kunst, einer zweiten Welt ver- gleichbar, welcher die moderne Kunst nicht viel weniger entlehnte als der sie umgebenden. Bei dem analogen Verlaufe der alten und modernen Kunstentwicklung mußte es sich ereignen, daß man für neue Bestrebungen einen fertigen und adäquaten Ausdruck in der Antike fand und dann die reale Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. Welt durch jene zweite, tote und doch durch die Kraft der in ihr verborgenen künstlerischen Arbeit immer wieder visionenhaft auferstehende Welt ersetzte, oder daß man in diesem «Jenseits aller Zeit» so lebendige Quellen einer dem eigenen Suchen entsprechenden Wahrheit fand, daß man auf die Rea- lisierung der Kunstwerke durch eine treue Wiedergabe der Gegenwart verzichten zu können glaubte. Man sollte die Perioden, in welchen die Kunst solche Bahnen eingeschlagen hat, als die eigentlichen Renaissanceperioden bezeichnen. Die wichtigste Aufgabe, welche die gotische Malerei zu lösen hatte, war die Uberwindung der andeutenden künstlerischen Formelhaftigkeit der mittelalterlichen Kunst und die Schöpfung einer neuen künstlerischen Wahrhaftigkeit in der Darstellung der Objekte. Zum guten Teil war der Weg zu diesem Ziele wohl bereits durch jene Formeln bestimmt, die sich als ein Rest der antiken Kunst- übung im Mittelalter erhalten haben, und so mußte notwendigerweise eine Zeit kommen, in der man für den künstlerischen Inhalt der noch erhaltenen antiken Kunstdenkmäler ein neues Verständnis gewann. Das hat sich zuerst in Italien vollzogen. Vergleicht man italienische Trecentobilder mit älteren gotischen Malereien, so könnte man beinahe glauben, daß sich der Entwicklung des neuen Naturalismus gegenüber eine Reaktion vollzogen hätte. Während nämlich in der gotischen Malerei des XII. und XIII. Jahrhunderts die Lebenswahrheit der Bilder nicht nur nach der formalen Seite sondern gleichzeitig äußerlich durch Aufnahme realistischer Züge, z. B. im Kostüm, in einem genrehaften Beiwerk oder durch Einfügung ganzer, dem Leben ent- nommener Figuren und Szenen ununterbrochen gesteigert wird, scheint es, als ob zuerst die Sienesen am Schlüsse des Ducento und dann die ganze italienische Malerei plötzlich alle Darstellungen ihrer Zeit und Umgebung aufgegeben hätten, um sie durch ideale Schöpfungen zu ersetzen, an die dann ein ganzes Jahrhundert alle künstlerische Inkarnation gebunden war. Man wäre versucht, die giotteske Malerei als eine anachronistische Episode der vorangehenden und folgenden Entwicklung der christ- lichen Kunst gegenüber zu betrachten, was jedoch sicher nicht der Fall gewesen ist. Neben dem Streben nach der Realität des Kostümes, Beiwerkes usw. gab es eben, wie wir oben ausführten, in der gotischen Kunst in weit größerem Maße noch ein Ringen um die innere künstlerische Realität der Darstellungen und für diese eröffneten die noch erhaltenen Reste der römischen Malerei oder ihre byzantinischen Nachahmungen einen ungeahnten Horizont, ähnlich wie die Schriften Augustins den gleichzeitigen Literaten. Die Gestalten Simone Martinis oder Giottos sind trotz aller anscheinenden Idealisierung in der Darstellung der materiellen Erscheinung den älteren gotischen Illustrationen gegenüber ebenso real als z. B. die Werke Tintorettos dem imitativen Naturalismus Pollaiolos gegen- über. Man hat sich vielleicht deshalb so wenig mit der Malerei des Trecento beschäftigt, weil man nur die Einförmigkeit der Fabeln, der Szenerien, der Figuren sah und, wie es auch in der Erkenntnis der antiken Kunstentwicklung so lange der Fall war, die Fortschritte der inneren künstlerischen Wahrheit nicht beachtete, welche das eigentliche Ziel der Kunst in jener Zeit gewesen sind. Von diesem aus be- trachtet, erscheint die Kunst des Trecento weder homogen noch stillstehend. Während man also im Norden selbständig den Weg zu einer neuen Anschauung und Darstellung der Natur verfolgte, hat man in Italien schon um die Wende des XIII. und XIV. Jahrhunderts der an- tiken Tradition das entnommen, was als eine Lösung der Probleme erschien, die damals die bildende Kunst beschäftigten. Nicht nur ihrem gedanklichen Inhalte nach sondern auch in ihrer körperlichen Erscheinung mußten die Gestalten Duccios oder Cavallinis den Zeitgenossen als der «wahre Spiegel des Lebens» erscheinen. Mit dieser Rezeption, die in Italien viel leichter gewesen ist als im Norden, weil die antiken Errungenschaften in der Bewältigung der formalen Darstellungsprobleme sich auf der Apenninhalbinsel stets lebendiger erhalten hatten als nördlich der Alpen und durch erhaltene Kunst- werke des Altertums stets auf die Vorstellungsfähigkeit eingewirkt haben, gewann die italienische Malerei der französischen gegenüber einen Vorsprung, der schließlich auch jenseits der Alpen nicht ohne Einwirkung bleiben konnte. Als man nun um die Mitte des Jahrhunderts in den transalpinischen Kunstzentren wenigstens in bezug auf die objektive und konsequente Wiedergabe der körperlichen 38* 276 Max Dvofäk. Erscheinung sich zu einer ähnlichen Entwicklungsphase durchgerungen hatte, wie sie in dem ver- körpert gewesen ist, was die Italiener den antiken und byzantinischen Vorbildern entnommen haben, mui3ten auch im Norden den Künstlern die Augen für den künstlerischen Inhalt der antiken Tradition oder ihrer italienischen Neubelebung um so mehr geöffnet werden, als in ihr auch Errungenschaften enthalten waren, die einen weiteren Schritt in der Lösung des naturalistischen Problems bedeuteten. Die Gestalten Beauneveus und seiner Zeitgenossen stehen in bezug auf naturtreue Zeichnung und malerische Wiedergabe der plastischen Erscheinung eines einzelnen Objektes den byzantinisch-giot- tesken Residuen der antiken Kunst nicht nach, wohl aber in der naturalistischen Gestaltung des ganzen Bildes. Die Figuren stehen zumeist noch vor einem gemusterten Hintergrunde oder vor einer nur an- gedeuteten Landschaft, die Szenen sind einzig und allein nach inhaltlichen Erfordernissen geordnet, ohne irgendwelche künstlerische Beziehung zu der Darstellung des Raumes und das Kolorit ist noch immer so abstrakt, wie es in der frühgotischen Kunst gewesen ist, nämlich nur in Grenzen einer kon- ventionell beschränkten Farbenauswahl der Natur entsprechend. In dieser dreifachen Beziehung waren die Werke der Italiener dem Können der gotischen Maler nördlich der Alpen ungemein über- legen und so konnte es gar nicht anders kommen, als daß diese höheren Normen der Darstellungs- probleme auch im Norden übernommen wurden, als man sie zu verstehen begonnen hatte. Der Verlauf dieser ersten Klassizisierung der christlichen Malerei des Nordens bestätigt diese Erklä- rung. Zuerst entnahm man den italienischen Vorbildern solche Stileigentümlichkeiten, die den genannten Vorzügen entsprochen haben. An die Stelle der alten Hintergrundstapete schob man die typische giotteske Felsenlandschaft (Fig. Sy), ohne sie zunächst in eine engere Beziehung zu der dargestellten Szene zu bringen, oder man versetzte die Darstellung in einen der Innenräume, welcher sich die italienische Trecentomalerei bediente. Man könnte vielleicht die entwicklungsgeschichtliche Bedeutung der giot- tesken Malerei so zusammenfassen, daß sie das Wesentliche der Errungenschaften der antiken Malerei zu einem neuen Leben erweckte. Die zusammenhängende Darstellung einer Landschaft oder eines Innenraumes setzt eine besonders lange und intensive Entwicklung der Malerei voraus und man könnte sich leicht vorstellen, daß die Kunst zur Lösung dieses Problems nie gelangt wäre, welches wir wie ebenso kunstvolle literarische Formen der wunderbaren Begabung der Griechen verdanken. Jedenfalls ist diese Lösung nicht zweimal im Verlaufe der Geschichte gefunden worden sondern erhielt sich das ganze Mittelalter hindurch in der byzantinischen Kunst, wohl als ein magerer, auf einigen Regeln be- ruhender Auszug aus der antiken Blütezeit, doch aber in den wichtigsten Aufgaben, und wurde in dieser Form von den italienischen Meistern des XIII. und XIV. Jahrhunderts auch in die Malerei des Westens neu eingeführt. Wie bei den Figuren, so war es auch bei dem räumlichen Zusammenschluß des Bildes die Bedeutung für die Darstellungsprobleme, welche eine Renaissance der antiken und byzantinischen landschaftlichen Schemen hervorgerufen hat. Man hat in der antiken Uberlieferung nicht nur die Anregung gefunden, sich mit den Aufgaben der Raumdarstellung wieder intensiver zu beschäftigen, sondern zugleich ein fertiges Kapital von Regeln, wie ein Raum malerisch dargestellt werden kann, wie es bereits schön und treffend von Kallab hervorgehoben wurde: «Die Formen- sprache der Schule Giottos entfernte sich immer mehr von der Natur, die Perspektive der Landschaft wurde der überlieferten Architekturmalerei nachgebildet und ihr Raum verdankt seine Entstehung nicht den dargestellten Objekten sondern der Raumwirkung gewisser Liniensysteme.» Man könnte diese Periode die Scholastik der Kunst nennen. Wie der Mensch erst denken lernen mußte, bevor er zu einer Ergründung der um ihn und in ihm liegenden Kräfte und Werte schreiten konnte, so mußte auch die bildende Kunst das Geheimnis neu sich aneignen, wie überhaupt ein Naturausschnitt auf die Fläche übertragen werden kann, damit die Darstellung nicht auf das Erraten, auf die subjektive Er- innerung und Ergänzung des Beschauers bauen muß sondern ihn selbst in objektiver und lückenloser Weise über räumliche Zusammenhänge und Maße belehren kann. Deshalb ist aber die Ausbildung der giottesken Systeme von Regeln für die Raumdarstellung ebenso ein Fortschritt in der Entwicklung der naturalistischen Probleme als die Einführung der antik-byzantinischen figuralen Typen und an diesem Fortschritt hat dann auch die gotische Malerei in Frankreich teilgenommen, indem sie sich italienischen Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 277 Vorbildern angeschlossen hat. Nach der Entlehnung einzelner landschaftlichen und architektonischen Motive folgt bald eine Übernahme des ganzen giottesken Systems der räumlichen Darstellung, so daß wir beiläufig um das Jahr i38o überall in der französischen Malerei Darstellungen von Landschaften und Innenräumen finden können, die entweder ganz und gar aus Italien stammen oder doch nach ähnlichen Regeln und Erfahrungssätzen erfunden wurden wie ihre italienischen Vorbilder. Ahnlich verhält es sich auch mit der Erfindung der Kompositio- nen. Bei dem großen Interesse, welches die giottesken Komposi- tionen durch ihren dramatischen Inhalt und poetischen Reiz in uns zu erwecken vermögen, vergessen wir gar zu leicht, welch eine un- geheure Bedeutung sie für die Ge- schichte der formalen Probleme der Malerei und Plastik besitzen. Die einzige Regel, welche einen Maler der älteren gotischen Periode bei der Erfindung einer Komposition geleitet hat, war die Bemühung, die Erzählung möglichst deutlich und erschöpfend wiederzugeben. Daß aus dem Verhältnis der dar- gestellten Szene zu dem sie um- gebenden Räume auch irgend- welche Anforderungen an die Ge- staltung der Komposition entstehen können, blieb ihm unbewußt und, wo es ihm bewußt wurde, mangel- ten ihm zumeist die Mittel, dieser Anforderung zu entsprechen. Es ist auch ein antikes Erbe, welches zunächst in der italienischen Male- rei in dieser Beziehung eine Ände- rung hervorgerufen hat. So einfach und rudimentär uns die Kompo- sitionen Duccios oder Simone Mar- tinis auch erscheinen mögen, sie setzen doch die ganze antike Ent- wicklung der Bilder- und Relief- komposition voraus, das heißt, alles das, was sich zwischen der Alexanderschlacht von Neapel und den Reliefs des Titusbogens vollzogen hat. Wie die byzantinisch-giottesken Landschaften und Innenräume als ein kurzer Bericht über den langen Weg erscheinen, welchen die antike Malerei zurückgelegt hat, so wird auch bei den giottesken figuralen Kompositionen der aufmerksame Beobachter Prinzipien entdecken, die als ein für beschei- dene Kräfte hergerichtetes Kompendium der spätantiken Art, Bilder und Reliefs zu komponieren, be- trachtet werden könnten. An spätantike Reliefs erinnert die giotteske Art und Weise, einen aus dem Fig. 41. Werkstatt des Jaquemart de Hesdin, Kreuztragung Christi. Miniatur aus dem Gebetbuche des Herzogs von Berry, Ms. 11.060 der königl. Bibliothek in Brüssel. 278 Max Dvorak. Stadttore sich bewegenden Zug, die sich stauende Menge oder den Halbkreis der Beschauer bei einer Begebenheit darzustellen, die Figuren in verschiedene Pläne zu ordnen, und die Ökonomie der Ver- teilung der Gestalten in dem Bilderausschnitte. Römische oder byzantinische Reliefs waren wohl nicht das Vorbild dieser Eigentümlichkeiten; doch ihre kompositionellen Vorzüge erhielten sich als eine all- gemeine Errungenschaft der antiken Kunst auch in der altchristlichen und byzantinischen Malerei, durch welche sie zu den Trecentokünstlern gelangten. Es könnte scheinen, daß es sich um selbstver- ständliche Sachen handelt, die nicht erst wieder neu entdeckt werden mußten. Doch daß dies nicht der Fall ist, lehrt uns ein Vergleich mit einem beliebigen frühgotischen Gemälde oder Relief; selbst die Reliefs Giovanni Pisanos könnte man hier noch nennen. Vielleicht ist gerade im Gegenteil die Verteilung und Unterbringung von den Figuren, die eine Komposition bilden sollen, in einem bestimmten Bildausschnitte das schwierigste und komplizierteste Problem einer naturalistischen malerischen Darstellung, welches nicht einfach durch Naturnachahmung zu lösen ist sondern eine lange Erfahrung und Entwicklung erfordert. Wie in der Raumdarstellung überhaupt, so wurde auch in der Darstellung der Beziehungen zwischen den Gestalten einer Kom- position und dem sie umgebenden Räume ein System von Regeln und Beobachtungen zuerst aus der antiken Uberlieferung entnommen und dann selbständig weiter gebildet. Man mußte auch in dieser Beziehung sich erst die neue malerische Darstellungsnorm erringen. Doch diese zweifache Auferstehung der malerischen Darstellungsformen der antiken Kunst hatte naturgemäß auch auf die anderweitige Ausgestaltung der malerischen Schöpfungen einen großen Ein- fluß. Man könnte sie mit anderen Worten auch als die Umwertung der Bilder zu Darstellungen eines zusammenhängenden, einheitlichen Naturausschnittes bezeichnen und aus dieser Umwertung entstand der älteren gotischen Malerei gegenüber eine Reihe von stilistischen Neuerungen. Die wichtigsten darunter waren die Ausdehnung der ununterbrochenen und einheitlichen Durchmodellierung der Dar- stellung auf den ganzen Raumausschnitt und eine große Steigerung der Natürlichkeit des Kolorits. Während die älteren Meister nur in der Darstellung der Einzelngestalt, durch die Entwicklung der Skulptur immer wieder dazugeführt, bis zur einheitlichen und natürlichen Darstellung der plastischen Erscheinung gelangten und bei dem Ambiente der Figuren sich noch um die Mitte des Jahrhunderts auf die notwendigen Andeutungen beschränkten, lernten die giottesken Meister den ganzen im Bilde dargestellten Raum als einen ununterbrochenen Zusammenhang von plastischen Werten zu betrachten und darzustellen. Nach demselben neuen Prinzipe wurde auch das Kolorit geändert. In der älteren gotischen Ma- lerei wählten die Künstler ein der Wirklichkeit oder Möglichkeit entsprechendes Kolorit nur da, wo es zur Charakterisierung der Gegenstände notwendig war, wogegen die neue italienische Malerei in gleicher Weise wie die spätantike für den ganzen Bilderausschnitt in allen seinen Teilen, ob inhaltlich wichtigen oder unwichtigen, eine natürliche Farbe beanspruchte. Es ist selbstverständlich, daß beides, sowohl die Durchmodellierung des Bildausschnittes als das neue Kolorit, ebensowenig in jedem ein- zelnen Falle auf eine neue Naturbeobachtung zurückging wie die Formenwiedergabe sondern wie die letztere und wie die Raumdarstellung, Perspektive und Komposition als ein traditionelles System von allgemeinen Regeln und Erfahrungen in der Kunst neu eingeführt und weiter entwickelt wurde. Diese durch die giotteske Malerei neu durchgeführte Zusammenschließung des Bildes zu einem einheitlichen Naturausschnitte, der als solcher mit allen seinen Eigenschaften auch dargestellt und vom Beschauer er- kannt werden sollte, muß aber als einer der größten malerischen Fortschritte in der Annäherung der malerischen Darstellung an die natürliche Erscheinung bezeichnet werden. Wie zweihundert Jahre später die flandrischen Manieristen die Errungenschaften der Hochrenais- sance einfach in ihre Bilder eingeschaltet haben (und so den Weg für einen Rubens vorbereiteten), so haben die französischen Künstler unter Karl V. einfach die Elemente der neuen italienischen Malerei in ihre Kunst eingefügt. In der zweiten Periode erscheinen diese Elemente bereits zu einem einheit- lichen Stile verbunden, der, was die entwicklungsgeschichtliche Stufe anbelangt, in einer Parallele zu den gleichzeitigen italienischen Malerschulen steht, als deren Abzweigung im Norden er erscheinen könnte. Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. im m Der erste naturalistische Stil. Eine Überwindung dieser Sciiulen und des Italianismus be- deutet aber der dritte und letzte Stil der spätgotischen Malerei in Frankreich. Um uns seine Grund- lagen und Eigentümlichkeiten klar zu machen, wenden wir uns zu einem Kunstwerke, welches sich zu einer solchen Analyse besonders eignet. Es ist dies das berühmte Gebetbuch des Herzogs von Berry in Chantilly. Nach einer Nachricht in dem Nachlaßinventare des Herzogs waren diese tr^s riches heures ein Werk Pols von Limburg und seiner zwei Brüder Herman und Jannequin und waren noch unvollendet, als der Herzog im Jahre 1416 starb. Die fehlenden Teile wurden erst eine Generation später ergänzt, so daß kein Zweifel sein kann, welche Bilder der Hand- schrift wir den Brüdern von Lim- burg zuschreiben und vor das Jahr 1416 datieren müssen. Was jedem zunächst auf- fallen dürfte, der die Handschrift durchblättert, ist der auffallend italienische Charakter einzelner Bilder. Man betrachte z. B. nur die Kreuztragung Christi (Fig. 42) : Fast könnte es uns scheinen, als ob der italienische Einfluß da noch viel stärker wäre als bei Werken der vorangehenden Stilperiode. Es kann auch kein Zweifel sein, daß der Maler dieser Miniaturen noch unmittelbare Anregungen durch italienische Vorbilder empfangen hat. So hat man bereits mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß eines der Bilder, die Darstellung des Tempelganges Marias, in der Kom- position vollkommen mit einem Fresko Taddeo Gaddis in Sta. Croce in Florenz übereinstimmt. Darin macht sich also noch der- selbe Prozeß bemerkbar, welchen wir in der vorangehenden französi- schen Malerei beobachten konnten. Es ist jedoch nicht schwer zu erkennen, daß dabei die Vorbilder nicht dieselben gewesen sind wie die, welche in der vorangehenden Zeit in Frankreich eingewirkt haben, nicht Bilder Giottos oder seiner sienesischeii Zeitgenossen sondern italienische Werke aus der zweiten Hälfte des XIV. Jahr- hunderts. Auch in Italien blieb die Entwicklung der Malerei im Trecento nicht stehen, wie wir bereits ein- mal betonten. Besonders in der Durchbildung des traditionellen Systems und aller Probleme, die mit der Raumdarstellung zusammenhängen, und in der reicheren Ausgestaltung der Kompositionen sind die Schüler Giottos und noch mehr die späteren sienesischen Meister weit über ihre Lehrer hinaus- gekommen. Diese letzten Errungenschaften der giottesken Malerei in Italien übernahm man also auch im Norden, doch nicht als eine schülerhafte Nachahmung mehr sondern mit dem vollen Bewußtsein 2 ' Fig. 42. Werkstatt der Brüder von Limburg, Kreuztragung Christi. Miniatur aus dem Gebetbuche des Herzogs von Berry in Cliantilly. 28o Max Dvofäk. Fig. 43. Werkstatt der Brüder von Limburg, Die heil, drei Könige. Miniatur aus dem Gebetbuche des Herzogs von Berry in Chantilly. der eigenen künstlerischen Überlegenheit. Betrachtet man die italianisierenden Kompositionen des Gebetbuches von Ghantilly genauer, so bemerkt man, daß sie gar nicht mehr mit ihren italienischen Vorbildern in eine Reihe gestellt werden können sondern sie in der Ausgestaltung der Darstellungs- probleme und Darstellungsmittel weit überholten. Es ist eine andere Auffassung der Naturtreue, Taf. XXm. Anbetung der heil, drei Könige. Miniatur aus dem Gebetbuche des Herzogs von Berry in Cliantillv. Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 281 welche die Miniaturen der Brüder von Limburg von iiiren italienischen Vorbildern unterscheidet. Wenn wir auch unter ihren Bildern noch denselben Golgathazug finden, der so oft von den giottesken Meistern gemalt wurde, so ist trotz der vielfachen Ubereinstimmung der Typen doch jede Einzelnheit, wenn auch nicht immer dem Gelingen, so doch der Absicht nach von der trecentesken Erfindung wesent- lich verschieden. Man könnte diese Verschiedenheit als eine erhöhte Sachlichkeit bezeichnen. An Stelle der phantastisch und nur nach bestimmten perspektivischen Absichten zusammengestellten Architekturen der Trecentomalerei versuchte der Maler eine Straße zu malen, wie er sie in Poitiers oder Bourges ge- sehen haben mag, wobei er bestrebt war, Haus für Haus zu charakterisieren. Bei anderen Miniaturen des Gebetbuches tritt dieses Bestreben noch mehr zutage. Da sehen wir die verschiedensten gotischen Häuser mit reich mit Maßwerk verzierten Fenstern, mit vielen Zinnen und mit Skulpturen ge- schmückt und hinter der Häuserreihe erhebt sich der spitze Turm des Domes. In ähnlicher Weise ver- änderte sich auch die landschaftliche Vedute. Man betrachte z. B. den Zug der heil, drei Könige (Fig. 43). Wie die Teilnehmer an der Kavalkade wohl noch an giotteske Gestalten erinnern, doch ohne ihnen ganz zu gleichen — es sind richtige Orientalen daraus geworden, die uns der Maler vorführt und an welchen er jede stoffliche Einzelnheit mit Sorgfalt schildert, — so schließt sich auch die Landschaft zwar im allgemeinen noch den trecentesken Vorbildern an, doch nicht ohne sie naturalistisch umzugestalten. Diese Umgestaltung bezieht sich sowohl auf die Raumdarstellung als auch auf einzelne landschaftliche Motive. Die Landschaft ist nicht mehr einfach ein Hintergrund wie bei den meisten Bildern des Tre- cento. Dadurch, daß die drei Reitergruppen in verschiedener Entfernung vom Beschauer durch Hügelkulissen getrennt zwischen Bergen hervorkommen, ähnlich wie die heil. Einsiedler des Genter Altares, wird die Fiktion eines sich vertiefenden Raumes hervorgerufen und die Stadt, die wir im Hintergrunde sehen, steht nicht mehr auf dem Hügelrücken, wie es bei den Werken der Trecento- malerei stets der Fall gewesen ist, sondern taucht hinter der Bergkette aus dem Nebel empor, wie wir es oft an Landschaften Jans beobachten können. Als eine öde, nur mit wenigen Gräsern bewachsene Wüste schildert der Maler die Landschaft und Jerusalem im Hintergrunde erscheint als eine Stadt mit köst- lichen gotischen Bauten, unter welchen die St. Chapelle des Herzogs von Berry in Bourges unterschieden werden kann. Noch deutlicher kann man diese naturalistische Umgestaltung' der trecentesken Kom- positionen und Typen in der Anbetung der heil, drei Könige auf S. 52 V. (Taf. XXIIl) beobachten. Man betrachte z. B. die Madonna und den heil. Josef: In beiden klingt noch leise der giotteske Typus nach; doch wie lebenswahr und natürlich erscheinen beide Gestalten allen Schöpfungen des XIV. Jahr- hunderts gegenüber. Beide Figuren könnten auch auf einem Bilde gemalt sein, welches nach dem Genter Altare und nach dem Siege des neuen Stiles entstanden ist, ohne daß man leicht entdecken würde, daß sie der älteren Kunst entnommen wurden. Ebenso dürfte bei der Landschaft nur einem Historiker die Abhängigkeit von spätmittelalterlichen Schablonen auffallen. Es ist wohl das gewöhn- liche schiefe Gelände der giottesken Landschaft mit der althergebrachten bukolischen Szene und mit der den Horizont abschließenden Stadtvedute, doch alles in einer so natürlichen Gestaltung, als wäre es nicht dem Formenvorrate einer alten Kunst entnommen sondern unmittelbar nach der Natur beob- achtet worden. An die Stelle der traditionellen Würfelfelsen ist eine weit sich erstreckende Wiese ge- treten. Die Hirtenszene, die bisher immer unmittelbar mit dem Hauptvorgange verbunden wurde, ist in den Mittelplan des Bildes verschoben worden, ein später tausendmal wiederholtes und in unserer Miniatur bereits richtig angewendetes Mittel, den Blick des Beschauers in die Tiefe zu leiten, und die Architekturen am Horizonte bilden ein richtiges, mit voller Naturtreue und in richtigen Maßverhält- nissen durchgeführtes Städtebild, wie es selbst Jan van Eyck nicht wesentlich anders gemalt hätte. Vielleicht noch merkwürdiger als diese treue Aufnahme einer heimatlichen Stadt, eine Darstellung, der in der ganzen vorangehenden und gleichzeitigen italienischen Malerei nichts an die Seite gestellt wer- den kann, ist die treue Wiedergabe der Veränderungen des Kolorits unter dem Einflüsse der Luft- perspektive, die wir an dieser Miniatur und sonst an den Bildern des Gebetbuches beobachten können. Gleichmäßig mit der Entfernung verändert sich die Farbe des Bodens und der Gegenstände; die Archi- tekturen im Hintergrunde heben sich nur ganz wenig mehr vom Horizonte ab und scheinen in der XXIV. 39 282 Max Dvofak. Ferne zu verschwinden. Die Sonne scheint gerade untergegangen zu sein und Abendstimmung liegt über der Szene. In den Präludien, die den Abhandlungen über die Kunst Huberts und Jans vorangeschickt wurden, nannte man oft das Gebetbuch von Chantilly als ein Werk von «Vorläufern» Jans oder, si parva licet Fig. 44. Werkstatt der Brüder von Limburg, Gastmahl des Herzogs von Berry. Miniatur aus dem Gebetbuche des Herzogs von Berry in Chantilly. componere magnis, als eine Frucht derselben neuen Ideale, die den Stil der Schöpfer des Genter Altares bestimmt haben. Besonders Eugene Müntz hat auf die Berührungen in den künstlerischen Zielen hingewiesen, die zwischen den Miniaturen der Brüder von Limburg und den Gemälden der Brüder van Eyck bestehen, ohne daß er gewagt hätte, aus dieser Beobachtung irgendwelche Schlüsse zu ziehen. Nachdem er diese Verwandtschaft hervorgehoben hat, schließt er seine Betrachtung mit den Worten: «Eh bien! Malgre toutes les apparences je ne puis pas me faire ä l'idee que, des 1416 au plus tard, un simple miniaturiste ait peint avec une teile liberte et une teile sürete. L'homme de genie, Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 283 ä ce compte, ce serait l'obscar Pol de Limbourg, non plus l'illustre Hubert van Eyck.» Ein Schritt- steller, dessen Blick sonst bei den Archivschätzen haften blieb, wagte also nicht einer unanfecht- baren dokumentarischen Nachricht Glauben zu schenken, um nicht den alten Glauben an einen Gegen- satz zwischen der alten und neuen Kunst aufgeben zu müssen. Müntz ist da in zweifachem Irrtume: Erstens, wenn er glaubt, daß die Miniaturen des Gebet- buches von Chantilly stilistisch bereits so vorgeschritten seien wie die Werke Jans, so daß wir sie als eine Nachahmung der Werke des letzteren betrachten könnten. Zweitens, wenn er glaubt, falls das letztere nicht der Fall wäre, den obskuren Illuminator auf das Piedestal erheben zu müssen, auf welches bisher Jan van Eyck gestellt wurde. Trotz der starken naturalistischen Tendenz ist der trecenteske Ur- sprung des Stiles der Brüder von Limburg unverkennbar. Während wir an den Werken Jan van Eycks und seiner Nachfolger eine bis zu den letzten Einzelnheiten treue Wiedergabe der Natur beobachten konnten, besteht der Naturalismus der Brüder von Limburg noch immer in einem Kompromisse zwischen traditionellen Kunstformen und individuellen Naturbeobachtungen. Wie in gleichzeitigen Gedichten, wie z. B. im Meliador des Froissard, die alte Form der Ritter- romane durch einzelne subjektive Erwägungen und psycholo- gische Begründungen durchdrungen wird, so dringt auch in den Miniaturen des Gebetbuches von Chantilly durch die mittel- alterlichen und giottesk-byzantinischen Schemen eine neue An- schauung und ihr entsprechende Darstellung. Eugene Müntz ist jedoch grundlos vor dem Gedanken zurückgeschreckt, die Entdeckung dieser neuen Anschauung einem in der kunst- geschichtlichen Literatur wenig genannten Büchermaler zu- schreiben zu müssen. Er hätte bis in die Zeit des heil. Ludwig zurückgehen müssen, um bis zu den Anfängen der naturalisti- schen Prinzipien zu gelangen, auf welchen der Stil der Illumi- natoren des Gebetbuches beruht. Wie die Schrift, die Ein- teilung und Anordnung des Blattschmuckes, die Eigentümlich- keiten der Zeichnung und kornpositionellen Erfindung, sofern sie nicht unmittelbar durch giotteske Vorbilder beeinflußt wur- den, die technischen und koloristischen Gewohnheiten, die Ornamentik, kurz alle allgemeinen stilistischen Merkmale der Miniaturen von Chantilly auf die Entwicklung der ganzen vorangehenden französischen Büchermalerei zurückgeführt werden können, so beruht auch der Naturalismus dieser Male- reien sowohl seiner Tendenz und seinen Aufgaben als auch seinen Lösungen nach auf der ganzen Geschichte der französischen gotischen Kunst. Es ist dieselbe Tendenz, die in den Königsstatuen von St. Denis, in den Skulpturen von Amiens, in dem Porträte Johanns des Guten ein halbes Jahrhundert früher Werke von einer täuschenden Realität geschaffen hat, die schon in dem zweiten italienischen Stile das Ubergewicht bekam und die nun, nachdem die französische Malerei die Errungen- schaften der Italiener in sich aufgenommen hatte, mit neuer Kraft hervortritt, die entlehnten Schemen in hundertfache Beobachtungen umsetzend und einen maleri- schen Stil schaffend, der als der Höhepunkt der gotischen Malerei bezeichnet wer- den kann. Eine andere, und zwar eine ältere von den Brüdern von Limburg mit Bildern geschmückte Hand- schrift läßt uns die Quellen ihrer Kunst noch deutlicher erkennen. Es ist dies eine große Bilderbibel in der Pariser Nationalbibliothek, ^ deren Miniaturen eine solche Verwandtschaft mit den Bildern des Gebetbuches von Chantilly aufweisen, daß man sie unbedenklich ebenfalls für ein Werk der Brüder Fig. 45. Werkstatt der Brüder von Limburg. Miniatur aus der Bibel Ms. fr. 166 der Pariser Nationalbibliothek. ' Ms. fr. 166. 39* 284 Max Dvofäk. von Limburg erklären kann (Fig. 45). In dieser Bibel wiederholen die Brüder^ mit geringen Ver- änderungen einen älteren Bilderzyklus, der sich uns in einer etwa um das Jahr i36o entstandenen Pariser Handschrift erhalten hat.^ Wie nahe noch die Brüder von Limburg auch stilistisch ihrer Vor- lage gestanden sind, kann man daraus ersehen, daß sich einzelne Forscher verleiten ließen, die ältere Handschrift, die vollkommen mit den für Karl V. illuminierten Kodizes übereinstimmt, ebenfalls dem Atelier des Paul von Limburg zuzuweisen. In gleicher Weise aber wie der Stil der Miniaturen von Chan- tilly auf der Entwicklung der ganzen französischen Malerei beruht, ist er auch in seiner Zeit keine ver- einzelte Erscheinung. Alle französischen illuminierten Handschriften, die in dem ersten Viertel des XV. Jahrhunderts entstanden sind, weisen ihn oder doch seinen Einfluß auf. Wie in dem Gebetbuche von Chantilly selbst, kann man ihn auch in ver- schiedenen Handschriften, in verschiedenen Stadien der Entwicklung beobachten: noch stark italianisierend, wie z. B. in den älteren Miniaturen (Fig. 46) der Pariser Handschrift der jüdischen Geschichte des Josefus, deren Illumination von Fouquet beendet wurde,^ oder in einer Umbildung, bei der die naturali- stischen Züge bereits das italienische Gerippe ganz verdeckten, wie z. B. in den Miniaturen des Livre des Merveilles in der Pariser Natio- nalbibliothek, welche Handschrift im Jahre 1413 von Jean Sans Peur dem Herzoge von Berry geschenkt wurde.* Man kann bei einer Durchsicht des Materials auch verschiedene Schulen und Atelierrichtungen beobachten, welchen weitere Untersuchungen nachzugehen haben werden; doch allen ist ein bestimmter Stil gemeinsam, der nicht mehr trecentesk und noch nicht modern ist, den vom Mittelalter der Reichtum an naturalistischen Beobachtungen, von der Neuzeit aber die schablonenmäßige und typische Erfindung einzelner Figuren und ganzer Kompositionen unterscheidet. Es ist selbstverständlich, daß dieser Stil nicht nur auf die Miniaturmalerei beschränkt geblieben ist. An Tafelbildern hat sich, wie aus der vorangehenden Zeit, so auch aus dieser Periode nicht viel erhalten; doch besitzen wir Beispiele, die uns dieselbe Stilphase der französischen Malerei auch da nachweisen lassen. Besonders deutlich ist der Zusammen- hang mit dem Stile der Brüder von Limburg bei vier Tafeln mit Darstellungen aus der Georgs- legende, die sich im Besitze des Herrn Belin in Paris befinden und die man unbegreiflicherweise in die Dreißigerjahre des XV. Jahrhunderts versetzte, was schon durch die Kostüme ausgeschlossen wird (Taf. XXIV, XXV). Die Typen, die charakteristischen Stellungen und Bewegungen der Figu- ren, selbst die Eigentümlichkeiten der Formen erinnern derart an die Miniaturen von Chantilly, daß man versucht wäre, die Tafeln ebenfalls dem Atelier der Brüder von Limburg zuzuschreiben, wären sie nicht in der Komposition und der Darstellung des Raumes viel ungeschickter. Man mag sie deshalb später angesetzt haben, weil sie in der naturalistischen Durchbildung der einzelnen Gestalten ' In den Jahren 1402 — 1403 malten Polequin Manuel und Janequin Manuel eine Bibel für den Herzog von Burgund. Champeaux hat die Vermutung ausgesprochen, daß diese Illuminatoren Paul und Janequin von Limburg gewesen sind und daß sich die Bibel in der Pariser Handschrift erhalten hat (Champeaux-Gauchery, p. i3s). 2 Ms. fr. 167. ^ Ms. fr. 247. ■* Ms. fr. 2810. Taf. XXIV. Lichtdruck von M. FranUcnstciii, Wien. Französischer Meister aus dem Kreise der Künstler des Herzogs von Berry. Darstellungen aus dem Lehen des heil. Georg. Im Besitze des Herrn Belin in Paris. Lichtdruck von M. Fr a ii k eii st ci n, Wien. Französischer Meister aus dem Kreise der Künstler des Herzogs von Berry. Darstellungen aus dem Leben des heil. Georg. Im Besitze des Herrn Belin in Paris. Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 285 und in der Verwertung einzelner naturalistischer Beobachtungen sehr vorgeschritten sind und weil man eben gewohnt war, jeden Fortschritt in dieser Richtung erst in der Zeit nach der Entstehung des Genter Altares zu suchen. Wie in dem Gebetbuche von Chantilly finden wir neben typischen giot- tesken Gestalten solche, wie z. B. die der Henker, die unmittelbar nach dem Leben beobachtet zu sein scheinen; neben den schemati- schen grinsenden Köpfen, wie wir sie auch an den Jugendbildern Jans gefunden haben, an welche auch die vor Entsetzen wie gelähmt zu- rückstürzenden Gestallen erinnern, eine so naturalistische Darstellung des nackten abgemagerten Körpers des Heiligen oder eine so neue Wiedergabe vieler genrehaften Ein- zelnheiten, wie sie in der gleich- zeitigen italienischen Malerei noch nicht zu finden ist. Ein anderes Werk desselben Stiles ist die Ta- fel mit der Darstellung des Marty- riums des heil. Dionysius im Louvre (Fig. 47). Es wird uns berichtet, daß Jean Malouel fünf Tafeln für die Kartause von Dijon zu malen begonnen hat, daß diese Bilder von Henri de Bellechose aus Bra- bant vollendet wurden und daß sich darunter eine Darstellung de la vie de St. Denis befunden habe. Da nun das Louvrebild aus der Dijoner Kartause stammt, können wir es wohl als das Werk jener Meister betrachten.' Eine alte, in vielen Handschriften verbreitete Komposition ist hier mit einem Reichtum von naturalistischen Ein- zelbeobachtungen verbunden, der uns bei Beobachtung der einzelnen Figuren beinahe den mittelalter- lichen Ursprung des Bildes ver- gessen läßt. Soll der Stil dieser Werke aber, wie wir behaupten, die letzte Phase in der Entwicklung der gotischen Kunst sein, so müssen wir ihn natürlich auch in der Skulptur feststellen können. Wie viele Worte der Begeisterung sind schon über die Kunst des Claus Slüter in die Welt geschickt worden und wie wenig bemühte man sich bisher, den Ursprung und das Charakteristische seines Stiles zu erklären. Man sah in ihm den eigentlichen Vorgänger Jan van Eycks oder eine Parallelerscheinung zu Fig. 47- Unbekannter Meister (Henri Bellechose?) des heil. Dionysius. Paris, Louvre /Ausschnitt). Martyrium ' Champeaux, L'ancienne ecole de peinture de la Bourgogne : Gazette des Beaux Arts 1898, p. 36. 286 Max DvoFäk. diesem Meister und nahm an, daß sein Naturalismus in den Niederlanden entsprungen sei. Doch mit Recht weist Koechlin in dem bereits genannten Aufsatze darauf hin, daß gerade die niederländische Skulptur zu viel zurückgeblieben gewesen ist, als daß man aus ihr den Stil dieses «souverain tailleur d'images» ableiten könnte. Es mag der Umstand, daß man seine Vorgänger immer im Norden suchte, vor allem daran Schuld gewesen sein, daß man seinen Zusammenhang mit der ganzen Entwicklung der französischen Skulptur übersehen hat. Ein Vergleich des Kopfes Philipps des Kühnen von Slüter, der als ein Meisterwerk des «neuen» Naturalismus stets besonders hervorgehoben wurde, mit dem Kopfe Karls V. von einem Pariser Zeitgenossen Beauneveus zeigt bis zur vollen Evidenz, daß zwi- schen dem Naturalismus der französischen Kunst unter Karl V. und dem Naturalismus Slüters nur ein gradueller Unterschied gewesen ist, und daß die Werke Slüters und der älteren französischen Bild- hauer als Glieder einer und derselben Entwicklungskette betrachtet werden müssen, die, wie wir ge- hört haben, auch in der Zeit Karls V. nicht beginnt sondern bis zu den Anfängen der gotischen Skulp- tur zurückgeht. Man braucht sich auch nur in der franzö- sischen Plastik aus dem ersten Viertel des XV. Jahrhunderts umzusehen, um sich zu überzeugen, daß der Stil des Claus Slüter oder des Jean de Marville und ihrer Nachfolger nicht eine vereinzelte Erscheinung gewesen ist sondern, wenn auch nicht überall mit derselben Genialität gehandhabt, so doch seinen Prinzipien nach als ein allgemeiner oder weit verbreiteter, als das letzte Stadium der französischen goti- schen Skulptur betrachtet werden kann. Als Beispiel nennen wir die Grabmäler Louis II. von Bourbon und seiner Frau (f 1416) in Souvigny oder das Grabmal des Pierre de Bueil (t 1414) in Bueil oder die Johannesfigur auf einem der Strebepfeiler der südlichen Seite der Kathedrale von Amiens, die so stark an die Figuren Huberts erinnert, oder die wunderschöne Madonna, welche dem Celestinerkon- vente zu Marcousus im Jahre 1408 von dem Herzoge von Berry geschenkt wurde. In der großen Anzahl der un- Fig. 48. Unbekannter Meister, Karl V. datierten Statuen an den französischen Kathedralen kann gj ßgjjjg man überall Werke nachweisen, die stilistisch den Werken Slüters nahestehen, ohne daß sie von ihnen abhängig wären. Ein zweiter Irrtum ist es aber, die Werke Slüters in eine Parallele mit den Werken Jan van Eycks zu stellen. Die Uberwindung der gotischen Schablonen durch eine durchwegs auf neue und selbständige Beobachtungen zurückgehende Naturtreue, welche die Grundlage des Stiles Jans bildet, war der Kunst Slüters und seiner Zeitgenossen noch fremd. Im Typus, in der Draperie, in der Formen- wiedergabe knüpfen diese Künstler noch überall an jene Normen an, nach welchen sich die ganze Evo- lution der gotischen Skulptur vollzogen hat und die sie bis zur höchsten naturalistischen Potenz aus- gestaltet haben, ohne sie jedoch in ihrer Totalität durch unmittelbare Naturbeobachtung zu ersetzen. Doch das ist dasselbe, was wir auch in der gleichzeitigen Malerei gefunden haben. Von dem Stile der Bildhauer Karls V. unterscheidet sich der Stil Slüters und seiner Zeitgenossen, abgesehen von der Steigerung der naturalistischen Darstellungsmittel, durch ikonographisch neue Typen und durch eine barocke Ausbildung des Faltenwurfes. Wenn der Moses Michelangelos an die Propheten des Mosesbrunnens in Dijon erinnert, so ist dies sicher nicht so zu erklären, daß Michel- angelo von Claus Slüter beeinflußt gewesen wäre, sondern beide Künstler schöpften aus einer und derselben Quelle, der giottesken Uberlieferung. Nicht daß wir behaupten wollten, daß Slüter durch die italienische Trecentoskulptur beeinflußt worden wäre, die ihm kaum etwas bieten konnte; doch die Italianisierung der französischen Malerei schuf eine neue ikonographische Uberlieferung, die auch auf die Skulptur nicht ohne Einfluß geblieben ist. Die nächsten Verwandten des Propheten des Moses- Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 287 brunnens finden wir in dem Livre d'heures von Ghantilly. Der barocke Schwung des Faltenwurfes ge- hört zu den gotischen Merkmalen des Stiles Slüters und seiner Zeit und hat seinen Ursprung in der plastisch und an Motiven immer reicheren Umbildung der traditionellen Schemen der gotischen Ge- wandung. An giotteske Figuren erinnern jedoch die Engel des Mosesbrunnens und aus der giottesken Uberlieferung stammt auch die großzügige einfach monumentale Gewandbehandlung, welche wir z. B. an den Pleurants beobachten können. Aus den angeführten Beispielen, die keinesfalls das Material auch nur annähernd erschöpfen, ersehen wir also, daß sich in Frankreich in den ersten Jahrzehnten des XV. Jahrhunderts im Anschlüsse an die ganze Entwicklung der französischen goti- schen Kunst ein Stil herausbildete, welcher, auf allen Errungenschaften der gotischen Kunst im Norden und in Italien beruhend, über die Kunst des Trecento sowohl in der Ausgestaltung der Darstellungsprobleme als auch in ihrer naturalistischen Durch- bildung hinausgeht, ohne jedoch die Grenzen ganz zu überschreiten, die ihm durch die gotischen Schemen und Typen, durch die ganze gotische Uberlieferung gezogen wurden. Erinnern wir uns nun dessen, was das Ergebnis unse- rer Untersuchung über den Stil Hubert van Eycks gewesen ist. Könnte man nicht dieses Ergebnis mit denselben Wor- ten zusammenfassen, mit welchen wir soeben den dritten Stil der französischen Kunst in der von uns geschilderten Periode beschrieben haben? Alle allgemeinen entwicklungs- geschichtlichen Merkmale, welche dieser Stil aufweist, fin- den wir an den Bildern Huberts wieder und umgekehrt könnte alles, was wir über die Prinzipien seiner Kunst ge- sagt haben, auch über die Prinzipien jenes Stiles gesagt werden. Schritt für Schritt konnten wir nachweisen, wie an den Tafeln, die das Vermächtnis Huberts an dem Gen- ter Altare bilden, sich giotteske und nordisch-gotische Stil- elemente verknüpfen zu einem Stile, dessen letzte Ziele durch die allgemeinen Darstellungsformen der gotischen Kunst bestimmt werden, die in diesen Tafeln ihre letzte und höchste Ausgestaltung erfahren haben. Eine Betrachtung der Geschichte der gotischen Kunst in Frankreich im Verlaufe von hundert Jahren, welche den Werken Huberts vorangehen, lehrte uns aber, wie sich derselbe Stil allmählich und notwendig entwickelte. Es kann also über die entwicklungs- geschichtliche Stellung der Kunst Huberts kein Zweifel sein: diese Kunst ist nicht nur an den Ufern der Mosel, wie uns Carel van Mander glauben machen möchte, ist auch nicht als «die plötzliche Offen- barung eines der größten Genien der Menschheit» entstanden, wie uns moderne Forscher überzeugen wollten, sondern beruht ganz und gar auf der Entwicklung der vorangehenden Kunst, über die sie nicht mehr und nicht weniger hinausgeht, als es auch sonst bei der Kunst großer Künstler der Fall ist. Es sei uns gestattet, wiederum unsere Darstellung ein wenig zu unterbrechen, um einige Worte über den kulturellen Kreis zu sagen, mit dem die Kunst Huberts im Zusammenhange steht. Wir haben gehört, welche kulturelle Bedeutung den nordfranzösischen Höfen in der zweiten Hälfte des XIV. Jahrhunderts beizumessen ist. Zu Beginn des XV. Jahrhunderts können wir die Beobachtung machen, daß die hohe und intensive Kultur der gelehrten und adeligen Kreise in den nordfranzösischen Provinzen territorial und sozial sich auszubreiten beginnt, wie wir es ja stets im Verlaufe der Ge- schichte beobachten können, daß eine Kultur, die als die Schöpfung von wenigen einen bestimmten Höhepunkt erreichte, allmählich auch anderen gesellschaftlichen oder territorialen Kreisen begehrens- wert erscheint. Wichtig und epochal wird diese kulturelle Nobilitation dort, wo sie mit günstigen geschichtlichen oder wirtschaftlichen Vorbedingungen zusammentrifft. Das trat im XV. Jahrhundert in zwei Gebieten Fig. 49. Claus Slüter, Philipp der Kühne. Dijon. 288 Max Dvofäk. Europas ein, in der Toskana und in den burgundischen Provinzen. In der Toskana war im XV. Jahr- hundert fast der ganze Geldhandel Europas konzentriert und dort mündet auch die ganze vorangehende kulturelle Entwicklung Italiens; in den burgundischen Provinzen finden wir fast die ganze Industrie Europas und alles, was als das Resultat der kulturellen Entwicklung des Nordens betrachtet werden kann. Die Bedeutung Toskanas für die Geschichte der Kultur und Zivilisation ist bekannt, die Be- deutung der burgundischen Provinzen wird nur manchmal in wirtschaftsgeschichtlichen Büchern her- vorgehoben, die niemand in der Welt liest. Es ist natürlich schwer, in kurzen Andeutungen diese Bedeutung zu erschöpfen oder den ihr zugrunde liegenden geschichtlichen Verlauf zu schildern, doch immerhin wollen wir es versuchen. Wenn man von der Bedeutung der Niederlande sprach, so tat man es in der Weise, daß man sie vor allem als einen Aufschwung der Kommunen schilderte. Man faßte den Sachverhalt so auf, daß die bürgerliche Gesellschaft damals «aufgekommen sei», sich emanzipierte, und spricht von einer neuen bürgerlichen Kultur, die sich in den Niederlanden früher als anderswo entwickelte. Man begnügte sich dabei, auf einzelne Vorbedingungen dieser Wandlung hinzuweisen. Doch woher die neue bürgerliche Kultur kam, wie sie plötzlich entstehen konnte, das wußte man ebensowenig, als wie die Kunst der Meister des Genter Altares entstanden ist, ja man interessierte sich nicht einmal dafür. In Gent gab es um die Wende des XIV. und XV. Jahrhunderts 40.000 Tuchmacher und um das Jahr 1430 war Brügge eine bedeutendere Stadt als Paris. Die Vorbedingung eines jeden industriellen Aufschwunges ist ein Luxusbedürfnis. Bis zum XIV. Jahrhundert kamen alle kostbaren Stoffe aus dem Oriente; es ist das ein Beweis, wie wenig man davon brauchte. Doch wir hörten, wie sich im XIV. Jahr- hundert in Frankreich das vollzog, was man als die Renaissance des Luxus bezeichnen könnte, womit jedoch nicht nur die Vermehrung der äußeren Pracht sondern eine immense Steigerung aller Lebens- bedürfnisse verstanden werden soll. Man staunt noch heute, wenn man z. B. die Beschreibung des Schlosses zu Hesdin oder die Schilderung der Trauerfeier für den ermordeten Herzog von Orleans liest, über die Unsummen von Arbeit und Geldmitteln, die dabei in Anspruch genommen wurden. Diese ungeheure Steigerung der Lebensbedürfnisse, die wir als eine unmittelbare Folge der kultu- rellen Entwicklung der französischen höfischen Gesellschaft betrachten müssen, der kulturellen Ent- wicklung des Abendlandes, könnten wir auch sagen, mußte notwendigerweise auch einen Aufschwung jener Kreise zur Folge haben, die für die Erfüllung dieser Bedürfnisse zu sorgen hatten. In England wäre gewiß nicht im XIX. Jahrhundert ein neuer kunstgewerblicher Stil entstanden, wenn es dort nicht eine Gesellschaft gegeben hätte, die Gewicht darauf legte, schöne und gute Sachen zu besitzen, und deren Geschmack durch Generationen gebildet wurde. So ist der Aufschwung der nordfranzö- sischen und anschließenden flämischen Gebiete bereits in seinen wirtschaftlichen Grundlagen als eine Folge der kulturellen Entwicklung Frankreichs zu betrachten. Man wollte in der ganzen abendländi- schen Welt so leben, wie der französische Adel lebte, und aus Arras, Lille, Yppern wurden Stoffe und Tapisserien in ganz Europa bezogen, in Gent, Brügge war der Geldmarkt und Handelsmittelpunkt für den ganzen Norden. Warum gerade die burgundischen Provinzen an dieser Progression teil- genommen haben, ist aus bestimmten geschichtlichen Traditionen und aus politischen Verhält- nissen zu erklären, mit welchen wir uns hier nicht weiter zu beschäftigen haben. Die Geschichte eines Volkes oder einer Zeit nach ihren politischen Erfolgen zu bemessen, wäre dasselbe, als wollte man die einzelnen Menschen nach den materiellen Erfolgen schätzen, die sie sich zu ihren Leb- zeiten errungen haben. Betrachtet man die Geschichte der französischen Höfe zwischen i38o und 1419 nicht mit dem Auge eines Zunfthistorikers, bei dem sich der Ausgang jeder Schlacht zu einer Manifestation der in der Geschichte waltenden Gerechtigkeit gestaltet, sondern nach dem Maßstabe des in den trost- und ruchlosen Kämpfen der königlichen Familie angewendeten Ingeniums und hoher persönlicher Bildung, so wird man statt des unheilvollen Familienhaders eine Tragödie finden, wie sie Shakespeare nicht hätte größer und tragischer ersinnen können, die Tragödie des Kampfes eines genial begabten Menschen mit dem Zufalle, der die lichten und umnachteten Augenblicke des geistes- gestörten Königs bestimmte, eine Tragödie, in der Menschen von Macchiavellischer Kulturhöhe spielen Das Rätsel der Kunst der Brüder van F.yck. 289 und in der zuletzt das Fatum entscheidet. Und wie bei dem Lebenskampfe eines Genius vor allem die Verleger seiner Schriften oder Taten den Gewinn haben, so kam auch das französische Königs- drama der Aristokratie d'argent zugute, die in «jenen bewegten Zeiten vorsichtig und klug gewesen ist». Im Jahre 1408 hat noch Jean Sans Peur mit 2000 Reitern ein Heer von 40.000 Lüttichern einfach zerstampft, aber der Herzog wurde auf der Brücke von Montereau ermordet und Gent wurde immer reicher. So wurde der Aufschwung der nordfranzösischen und niederländischen Kommunen auch un- mittelbar eine Folge der Entwicklung, die sich in Frankreich vollzogen hat. Neue soziale Schichten können, nachdem sie sich politische oder wirtschaftliche Geltung er- rungen haben, die Erbschaft und Handhabung einer älteren Kultur übernehmen, doch nie über die Nacht eine neue Kultur schaffen. So ist auch die Kultur der nordfranzösischen und niederländischen Kommunen und Gebiete nicht als eine territoriale Neuschöpfung im Gegensatze zu der Kultur der älteren Zeit und anderen Gebiete entstanden, sondern im Anschlüsse an die große kulturelle Evolution, die sich in Nordfrankreich im Mittelalter vollzogen hat. Wie sich in Italien im XV. Jahrhundert in Florenz, im XVI. Jahrhundert in Venedig der ganze Schatz von kulturellen Errungenschaften an- sammelt, welchen die kulturelle Entwicklung Italiens seit der Antike hervorgebracht hat, so über- nahmen die sogenannten burgundischen Gebiete im XV. und XVI, Jahrhundert das ganze Vermächtnis der kulturellen Bildung, die sich bis zu jener Zeit nördlich der Alpen und vor allem in Frankreich ent- wickelt hatte. Nie wären die Tuchhändler, Kaufleute oder Geldagenten von Brügge oder Lüttich durch eigenes Grübeln zum «Bewußtsein ihrer Individualität» gekommen, wenn sich nicht auf den franzö- sischen Universitäten der große Prozeß der Emanzipation von der hierarchischen Bildung des frühen Mittelalters auf Grund von unermüdlicher Arbeit vieler Generationen vollzogen hätte; nie hätte ein Jodocus Vydts ein Kunstwerk stiften können, welches der Grundstein einer modernen Kunst geworden ist, wenn nicht jene Umgestaltung der höfischen Gesellschaft zur persönlichen Inanspruchnahme der Wissenschaft und Künste vorausgegangen wäre, von der wir oben gesprochen haben. Während sich jedoch der Herzog von Berry oder von Burgund ein Mausoleum aus Marmor bauen ließ, begnügte sich der reiche Bürger mit einem gemalten Schreine. Wie in einem Sammelbecken fließt also in den flandrischen Provinzen zu Beginn des XV, Jahr- hunderts alles zusammen, was die Vergangenheit und Gegenwart im Norden an kulturellen Werten geschaffen hat, diese Gebiete zu derselben Bedeutung wie Italien für ganz Mitteleuropa erhebend. Noch Dürer wanderte nicht nur über die Alpen sondern auch über den Rhein. Aus dieser allgemeinen Rezeption und Verarbeitung der alten Kultur in neuen Gebieten und gesellschaftlichen Klassen ist es jedoch auch zu erklären, warum die flandrischen Provinzen plötzlich die Führung in der Kunst über- nommen haben. Es ist wiederum nicht die provinziale Kunst, die auf einmal sich zu einer prävalenten Höhe entwickelt hätte, sondern die alte Kunstentwicklung, die hierher verpflanzt wurde und die unter neuen günstigen Verhältnissen zu einer neuen Phase gelangt. Das wiederholte sich seit den ersten An- fängen der Kunst immer wieder von neuem. Dieser große Aufschwung der nordfranzösischen und flandrischen Provinzen fällt nun mit der Ausbildung des letzten Stiles der französischen Gotik zusammen und so war es dieser Stil, an den das neue intensive Kunstleben in den nordfranzösischen und flandrischen Gebieten anknüpfte, was seine allgemeine Bedeutung noch mehr erhöhte. Es waren von nun an nicht nur die künstlerischen Unter- nehmungen der französischen Höfe, an denen er sich rasch entwickelte und von welchen aus sich sein Einfluß verbreitet, sondern auch das ganze Kunstschaffen in Kommunen, welche in vielfacher Hinsicht eine noch größere universale Bedeutung hatten als die französischen Höfe. Doch wo sind die Monu- mente dieses Stiles, die nicht der höfischen Kunst angehören würden? wird der Leser fragen. Man könnte wohl eine Reihe von Skulpturen nennen, die sein Eindringen in die bürgerliche Kunst der flan- drischen Provinzen beweisen. Doch für die Bildhauer hatte man in den Gemeinden wenig Beschäfti- gung, die Skulptur spielt auch das ganze XV. Jahrhundert hindurch keine wesentliche Rolle, weder in Flandern noch in Brabant, und bleibt auch in ihrer weiteren Entwicklung an Höfe und Dombauten gebunden. Dagegen gibt es eine Kategorie von Kunstwerken, welche in jener Zeit fast nur in den XXIV. 40 290 Max Dvorak. nordfranzösischen und flandrischen Provinzen geschaffen wurden, und zwar in einem Ausmaße, welches wir uns nach allen erhaltenen archivalischen Nachrichten kaum grof3 genug vorstellen können. Es sind das Werke der textilen Kunst. Nicht nur alle kostbareren Kleiderstoffe kamen in ganz Mittel- europa aus Flandern sondern auch alle Tapisserien. Man hätte von der Entwicklung der römischen Malerei wohl nie eine auch nur beiläufig richtige Vorstellung erhalten können, wenn sich nicht die pompejanischen Wandmalereien er- halten hätten. Dieselbe Rolle wie in der Antike oder im Trecento und in der Renaissance in Italien die Wand- gemälde spielen im Mittelalter nörd- lich der Alpen Tapisserien, mit wel- chen bis zum XV. Jahrhundert alle prunkvollen Räume fast ausschließ- lich geschmückt wurden. Wie karg sind die Freskenverzeichnisse Ghi- bertis oder Vasaris gegen die nicht endenden Aufzählungen von geweb- ten Bildern in französischen Kunst- inventaren des XIV. und XV. Jahr- hunderts. Man kann nicht dagegen einwenden, daß es Fabrikserzeug- nisse gewesen sind; denn es wird durch viele dokumentarische Nach- richten bestätigt, daß die Autoren der Zeichnungen für die figuralen Textilwerke nicht die Weber selbst sondern Maler gewesen sind, als deren Hauptbeschäftigung uns die Verfertigung solcher Vorzeichnun- gen in den Rechnungen und Inven- taren erscheint. Das erhaltene Mate- rial beweist auch, daß die textilen Werke vollkommen auf der künstle- rischen Höhe ihrer Entstehungszeit gestanden sind und eine für die Ge- schichte der Malerei nicht minder wichtige Serie von Kunsterzeug- nissen bilden als die Miniaturen und Fig. 50. Ein lieil. Mönch. Glasmalereien im XII. und XIII., als Stickerei von einem Pluviale im Wiener Hofmuseum. die italienischen Wandgemälde im XIV. oder als Tafelbilder und Holz- schnitte und Stiche im XV. Jahrhundert. Während jedoch die letztgenannten Kunsterzeugnisse mit Sorgfalt gesammelt, veröffentlicht und durchforscht werden, kümmert sich um die Denkmäler der spät- mittelalterlichen textilen Malerei nur manchmal ein Amateur, obwohl sich davon immerhin soviel er- halten hat, daß es einen Korpus füllen würde, und obwohl diese Denkmäler von Tag zu Tag mehr zugrunde gehen. Es ist merkwürdig, daß auch die Geschichte dieses Kunstzweiges denselben Verlauf nimmt wie die geschilderte allgemeine Entwicklung. Um die Mitte des XIV. Jahrhunderts waren die bedeu- tendsten und zahlreichsten Webereien in Paris, später wird die Fabrikation immer mehr nach dem Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 291 Norden verschoben und zu Beginn des XV. Jahrhunderts konzentriert sie sich fast ausschliei^lich in den großen nordfranzösischen und flandrischen Städten, eine der Hauptbedingungen ihrer Blüte bildend. Man könnte beinahe vermuten, dal3 es gerade die Geschicke dieser Fabrikation gewesen sind, welche die große alte kulturelle Strömung aus den Seine- und Loire- gebieten nach Hainaut und Flan- dern geleitet haben, wenn nicht auch andere Ursachen noch ohne Mühe gefunden werden könnten.^ Aber jedenfalls können wir an Wer- ken der französischen und flandri- schen Textilkunst den geschilder- ten Verlauf der allgemeinen und künstlerischen Entwicklung neu be- legen. Es gibt, obwohl das meiste heute verloren gegangen ist, noch textiler Werke aus dem XIV. und XV. Jahrhundert genug, die uns die Aufeinanderfolge von Stilphasen, wie wir sie schilderten, auch in die- sem Kunstzweige verfolgen lassen, von Werken, welchen noch der alte gotische Zeichenstil zugrunde liegt, wie z. B. der bekannten Darstellung im Tempel oder den gestickten Szenen aus dem Leben des heil. Martin im Musee Cinquantenaire zu Brüssel, zu den Werken, welche die italienische Einwirkung aufwei- sen, wie z. B. die nicht minder be- kannte Apokalypse von Angers, und bis zu Werken, welche jenen na- turalistischen Stil zeigen, den wir als die letzte Phase der gotischen Malerei in Frankreich festgestellt haben. Statt diese Entwicklung im einzelnen zu schildern, wollen wir sie an einem Denkmale belegen, welches in seiner Art einzig da- stehen dürfte. Es ist dies jene Suite von goldgestickten Meßgewändern, welche sich im Hofmuseum in Wien befindet und welche einst für ein Werk des Jan van Eyck gegolten hat. Es wäre sicher nichts Unmögliches oder im vorhinein Unwahrscheinliches, daß der große Hofkünstler des burgundischen Hofes, aus dessen Besitze diese kostbarsten Gewänder der Welt stammen, die Zeichnung für sie geliefert hätte; aber jedenfalls tat er Fig. 51. Ein heil. Einsiedler. Stickerei von einem Pluviale im Wiener Hofmuseum. ' Es scheint mir unzweifelhaft zu sein, daß in demselben geschichtlichen und kulturellen Zusammenhange auch die Anfänge der Holzschneidekunst zu suchen sind. 40* 292 Max Dvofäk. es nicht für alle, da sie aus verschiedenen Zeiten stammen. Die ältesten Stücke darunter sind zwei große Altardecken, auf welchen Madonna mit dem Jesuskinde, Johannes und Katharina, die heil. Dreifaltigkeit und Figuren von Aposteln und Propheten dargestellt sind (Taf. XXVI). Es war noch ein Künstler des XIV. Jahrhunderts, der für diese Altardecken die Zeichnungen lieferte und dessen herbe, kraftvolle Gestalten den Propheten Beauneveus noch nahestehen. Ferner gehören zu den Wiener Meßgewändern drei große Chormäntel, auf welchen die Glorie des Himmels, Gott Vater, Madonna, Johannes der Täufer, die Engelsscharen, die Heiligen, Bekenner und Propheten eingestickt wurden, ein ähnliches Programm also, wie auf dem Genter Schreine ge- malt wurde, nur in einzelne F"iguren aufgelöst. Künstlerisch vollendet ist der Mantel, auf welchen der auf Taf. XXVII reproduzierte Johannes der Täufer gestickt ist und den wir darnach den Jo- hannesmantel nennen wollen. Nicht gar zu fern stehen dem Genter Altare seine goldgestickten Himmelsscharen auch ihrer kunstgeschichtlichen Bedeutung nach; denn wir wüßten kein zweites Kunstwerk zu nennen, welches den Tafeln Huberts vom Genter Altare so verwandt wäre wie dieses textile Allerheiligenfest. Von derselben Hand sind auch die Zeichnungen für das zweite Pluviale, dessen Hauptdarstellung eine thronende Madonna bildet. Nicht nur in ihrem allgemeinen Stil- charakter sondern auch in allen Eigentümlichkeiten der Zeichnung und Formenwiedergabe (man vgl. die Ohren, die Hände, die Augen) stimmen die Gestalten dieser Mäntel mit den Figuren Huberts so überein, daß man uns nicht für leichtfertig halten könnte, wenn wir sie auch für ein Werk Huberts erklären würden, was wir nur darum unterlassen, weil es uns gefährlich erscheint, bei dem geringen Vergleichsmateriale die Frage zu entscheiden, ob es sich um eine Arbeit desselben Meisters oder nur derselben Schule, desselben Ateliers handelt. Jedenfalls bieten uns die beiden Chormäntel eine große Anzahl von Bildern in demselben Stile, in dem Hubert seine Gestalten geschaffen hat und die des- halb von einer großen Bedeutung sind, weil sie uns in voller Ausführlichkeit jenen Stil kennen lernen lassen, welchen wir auf Grund einer Analyse des Genter Altares als jenen Huberts bestimmt haben, und weil sie sowohl den Zusammenhang dieses Stiles mit der ganzen vorangehenden Malerei neu in besonders deutlicher Weise bestätigen als auch beweisen, daß dieser Stil der großen textilen Pro- duktion in den flandrischen Provinzen im ersten Viertel des XV. Jahrhunderts zugrunde lag. Der dritte große Mantel weist auch diesen Stil auf, doch in einer vorgeschritteneren Entwick- lung und in einer anderen Schulüberlieferung. Die Formengebung und auch die Typen sind etwas verschieden und auch die technische Ausführung ist nicht die gleiche. Wir müssen deshalb annehmen, daß er gewiß aus einem anderen Atelier, wahrscheinlich jedoch auch aus einer anderen lokalen Schule stammt, so daß vielleicht der eine Mantel in Gent, der andere aber, da manche Eigentümlichkeiten bei ihm den Stil Rogiers anzukünden scheinen, in Tournai oder Lille gezeichnet worden wäre. Mühelos kann man nun diesen zwei Meisterwerken der französisch-niederländischen gotischen Textilkunst eine Reihe anderer Werke derselben Art anreihen, die bisher nach dem Ermessen der Liebhaber datiert wurden und an deren großer kunstgeschichtlichen Bedeutung man achtlos vorbeiging. Die letzten Stücke des Wiener Meßinventars, zwei Dalmatiken und eine Kasula, zeigen den Stil Jan van Eycks und stehen seinen Bildern wiederum so nahe, daß wir vermuten müssen, daß ein Jan nahestehender Künstler die Kartons gezeichnet hat. Sie sind nicht von jener Meisterschaft in der Zeich- nung wie die großen Chormäntel, was auf die technische Ausführung zurückzuführen sein mag. Jeden- falls zeigen sie uns eine parallele Stilwandlung, wie wir sie am Genter Altare beobachten konnten, und zwar bis zu den kleinsten Eigentümlichkeiten der Formensprache, und beweisen so, daß sich diese Wandlung auf allen Gebieten der Malerei vollzogen hat und daß wir die großen Mäntel wirklich als ein Denkmal der vorangehenden Stilperiode betrachten müssen, als eines der wichtigsten, welche wir besitzen und welches wir, was Bedeutung und kunstgeschichtliche Stellung anbelangt, in eine Pa- rallele mit den Skulpturen der Kartause von Dijon und mit dem Gebetbuche von Chantilly stellen können. Für uns sind aber diese «burgundischen» Meßgewänder, die, da sie eine vollständige Ausstattung für eine Kapelle bilden, so entstanden sein mögen, daß Herzog Philipp der Gute für einen feierlichen Taf. Xm. PROPHETEN UND HEILIGE VON EINER GESTICKTEN ALTATIDECKE IM WIENER HOFMUSEUM. Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 293 Zweck die kostbarsten Stücke seines Schatzes zu einer vollständigen Garnitur ergänzen lie(3,^ ein neuer Beweis dafür, daß wir die ganze Entwicklung richtig schilderten, und ein besonders wichtiger Beleg für die Bedeutung, die der letzten Periode dieser Entwicklung beizumessen ist. Die Werke der Brüder von Limburg, Claus Slüters und Hubert van Eycks sind nicht unmittelbar von einander abhängig sondern sind selbständige Manifestationen eines und desselben Stiles, des letzten französisch-gotischen, des ersten niederländischen, der, die gemeinsame Grundlage des über alle Maßen intensiven Kunst- schaffens in Frankreich und in den flandrischen Provinzen bildend, sich rasch zu verschiedenen Schulen entwickelte und durch verschiedene künstlerische Individualitäten einen verschiedenen Ausdruck fand. Der höchste Stil des gotischen Naturalismus im Norden führte zu denselben Kunsterscheinungen wie die letzte Blüte des Naturalismus der Renaissance und seine großen Künstler dürften in einem ähn- lichen Verhältnisse stehen wie hundert Jahre später Raffael, Bellini, Lionardo. Wenn uns ein Vasari darüber Bericht erstattet hätte oder wenn uns die Sorgfalt der folgenden Generationen von den Werken jener großen gotischen Künstler soviel erhalten hätte wie von den Werken der großen Quatro- centisten, so würden wir wahrscheinlich auch ihren engeren Schulzusammenhang kennen. So mußten wir aber aus Trümmern und Vergessenheit erst wieder den einheitlichen sie verbindenden Stil als eines der wichtigsten Glieder in der Kette der einheitlichen Kunstentwicklung kennen lernen. Wenn wir von diesem Stile ausgehen, wird uns aber auch außerhalb Frankreichs und der flan- drischen Provinzen die Kunstentwicklung um die Wende des XIV. und XV. Jahrhunderts in einem anderen Lichte erscheinen. Man hat nie daran gedacht, daß dieselbe Kluft wie zwischen den lokal- niederländischen Trecentobildern und dem Genter Altare auch in Köln zwischen den Werken des Meisters des Klarenaltares und den frühen Arbeiten Stephan Lochners besteht. Man begnügte sich da- mit festzustellen, daß bei beiden Meistern dieselben «sanftanmutigen Frauenköpfe» vorkommen, und übersah, daß sie eine Revolution in den Darstellungsproblemen trennt, ohne daß man das Neue auf die Errungenschaften Jan van Eycks und seiner Schule zurückführen könnte. Man nahm den Stil Mosers als selbstverständlich hin, ohne zu bedenken, daß eine ganze Welt von Neuerungen diesen Künstler von seinen oberrheinischen Vorläufern schied; man machte sich keine Bedenken darüber, wie auf einen Spinello Aretino plötzlich ein Masaccio, auf einen Giovanni d'Ambrogio oder Niccolo d'Arezzo ein Quercia, ein Ghiberti, ein Nanni di Banco und Donatello folgen konnten. Es war ein großer Fortschritt in der kunstgeschichtlichen Forschung, als es gelang nachzuweisen, daß durch den neuen monumentalen Stil, welcher sich um die Mitte des XII. Jahrhunderts in Frank- reich entwickelte, auch die Geschichte der Skulptur in Deutschland bestimmt wurde. Doch gilt das- selbe nicht auch für folgende Zeiten, für alle Zeiten überhaupt, daß ein wesentlicher Fortschritt in den künstlerischen Problemen früher oder später in allen Gebieten einwirken muß, die eine beiläufig gleich- artige Kultur haben? Auch der Stil Giovanni Pisanos beruht auf nordisch-gotischen Anregungen und umgekehrt wirken die Errungenschaften der italienischen Malerei im Norden ein. Der neue natura- listische Stil, der um die Wende des XIV. und XV. Jahrhunderts in Frankreich und Flandern entstanden ist und die vorangehende Kunst entwicklungsgeschichtlich weit überholte, der einem fieberhaften Kunstschaffen in Gebieten von kulturell und vvirtschaftlich zentraler Bedeutung zugrunde lag, soll ohne Einwirkung geblieben sein? Es wäre eine Lücke in unserer Beweisführung, wenn wir die Einwirkung dieses Stiles nicht auch außerhalb Frankreichs nachweisen könnten. Man pflegte früher oft von einer Einwirkung der Kölner Malerschule auf die Brüder van Eyck und die neue niederländische Malerei zu sprechen. Wie sollte man sich jedoch diesen Einfluß vor- stellen? Soll in den Niederlanden die ältere Kölner Schule eingewirkt haben, als deren Repräsentant Meister Wilhelm betrachtet werden kann und die in keiner Beziehung über den allgemeinen Stil der Achtzigerjahre des XIV. Jahrhunderts hinausgekommen ist? Oder soll sich der neue naturalistische Stil des ersten Viertels des XV. Jahrhunderts in Köln entwickelt haben, wo alle Zwischenglieder und ' Die traditionelle Nachricht, daß sie für den feierlichen Gottesdienst bei den Festen des Ordens vom goldenen Vliese angefertigt wurden, entbehrt jeder Beglaubigung. 294 Max Dvofäk. Vorbedingungen fehlen? Da wir jedochi diese Entwicklung anderswo und in einem großen universal- geschichtlichen Zusammenhange nachweisen können, braucht diese Möglichkeit nicht einmal erwogen zu werden. In der frühgotischen Zeit übernahm man in Köln den Stil der älteren französischen Malerei; in der zweiten Hälfte des XIV. Jahrhunderts läßt sich in Köln derselbe avignonesische Stil nachweisen wie in Frankreich, um die Mitte des XV. Jahrhunderts derselbe Stil wie in den Niederlanden. Und nur gerade um die Wende des XIV. und XV. Jahrhunderts hätte das Verhältnis umgekehrt sein sollen? Wenn wir nun bei Stephan Lochner dieselbe Ausgestaltung der naturalistischen Probleme finden wie bei Claus Slüter, Hubert van Eyck und wie in der ganzen gleichzeitigen französischen und flandrischen Kunst, so kann wohl kein Zweifel sein, daß die Anregung dazu abermals von dort kam, wo sich diese Umgestaltung aus einer großen und alten Kunstüberlieferung entwickelte. Und vergleicht man die älteren Bilder Lochners mit den Werken Huberts oder mit den Bildern des Wiener Johannesmantels, so findet man eine volle Übereinstimmung nicht nur in den stilistischen Prinzipien sondern auch in einzelnen Typen und in Eigentümlichkeiten der Formendarstellung, und zwar in solchen, die in der älteren Kölner Schule nicht zu finden sind, wogegen wir sie in Frankreich weit zurück verfolgen können. Umgekehrt sind aber die Besonderheiten der kölnischen Lokalschule weder in Frankreich noch in Flandern nachzuweisen. Daß der deutsche Meister den neuen fremden Stil ins Kölnische umsetzte, ist ein Vorgang, der keiner Erklärung bedarf. Ahnliches hat sich aber auch in anderen deutschen Kunstzentren vollzogen und der letzte Stil der französischen gotischen Malerei dürfte überall einen ähnlichen Einfluß ausgeübt haben wie ein Jahr- hundert früher der neue malerische Stil der französischen Frühgotik, wie fünfzig Jahre früher der avignonesische Stil und wie eine oder zwei Generationen später der Stil Jan van Eycks und seiner Schule. Man kann den Einfluß dieses älteren naturalistischen französisch-niederländischen Stiles in Schwaben und in der Schweiz, in Holland und in Spanien beobachten, die Kunst der französischen Büchermaler beruht auf ihm bis zur Mitte des Jahrhunderts und die kunstgeschichtliche Stellung des flandrischen Altersgenossen Jans wird durch ihn erklärt. Es sind die Prinzipien dieses Stiles, die wir an Werken Rogiers und des Meisters von Flemalle so lange beobachten können, bis ihre Kunst in jener des großen Beenders des Genter Altares ganz aufgegangen ist. Und nun nach Italien! Die Alpen waren nie ein Hindernis für den gegenseitigen Austausch der Kunsterrungenschaften des Nordens und des Südens und, wenn wir in Italien bald darauf, nachdem sich im Norden im orga- nischen Zusammenhange mit der ganzen Geschichte der gotischen Kunst ein großer naturalistischer Stil entwickelt hatte, plötzlich auch eine mächtige naturalistische Strömung finden, für die in der vorangehenden Kunst des Trecento absolut keine ausreichende Erklärung zu finden ist, dürfte wohl die Vermutung nicht gar zu kühn sein, daß, wie ein Säkulum früher, so auch am Anfange des XV. Jahrhun- derts wieder die italienische Kunst durch die Errungenschaften der Kunst des Nordens in neue Bahnen gewiesen wurde. Es ist schon VioUet-le-Duc aufgefallen, daß sowohl der wuchtig-monumentale Stil als auch der grandiose Naturalismus der toskanischen Bildhauer der Protorenaissance, der sich von der dramatischen Lebhaftigkeit oder ornamentalen Zierlichkeit der zweiten Hälfte des XIV. Jahrhunderts so auffallend unterscheidet, auch der gleichzeitigen und sogar der vorangehenden französischen Skulptur eigentümlich ist, und er spricht von einer «veritable renaissance francaise», die in Frankreich ein Vierteljahrhundert früher als in Italien entstanden sei. Von einer Renaissance kann nicht die Rede sein, denn wenn überhaupt je einer, so ist dieser Stil eine Schöpfung der neuen christlichen Kunst; wohl dürfte er aber der Renaissance die Tore eröffnet haben. Das Experiment Niccolo Pisanos, mit den antiken Skulpturen zu wetteifern, ist mißlungen und, wenn man diesen Wettkampf anderthalb Jahrhunderte später neu wieder aufnehmen konnte, so verdankt man es jener Ausgestaltung der natu- ralistischen Probleme, die wir als das Resultat der dazwischen liegenden Entwicklung der gotischen Plastik betrachten müssen, einer Entwicklung, deren Schauplatz vor allem die Kunststätten des Nordens gewesen sind. Wie der Fortschritt der französischen Meister den italienischen Künstlern übermittelt Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. wurde, wäre eine müßige Frage, selbst wenn die Beziehungen mit dem Norden weniger intensiv ge- wesen wären und wenn in Italien selbst nicht in einer Stadt ein großer gotischer, mit unzähligen Statuen geschmückter Dom unter Mitwirkung deutscher und französischer Künstler gebaut worden und wenn in Florenz selbst nicht gerade in jener Zeit ein Bildhauer aus dem Norden tätig gewesen wäre. E i n Werk genügt, einem empfänglichen und suchenden Künstler das Neue zu übermitteln. Man sollte auch bei solchen Fragen stets im Auge behalten, daß es nie in der ganzen Geschichte der christlichen Kunst eine Periode gegeben hat, in der sich die Entwicklung der künstlerischen Probleme mit unbedeutenden Zeitschwankungen nicht in allen Kulturgebieten Europas einheitlich vollzogen hätte. Ein Vorurteil des Klassizismus ist aber die Anschauung, daß Italien stets der gebende Teil ge- wesen sei. Unüberbrückbar scheint jedoch in der italienischen Malerei die Kluft zwischen dem Trecento und der Renaissance zu sein. Zwischen der Naturwiedergabe der Malereien im Campo Santo von Pisa oder in der Georgskapelle in Padua und der Naturwiedergabe der Fresken der Brancaccikapelle gibt es einen Riß, der durch kein Raisonnement wegzuschaffen ist. Erinnern wir uns aber, daß Schriftsteller, die uns aus dem XV. Jahrhundert Nachrichten über italienische Künstler jener Zeit überliefert haben, zwei Maler als die bedeutendsten im ersten Viertel des Jahrhunderts nennen, nämlich Gentile da Fabriano und Pisanello. Besonders Pisanello wurde von Dichtern und Schriftstellern gefeiert als der größte Künstler, den es je gegeben habe, und beiden Meistern wurden die größten Aufträge über- geben, die jene Zeit zu vergeben hatte, die Ausmalung des großen Saales im Dogenpalaste und des Laterans. Erst Vasari hat sie zu Künstlern zweiter Ordnung herabgesetzt. «Chi vol del mondo mai non esser privo Venga a farse retrar del naturale AI mio Pisano, quäl' reträ l'hom'tale Che tu dirai: «Non e anzi, e pur vivo!» Perche lä par' vivace e sensitivo. O mirabil pictor, che tanto vale Ch'a'Ia natura tu sei quasi eguale.» Mit diesen Versen schilderte Angiolo Galli im Jahre 1442 die Wirkung der Werke Pisanellos und ähnliche Dithyramben auf die Lebenswahrheit des in ganz Italien berühmten Meisters wieder- holen sich in vielen Äußerungen seiner Zeitgenossen, ein Beweis, dass sein Naturalismus als der größte Vorzug seiner Werke betrachtet wurde. Dieser Naturalismus ist jedoch weder jener Masaccios noch jener Jan van Eycks. Wie bei den Künstlern des Gebetbuches von Chantilly und Hubert van Eyck sind es noch die allgemeinen Schemen der Komposition, landschaftlichen Darstellung und Typen der Tre- centokunst, mit welchen dieser Naturalismus verbunden erscheint, und man braucht nicht lange zu vergleichen, um sich zu überzeugen, daß Pisanellos Umwertung des älteren Trecentostiles auf den- selben Prinzipien beruht wie die gleichzeitige Malerei in Frankreich und Flandern, ja daß wir an Bil- dern dieses Künstlers nicht nur dieselben Vorzüge beobachten können wie an Werken gleichzeitiger französischer und flandrischer Maler sondern auch Ubereinstimmungen, die auf einen unmittelbaren Zusammenhang schließen lassen. Den Miniaturen des Gebetbuches von Chantilly entspricht in den Fresken in Sta. Anastasia das Auftauchen der Architekturen hinter einem Berggelände, die Darstellung dieser Architekturen, die von den Städtebildern der italienischen Trecentisten so abweicht, die Be- handlung des Bodens und der Sträucher, die Tierdarstellung, die bei ihm so bewundert wurde und die neu in Italien war, die wir jedoch ebenso wie die treue stoffliche Schilderung auch bereits an den Werken der Brüder von Limburg beobachtet haben. Könnte nicht die Figur des heil. Eustachius in London von einem der französischen Künstler um 1420 herum gemalt worden sein oder ist der heil. Antonius, ebenfalls in London, nicht ein Pendant zu den Mönchsfiguren des Wiener Meßgewandes oder zu den Propheten in der Anbetung des Lammes, wogegen die landschaftliche Szenerie des letzteren Bildes wieder dem Gebetbuche in Chantilly entnommen zu sein scheint? Auch das Kolorit Pisanellos 296 Max Dvofäk. ist weder italienisch noch trecentesk sondern erinnert an flandrische Arbeiten. Noch mehr tritt diese Verwandtschaft in Zeichnungen Pisanellos zutage, die schon technisch, noch mehr jedoch in der ganzen Auffassung des Naturstudiums an die Zeichnungen französischer und flandrischer Maler vom Anfange des XV. Jahrhunderts erinnern, wie wir sie z. B. aus einem Skizzenbuche in der Berliner Uni- versitätsbibliothek kennen lernen, dessen Autor den Namen Jacques Daliwe geführt zu haben scheint und künstlerisch den Illuminatoren des Gebetbuches von Chantilly nahestand. Die Geschichte dieses Zeichenstiles und Naturstudiums ist jedoch unzertrennlich von der Geschichte der gotischen Malerei im Norden. Bei dem Mangel an verläßlichen Nachrichten über das Leben Pisanellos und über die oberitalie- nische Kunst seiner Zeit überhaupt dürfte es kaum je möglich sein festzustellen, auf welche W^eise der Fig. 52. Aus dem Zeichenbuche des Jacques Daliwe. Berlin, Universitätsbibliothek, Cod. pict. 74. neue Naturalismus der spätgotischen Malerei, den auch Werke Stephanos da Zevio und anderer ober- italienischer Künstler aufweisen, nach Italien gelangte. Nur auf eines sei hingewiesen. Im Jahre 1407 bestellte Philipp der Kühne von Burgund bei seinem Pariser Kunstagenten Jacques Rapond aus Lucca eine große Bilderbibel und es wird erwähnt, daß an dieser Bibel folgende Künstler gearbeitet haben: Ymbert Stanier enlumineur, Jacques Cone peintre und Haincelin de Haguenot enlumineur. Einer dieser Künstler, Cone oder Coene aus Brügge, der im Gegensatze zu anderen als Maler bezeichnet wird, ist uns auch sonst bekannt. Jean Lebegue, der ein Malerbuch schrieb, beruft sich auf ihn als auf seinen Gewährsmann und, was weit wichtiger ist, wir wissen, daß er auch nach Mailand zur Leitung des Dombaues berufen wurde, wo er «designare ecclesiam de fundamentis usque ad summitatem» be- gonnen hat.^ Wir haben also in ihm einen gewiß nicht unbedeutenden Künstler zu sehen, der Archi- tekt und Maler gewesen ist, dessen Stil derselbe sein dürfte wie der der anderen Hofkünstler der Herzoge von Burgund und Berry und der in Mailand gewirkt hat. Es gibt noch einen Beweis für den Zusammenhang Pisanellos mit dem französisch-flandrischen Kunstkreise, der vielleicht deutlicher spricht als alles andere. Nicht in Italien, wie man einst ' Die Belege bei Champeaux-Gauchery, p. 122 ft. Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 297 vermutete, sondern im Zusammenhange mit der iiumanistischen Kultur der nordfranzösisciien Höfe, angeregt durch die in den Sammlungen der französischen Fürsten, vor allen des Herzogs von Berry, des «ersten Sammlers grolSen Stiles», befindlichen Antiken und ermöglicht durch die große Blüte der Goldschmiedekunst, welche die Vorliebe dieser Kunstmäcene für Kostbarkeiten hervor- brachte, sind in Frankreich noch zu Lebzeiten des Herzogs von Berry die ersten Medaillen seit der Antike modelliert und im Metall ausgeführt worden. Es kann kein Zweifel sein, da(3 ihre Verfer- tiger derselben Kunstschule angehören wie die Illuminatoren des Gebetbuches von Chantilly. Die Kaiserfigur der Konstantinmedaille kehrt in einer fast genauen Wiederholung in der Gestalt eines der heil, drei Könige auf der auf Fig. 43 abgebildeten Miniatur des Gebetbuches wieder und der Stil der Medaillenreliefs ist beinahe identisch mit jenem der Brüder von Limburg. Nun hat aber bereits Schlosser in seinem grundlegenden Aufsatze über die ältesten Medaillen ausgeführt, daß durch diese Medaillen des Herzogs von Berry Pisanello angeregt wurde, Medaillen zu verfertigen, die auch stilistisch sich ihren nordischen Vorbildern anschließen und eine Reihe von Erzeugnissen der italienischen Klein- plastik eröffnen, die mit Recht von Kennern zu den größten Ruhmestiteln der Renaissance gerechnet wird.^ Gentiles ältere Werke haben noch alle Merkmale der Trecentomalerei. Plötzlich hat jedoch der Künstler seinen Stil geändert. Das erste Beispiel dieser Wandlung dürfte sein schönstes und bekann- testes Bild sein, die Anbetung der heil, drei Könige in der Akademie von Florenz, welches im Jahre 1423 entstanden ist. Auf der Einrahmung dieses Bildes sind bekanntlich naturtreu Blumen gemalt, was wir in der älteren italienischen Kunst nicht finden, wie sie jedoch Pisanello auf den Hintergründen seiner Porträte malte und wie sie in dem Gebetbuche von Chantilly und in unzähligen anderen fran- zösischen oder flandrischen Handschriften derselben Zeit vorkommen. Dass die Komposition an trans- alpinische Vorbilder erinnert, ist bereits von Müntz und Venturi hervorgehoben worden. Wir kennen ähnliche Kompositionen z.B. aus dem Kodex von Chantilly. Doch nie ist meines Wissens gesagt worden, daß sich die neue naturalistische Auffassung bei diesem Bilde nicht nur auf jene Blumensträuße be- schränkt sondern in ähnlichen Formen wie bei Pisanello und den Naturalisten des Nordens das ganze Gemälde durchdrungen hat. Gentile mag den neuen Stil durch Pisanello kennen gelernt haben, mit dessen Werken spate Bilder Gentiles vielfach übereinstimmen. Doch da Gentile, wie Stephan Lochner in den kölnischen, das Neue in den toskanisch-umbrischen Stil einfügte, war seine Bedeutung für die Entwicklung der toskanischen Malerei vielleicht noch größer als die Pisanellos. Wie nahe Gentile den Künstlern der Brancaccikapelle kam, beweist die Predelle von der Anbetung der heil, drei Könige, die sich im Louvre befindet. So läßt sich auch in Italien derselbe naturalistische Stil, der der Renaissance vorangeht, wie im Norden nicht nur feststellen sondern auf dieselben Q.uellen zurückführen. Damit wird aber in Italien die Lücke ausgefüllt und die Evolution schließt sich. Nicht zwischen Masolino und Hubert sondern zwischen Pisanello und Hubert besteht eine Parallele, die durch denselben Ursprung der stilistischen Prinzipien dieser Künstler erklärt werden kann. Zwischen dem Naturalismus Pisanellos und Gentiles und dem Naturalismus Masaccios besteht aber keine so große Kluft mehr, daß sie die geniale Begabung eines großen Künstlers nicht ausfüllen könnte. Nachdem wir auf diese Weise die universellgeschichtliche Bedeutung des letzten Stiles der fran- zösischen gotischen Malerei bestimmt haben, können wir zu unserem Thema zurückkehren. Hubert van Eyck war in der Tat der größte Maler dieses Stiles, vielleicht der größte Maler der gotischen Kunst überhaupt, und mit Recht konnte sein jüngerer Bruder an sein letztes Werk wie ein Epitaph die Worte setzen: «pictor major quo nemo repertus». Den Zeitgenossen dürfte dies so berechtigt und selbstverständlich erschienen sein als Dürer die Annahme, daß der alte Bellini im Jahre 1406 der größte Maler Venedigs gewesen sei, obwohl in der Abfassungszeit jenes Epitaphs bereits Jan van Eyck und in den Jahren des zweiten venezianischen Aufenthaltes Dürers bereits Tizian unsterbliche Werke eines anderen neueren Stiles geschaffen haben. ' Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen des AUerh. Kaiserhauses, Bd. XVIII, S. 75 ff. XXIV. 41 298 Max Dvofäk. Als einen nach den Grundlagen seiner Kunst mittelalterlich-gotischen Künstler haben wir an dem Genter Altare Hubert kennen gelernt und eine Untersuchung der Ent- wicklung der gotischen Malerei im XIV. Jahrhundert nördlich der Alpen zeigte uns als die letzte Phase dieser Entwicklung denselben Stil, welchen wir als den Huberts fest- gestellt haben. So reiht sich an den Monumentenbefund der geschichtliche Zusammen- hang als der letzte und endgültige Beweis für die Richtigkeit unserer Stilanalyse. Wenn wir jedoch auf die geschilderte Entwicklung zurückblicken, so wird es uns auch leicht werden, die dem berühmten Schreine zugrunde liegende inhaltliche Tendenz auf ihre historische Ent- stehung zurückzuführen. Wir konnten beobachten, wie jener Stil, der als das malerische Vermächtnis der Antike an die Zukunft im Trecento in die Kunst des Abendlandes allgemein neu eingeführt wor- den war, durch andere Normen der Naturtreue langsam durchdrungen wurde, durch Normen, in welchen sich ein Bestreben geltend macht, die Darstellung der Objekte individueller zu gestalten, als es bisher, als es in der ganzen vorangehenden Kunst der Fall gewesen ist. Doch ist das nicht eine Analogie zu dem, was sich in den religiösen Anschauungen, in der ganzen geistigen Kultur vollzogen hat? In den senti- mentalen Erzählungen der giottesken Literatur und Kunst sprach trotz der psychologischen Umdeutung noch die biblische oder legendäre Erzählung das entscheidende Wort. Die Leiden Christi und die Schmerzen und Freuden der Madonna waren noch eine Offenbarung, aus der die Menschen «Mut und Geduld» lernen sollten. In ähnlicher Weise hatte der Erotismus Petrarcas, der Rationalismus Ockams, die politische Schwärmerei Colas di Rienzo einen literarischen Ursprung. In den kulturellen Zentren des Nordens bekamen aber in der zweiten Hälfte des XIV. Jahrhun- derts diese evangelischen und literarischen Werke eine neue Bedeutung. Wie man heute die geistige Bildung unserer Zeit schlecht nach dem beurteilen würde, was in den Gedichten gesungen oder in den Schulen gelesen oder gelehrt wird, so würde man einen falschen Begriff von der geistigen Entwicklung des späten Mittelalters bekommen, wenn man sie nach den offiziellen schönen und literarischen Wer- ken bemessen würde. Nicht die Gedichte und Romane, die in den Handbüchern der Literaturgeschichte stehen, sind der richtige Maßstab für die Höhe der geistigen Kultur jener Periode sondern die theolo- gisch-spekulative Literatur. Bocaccio und Chaucer sind nicht die führenden, die Zukunft bestimmenden Geister, wie uns die Herolde der Renaissance verkünden, sondern Peter d'Ailly und Wiclif, dessen geniale Prädestinationslehre als die größte Tat des Jahrhunderts bezeichnet werden kann. Während die «Hundert Lehren Otheas» ein Jahrhundert später zur Pöbelliteratur herabgesunken sind und bald darauf nicht mehr verstanden wurden, erfüllen uns die Ideen der Epistola diaboli Leviathan oder des Trialogus noch heute mit Bewunderung. Es waltet hier dasselbe Gesetz, welches uns auch die Bilder Jans ohne histo- rische Kenntnisse noch heute bewunderungswürdig erscheinen läßt. Es ist nicht mehr ein Ringen um die Form, welches jene Werke geschaffen hat, sondern ein Ringen um die innere Wahrhaftigkeit. Weder das angesammelte abstrakte tote Wissen, wie im frühen Mittelalter, noch die formale Wahrheit, wie im Ducento, noch das gegebene Sentiment, wie im Trecento, sind die Quellen und Gesetze des Denkens und Fühlens mehr sondern die individuell gewonnene Uberzeugung und Empfindung bildet die Norm aller Wahrhaftigkeit. «In der Kirche der menschlichen Seele liegt die Wahrheit», sagte ein Schrift- steller dieser Zeit, während die Alten «nur die Gesetze Justinians und die Dekrete Gratians kannten». Auf dieser neuen Auffassung der menschlichen Erkenntnis, die ebenso neu der Antike als dem Mittel- alter gegenüber gewesen ist, die jedoch nicht plötzlich gefunden wurde sondern sich langsam aus dem mittelalterlichen Kampfe zwischen dem Dogma und der Erfahrung, zwischen den Lettern und dem Leben, zwischen der alten Erbschaft und neuem Suchen herausbildete, beruht wie auf dem neuen Na- turalismus in der Kunst und nicht auf einer abstrakten humanistischen «Entdeckung des Individuums» sowohl die Renaissance als auch die Reformation, sowohl die Aufklärung als auch die moderne Wissen- schaft und die ganze geistige Kultur bis auf unsere Tage. Es ist noch unsere Auffassung. Bald nach ihrer Entstehung mußte diese Auffassung das ganze Leben und hiermit auch den In- halt der Kunstwerke durchdringen. Noch thront Gott Vater am Genter Altare in statuenhafter Starre, noch sind die Heiligenchöre nach der alten dogmatischen Einteilung geordnet; doch das ganze Werk Die Saat. Miniatur aus dem Gcbctbuchc des Herzogs von Berry in Cliaiitilly. Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 299 hat einen anderen Sinn bekommen, der nicht an eine Kirchenlehre sondern an ein wirkliches oder an- genommenes psychisches Erlebnis des Stifters oder Beschauers anknüpft. Das ganze Werk gleicht einem Gebete und darin kündigt sich auch bei Hubert bereits eine neue Epoche an. Wie weit liegt das aber von den «mönchischen Vorbildern» und «scholastischen Spekulationen». Der zweite naturalistische Stil. Wenden wir uns noch einmal zu den merkwürdigen Bil- dern des Gebetbuches von Chantilly. Wie es in dieser Handschrift Randleistendekorationen gibt, welche mit der stilisierenden mittel- alterlichen Ornamentik nicht mehr zusammenzuhängen scheinen, — Sträuße von Veilchen, Stiefmütter- chen und Rittersporn, frei um die Schriftkolumnen verstreut und treu wie in einem modernen botani- schen Buche nach der Natur gemalt, schmücken den Rand — so gibt es in dem Kodex von Chantilly auch Miniaturen, die man für ganz frei von jeder mittelalterlichen formalen Uberlieferung halten könnte. Es sind dies in erster Reihe die Kalenderbilder. Nach alter Sitte schmückten die Brüder von Limburg den Kalender mit Darstellungen verschiedener Monatsbeschäftigungen, bei welchen sie sich jedoch nicht an die konventionellen Kompositionen hielten sondern Szenen aus dem Leben mit aus- führlicher Naturtreue dargestellt haben. Am besten sind ihnen dabei Bilder gelungen, in welchen sie das Landleben schilderten. Wenn der alte Götze, das plötzliche Erwachen des Natursinnes genannt, wirk- lich existiert hätte, so müßte man diese Bauernbilder als eine seiner ersten und weittragendsten Taten be- trachten. Auch in der Trecentomalerei gibt es groß angelegte und sorgfältig durchgeführte Landschaften, doch nie eine so eingehende Schilderung einer be- stimmten landschaftlichen Szenerie wie bei den Kalen- derbildern von Chantilly. Suchten in der vorangehenden Kunst die Maler ihrer Beobachtung und Erinnerung nur das zu entnehmen, was an den alten landschaft- lichen Schablonen angebracht werden konnte, so tritt uns bei den Bauernstücken der Brüder von Limburg . . I 1 , r f"'§' S^- Hans Holbein, Zeichnung nach der Grabesfigur alles entgegen, was an emer bestimmten Landschaft j u r> • ^ ' , \ u -.a o o ? des Herzogs von Berry m Bourges (Ausschnitt). in der Natur zu beobachten war. Nichts vergaß der Museum von Basel. Maler darzustellen. Genau werden wir über die Boden- beschaffenheit des Feldes unterrichtet, auf welches der Landwirt die Saat auswirft, und selbst die Fuß- spuren werden angedeutet, die der schwere Schritt des Bauern im weichen Lehm zurückgelassen hat (Taf. XXVllI). Vögel kommen geflogen, um diesen Spuren zu folgen, und auch der Popanz wird uns vorgeführt, der in einer jungen Saat mit einem Bogen in der Hand aufgestellt wurde, ungebetene Vogelgäste zu verscheuchen. Dann folgt ein uns so bekannt und traut vorkommender, von Weiden beschatteter Fluß, über den ein Kahn gleitet und in dem Frauen Wäsche schwemmen und klopfen. Auf dem kunstvoll angedämmten Ufer gehen Stutzer und Edelleute spazieren, auch eine Volks- figur sieht man da und alles das spiegelt sich in dem klaren Wasser. Mit derselben Treue wie die landschaftliche Szenerie malte der Künstler auch die zwei Hauptfiguren des Bildes, zwei Bauern, welche die Feldarbeit verrichten; selbst die Löcher in ihren Kleidern hat er nicht vergessen und das schwere Pferd, auf dem der eine Landmann sitzt, ist ein Meisterstück realistischer Tiermalerei, mit dem die berühmten Pferdebilder Pisanellos an Lebenswahrheit kaum verglichen werden können. Man müßte Bild für Bild beschreiben, um die ganze Fülle von Naturbeobachtungen anzudeuten, welche die Miniaturen der Brüder von Limburg auszeichnen; es ist, als ob die ganze Naturwelt des Nordens auf einmal in die Kunst in liebevolltreuen Darstellungen eingeführt worden wäre. Die Freude an allen Er- scheinungen der uns umgebenden Natur bis zu der kleinsten und unscheinbarsten Blüte hat, wie es scheint, stets wie heute die Menschen des Nordens von jenen des Südens unterschieden und in dem Gebetbuche von Chantilly finden wir überall diese Freude in anscheinend vollkommen treuen und objek- 41* 3oo Max Dvorak. tiven Darstellungen verkörpert. Es wird uns das Leben in der ßauernhütte, auf dem Felde, im Walde vorgeführt, dann eine glänzende Jagdgesellschaft, die heimatlichen Blumen und Tiere, die charakte- ristischen Erscheinungen der Jahreszeiten. Selbst eine Schneelandschaft wagte einer der Brüder zu malen, ein unerhörtes Wagnis zu jener Zeit. Doch nicht nur der Versuch, die ganze Poesie der wilden und gepflegten Natur malerisch wiederzugeben, ist es, der die Handschrift von Chantilly als einen Grenzstein in der Geschichte der Malerei erscheinen lassen könnte; noch weit wichtiger ist es, daß ihre Schöpfer für diese Mannigfaltigkeit überall den naturtreuen, fast wissenschaftlich-illustrativen Ausdruck gefunden haben. Ebenso bewunderungswürdig wie diese gegenständliche Treue sind die Beobachtungen der Luft- stimmung und Beleuchtung in der Landschaft, welche die Brüder von Limburg in ihren Miniaturen darzustellen wußten öderes wenigstens versuchten. Man beachte z. B., wie sie die Mittelgrundsfiguren in der auf Taf. XXVIII abgebildeten Miniatur einfach als schwarze Silhouetten malten, wie sie dem Be- schauer in der Entfernung an einem klaren Herbsttage erscheinen mußten. Wie in der Anbetung der heil, drei Könige den Abend, so versuchen sie in einer anderen Miniatur den Morgen, dann wieder einen trüben Herbsttag und auf S. 142' sogar eine Nachtlandschaft zu malen oder dem Beschauer einmal eine Frühlingsstimmung, das anderemal eine Herbstbeleuchtung zu zeigen, wobei sie stets das Kolorit meisterhaft diesen Aufgaben anzupassen wußten. Besonders gut ist ihnen gelungen, in dem Märzbilde die zarten Töne des Vorfrühlings, in der Dezemberlandschaft die klare Winterluftstimmung wieder- zugeben. Man könnte glauben, daß der Malerei damals, so wie der gegenständliche Reichtum der Welt, auch die ganze Pracht des Firmamentes, der ewige Wechsel der Atmosphäre und Beleuchtung und somit auch die ganze und ewige Poesie des Weltalls erschlossen worden wäre. Es sind jedoch nur einzelne Beobachtungen, die sie in dieser Richtung gemacht haben und die nicht auf ein ziel- bewußtes Streben nach Lösung ähnlicher Aufgaben sondern auf den naiv-konsequenten Naturalisrnus zurückzuführen sind, mit dem sie manchmal die Gegenstände auch mit den von einer momentanen Erscheinung abhängigen Eigenschaften ausgestattet haben. Das Merkwürdigste und kunstgeschichtlich Wichtigste sind aber die Darstellungen der Burgen und Schlösser, welche die Illuminatoren des Gebetbuches von Chantilly in einzelnen Kalenderbildern unter- gebracht haben und die wir zum Teil nach erhaltenen Resten oder späteren Abbildungen noch bestimmen können (Fig. 54, Taf. XXVIII). Alle älteren architektonischen Darstellungen waren entweder geo- metrische Skizzen und Durchschnitte oder gaben die Bauten in einer andeutenden abgekürzten Weise wieder, die, eine Folge eines mangelhaften perspektivischen Systems und der damit zusammenhängenden ungenauen Abschätzung der Größenverhältnisse, der ganzen antiken und mittelalterlichen Malerei an- haftet. In den Burgen des Gebetbuches von Chantilly finden wir dagegen Darstellungen von Bauten, welchen nebst malerischen Qualitäten auch eine sachlich und perspektivisch richtige Aufnahme der Wirklichkeit zugrunde liegt. Von dem unteren Teile der Miniaturen getrennt, entsprechen diese Schloß veduten allen allgemeinen Anforderungen, die wir an eine malerische Wiedergabe einer Architektur zu stellen pflegen. Vergegenwärtigen wir uns jedoch die ent- wicklungsgeschichtliche Bedeutung dieser Tatsache. Während in den Werken der gotischen Malerei, auch anderweitige Miniaturen der Brüder von Limburg oder die Bilder Huberts inbegriffen, unter der Hülle der naturalistischen Darstellung überall das alte gotische Schema, die konventionelle Darstel- lungsart zutage tritt, ist es unmöglich, diese architektonischen Bilder des Gebetbuches von Chantilly auf irgendwelche formale Schablone zurückzuführen, sondern der objektive Tatbestand allein, nach jenen Grundsätzen reproduziert, die wir als das Kriterium einer treuen und wahren Naturwiedergabe zu betrachten pflegen, bildete die Grundlage dieser Veduten. Doch besteht nicht darin das Wesen der Neuerungen Jans, das Prinzip des neuen Stiles, das Programm der ganzen folgenden Malerei? Nichts ist geeigneter, uns ein solches Prinzip in seiner Genesis zu enthüllen, als architek- tonische Darstellungen. Leute, die mit dem Wesen des künstlerischen Schaffens nicht vertraut sind, können immerhin vermuten und es auch glaubwürdig erscheinen lassen, daß es stets nur von der Ab- sicht (Natursinn, Naturfreude) des Künstlers abhing, ob er eine Blüte naturgetreu dargestellt hat oder Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 3oi nicht. Nie werden sie uns aber überzeugen, daß ein einfacher Willensakt genügt, einen reichgeglieder- ten großen Bau, von einem bestimmten Standpunkte gesehen, mit objektiver Treue wiederzugeben. Ebenso könnte man vermuten, daß jedermann und zu jeder Zeit die Dampfmaschine hätte erfinden können. Bereits an den ersten Werken der gotischen Kunst können wir Versuche beobachten, Objekte in ihrer individuellen Form und Erscheinung treu nach der Natur darzustellen. So konnte man z. B. bei den Olivenzweigen, welche unter den Dekorationen der Fassade von Notre Dame zu Paris zu finden sind, vermuten, daß es moderne Studien nach der Natur seien, und dasselbe gilt von unzähligen einzel- Fig. 54. Werkstatt der Brüder von Limburg, Ein Schloß des Herzogs von Börry (Bicetre?). Miniatur in dem Gebetbuche des Herzogs von Berry in Cliantilly (Ausschnitt). nen naturalistischen Motiven in der gleichzeitigen Skulptur und Malerei. Der Kunst des XIII. oder XIV. Jahrhunderts eine idealisierende Tendenz zuzumuten wäre dasselbe, als wollte man die Taten der Menschen jener Zeit auf neuzeitige Humanitätsideale zurückführen. Die naturalistischen Bestrebungen waren im Gegenteil in wenigen Perioden der Kunst so stark und vorherrschend wie in der frühgoti- schen Kunst, der kein Heiligtum heilig genug gewesen ist, daß sie es nicht mit Zoten geschmückt hätte, die auf diese Bestrebungen zurückzuführen sind. Es handelte sich jedoch dabei nicht nur um Zoten und Drolerien sondern um die ganze Mannigfaltigkeit der Natur. Wie in den Zeichenbüchern der Japaner findet man in den Illustrationen zu den Fabeln des Asop, in den Jagdbüchern, in den großen Bilderzyklen der Ritterromane einen unerschöpflichen Schatz von einzelnen Naturbeobachtun- gen der mannigfaltigsten Art. Man wußte den Flug der Vögel, die Bewegungen der Tiere, die komi- schen Grimassen der Goliarden, die Waffen der Ritter oder ein Tischgerät, Bauern und tanzende 302 Max Dvofäk. Mädchen treffend mit der Zeichenfeder oder dem Pinsel festzuhalten und man hätte gewiß auch Bauten und Landschaften treu nach der Natur gemalt, wenn es nur vom Wollen abhängig gewesen wäre. Einen reichgegliederten Bau oder eine Landschaft mit wissenschaftlicher Genauigkeit darzustellen, dazu bedarf es mehr als nur eines guten Gedächtnisses und einer flinken Hand. Dazu bedarf es einer sicheren Beherrschung aller Aufgaben, die dadurch entstehen, daß ein dreidimensionales kompliziertes Raumgebilde in exakter Weise in ein Flächenbild umgesetzt werden soll, was nicht durch eine neue künstlerische Absicht allein, sondern nur auf Grund einer langen Erfahrung und einer langen Entwick- lung der Darstellungsprobleme durchgeführt werden kann. Diese Entwicklung konnte sich jedoch erst vollziehen, nachdem die spätantike Auffassung des Bildes als eines geschlossenen Raumausschnittes wieder neu in die Malerei eingeführt worden war. Denn so lange das nicht der Fall gewesen ist, gab es keine Veranlassung, die frühmittelalterlichen Andeutungen durch eine einheitliche und objektive Wiedergabe der Wirklichkeit zu ersetzen. Nachdem aber die spät- antike Raumdarstellung und mit ihr auch das spätantike perspektivische System der Malerei des Abend- landes wieder gewonnen worden war, mußte man notwendigerweise dazu gelangen, die Probleme einer exakten malerischen Darstellung der Raum- und Größenrelationen wieder aufzunehmen und sie weiter zu entwickeln. Das geschah sowohl in Italien als auch im Norden. In Italien hat man im XIV. Jahrhundert die perspektivischen Systeme der Antike weiter ausgestaltet; im Norden übernahm man, wie wir hörten, die Ergebnisse dieser Ausgestaltung, ohne sie jedoch in derselben Weise zu verwenden wie in Italien. Die Straße in der Kreuztragung aus dem Gebetbuche von Chantilly (Fig. 42) ist nicht mehr wie in ihrem italienischen Vorbilde nur bestimmt, als eine Kulisse die Raumillusion zu erhöhen, sondern soll zugleich ein exaktes Bild einer wirklichen Straße sein, wie jene Ornamente an der Fassade von Notre Dame plastisch neue Wiederholungen von Olivenzweigen sein sollten. Die antik -byzanti- nische Erbschaft an perspektivischen Errungenschaften wurde in die gotische Kunst eingefügt und, nachdem sich diese Rezeption vollzogen hatte, der großen naturalistischen Strömung untergeordnet, die wir im ganzen Verlaufe der gotischen Kunst beobachten können. Man hat manchmal die Frage aufgeworfen, ob Jan van Eyck die perspektivische Theorie Brunel- leschis gekannt hat. Man müßte dieselbe Frage auch auf die Brüder von Limburg ausdehnen, bei wel- chen von einer Abhängigkeit von Brunelleschi keine Rede sein kann. Führt man die Uberwindung der konventionellen Verkürzungen und Maßverhältnisse in der Raumdarstellung nur auf die Entdeckung der perspektivischen Gesetze Brunelleschis zurück, so bedenkt man nicht, daß auf Grund solcher Ge- setze unmittelbar nur solche Bilder gemalt werden können, wie sie Brunelleschi malte, halbgeometri- sche Stadtveduten, daß jedoch die wichtigsten und nächstliegenden Aufgaben, welche in der Regel in einem Bilde zu lösen sind und in welchen vor allem das mittelalterliche traditionelle System über- wunden werden mußte, weniger auf Grund von Gesetzen und Vorschriften als durch allmähliche ma- lerische Erfahrung gelöst werden können. Wie soll die schönste Berechnung dazu verhelfen, das Augenpaar eines abgewendeten Kopfes in richtiger Verkürzung darzustellen? Auch bei Vitruv finden wir perspektivische Gesetze erörtert, warum bediente man sich ihrer nicht in der antiken Malerei bis zu den letzten Konsequenzen? Erst nachdem die wichtigsten perspektivischen Probleme malerisch exakt bezwungen waren, konnte man mit Nutzen wieder die Entdeckung machen, daß es in diesen Lösungen eine Gesetzmäßigkeit gibt. Daß jedoch jene Probleme exakt und neu gelöst wurden, ist auf die Entwicklung der gotischen Kunst zurückzuführen. Es kommen dabei zwei Dinge in Betracht. Erstens das Wesen des gotischen Naturalismus. Vom Anfang an können wir in der gotischen Kunst das Bestreben beobachten, die künstlerische Wahrheit nicht nur in den Grenzen der geläufigen künstlerischen Probleme zu erreichen sondern sie darüber hinaus bis zur objektiven Wiedergabe aller darstellbaren Dinge auszudehnen. So unübertrefflich groß auch die Fortschritte der naturalistischen Auffassung in der Antike gewesen sind, so hielten sie sich doch stets im Rahmen bestimmter künstleri- scher Probleme und Formen, die so einflußreich gewesen sind, daß man sich ihrer auch da bediente, wo, wie z.B. zu wissenschaftlichen Zwecken, eine einfache und präzise Wiedergabe einer sachlichen Wahr- nehmung angebracht gewesen wäre. Die Kalenderbilder waren Personifikationen, die Illustrationen zu Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 3o3 einem medizinischen Buche, wie beim Pariser Nikander weitschweifende Gemälde und trotz dem stoff- lichen Reichtum der nachaugusteischen Kunst war doch bis zum Ende der Antike der Naturnachahmung durch bestimmte künstlerische Themen eine Grenze gezogen. Man konnte eine wundervolle Landschaft mit allen Luft- und Lichtstimmungen malen; doch nur ausnahmsweise war man bemüht, einen Gegen- stand mit wissenschaftlicher Treue wiederzugeben. In der gotischen Kunst kann man dagegen von Anfang an das Bestreben beobachten, nicht nur die allgemeinen künstlerischen Probleme in einem engeren Anschlüsse an die natürliche Erscheinung zu lösen sondern auch jeden Gegenstand bis zur kleinsten Blüte, bis zum geringsten Insekt mit möglichst großer Genauigkeit nach der Natur zu kopie- ren, unbekümmert, ob es das eigentliche künstlerische Problem erforderte oder nicht. In der antiken Kunst stellt sich ein immitativer Naturalismus erst ein, als die Probleme der Wiedergabe der plasti- schen Erscheinung vollkommen gelöst waren; in der gotischen Kunst kann man dagegen Versuche, eine Maiglöckchenblüte, einen Schmetterling genau nachzumalen, bereits in einer Zeit beobachten, wo der Maler eine Baumkrone nicht anders als durch drei Blätter darzustellen wußte. Man könnte diese Tendenz in verschiedener Weise erklären. Man könnte daran denken, daß das Bestreben nach Indivi- dualisierung, welches seit jeher den Okzident von dem Orient unterschieden hat, bei den neuen Kultur- völkern des Westens mit neuer Stärke hervorgetreten ist, wie es ja auch für alle Zukunft eine Eigen- tümlichkeit ihrer Kunst werden sollte. Man könnte vermuten, daß dieses erhöhte und verallgemeinerte Erfordernis der exakten Naturtreue des Kunstwerkes sich als ein notwendiges Evolutionsstadium ein- stellen mußte, als die auf der antiken Naturdarstellung beruhenden Typen überwunden werden sollten, oder daß sich darin die nie dagewesene Erweiterung der Darstellungsstoffe geltend macht, die für die gotische Kunst charakteristisch ist und die, nachdem sie «die ganze Welt zu Ehren Gottes dem mensch- lichen Auge erschließen wollte», auch dem Naturalismus in der bildenden Kunst einerseits ein umfas- senderes, andererseits ein viel strengeres Programm geben mußte. «Es sollte nicht in Erzeugnissen der menschlichen Hand Gott gepriesen werden sondern die Natur selbst sollte sein Werk und seine Allmacht loben.» Man könnte schließlich eine Parallele zwischen dem neuen streng immitativen Nach- ahmen in der Kunst und der neuen Art des exakten Denkens in der Wissenschaft aufstellen. In der Wissenschaftlichkeit besteht ja überhaupt der wesentliche Unterschied der modernen Kultur von der antiken und dieses Streben nach einer wissenschaftlich strengen Anschauung und Darstellung kann man auch in der neuen Kunst der christlichen Periode von Anfang an beobachten. Dazu kommt als zweites Moment die große künstlerische Produktion der gotischen Zeit, die viel- leicht nur in dem Kunstschaffen des XIX. Jahrhunderts eine Analogie hat. In tausenden Statuen und in tausenden Miniaturen und Glasgemälden sammelten die Künstler Beobachtungen und Erinnerungen an die sie umgebende Welt, als wollten sie ihren ganzen Reichtum an Erscheinungen für künftige Ge- nerationen aufbewahren, und so konnte es gar nicht anders kommen, als daß nicht nur die alten und allgemeinen Darstellungsprobleme an bestimmten schematischen Lösungen weiter entwickelt wurden, sondern daß auch, ähnlich wie später in der japanischen Kunst, ein großer und mannigfaltiger Vorrat unmittelbarer Naturbeobachtungen gesammelt und damit auch das Vermögen, einzelne Gegenstände bei- nahe wissenschaftlich treu und genau wiederzugeben, über alle vorangehenden Kunstperioden hinaus gesteigert wurde. Man lernte einzelne Gegenstände treuer darstellen, als es je früher versucht oder durchgeführt werden konnte, und als man die Raumprobleme der antiken Malerei neu wieder aufge- nommen hatte, tat man es sowohl mit der geschilderten Tendenz als mit den auf Grund dieser Ten- denz nach und nach gewonnenen überlegenen Kunsterfahrungen. So beruht es auf der ganzen Ent- wicklung der gotischen Kunst, daß man in einer Zeit, in der man sich in Italien noch mit den abstrak- ten perspektivischen Systemen abmühte, in Frankreich einen großen Bau mit einer Genauigkeit dar- stellen konnte, von der die vorangehende Kunst keine Ahnung hatte und die das Kriterium der mo- dernen Kunst im Gegensatze zur Antike geworden ist. Diese Genauigkeit, die mathematischen Gesetzen entspricht, entspringt nicht einer theoretischen Erwägung sondern ist die Frucht unermüdlicher künst- lerischer Bemühungen, die wir Schritt für Schritt verfolgen können und welchen es endlich gelungen ist, das Darstellungsvermögen zu einer Sicherheit und Freiheit zu entwickeln, die es erlaubte, eine 3o4 Max Dvorak. individuelle Erscheinung nach unseren Erfordernissen mit objektiver Treue wieder- zugeben und an die Stelle der alten Schablonen eine unmittelbare Natur nachahmung zu setzen. So ist die Kunst der Illuminatoren des Gebetbuches von Chantilly, einen großen Bau fehlerlos darzustellen, aus einer allgemeinen großen Entwicklung der naturalistischen Darstellungsmittel ent- sprungen, aus einer Entwicklung, auf die auch alle übrigen Neuerungen des neuen Stiles und die ganze Entstehung dieses Stiles überhaupt zurückzuführen sind. Es sei uns erlaubt, noch ein Beispiel dafür anzuführen. Wie viele vermeintliche Errungenschaften der Renaissance, so ist auch die Sitte, Bildnisse herstellen zu lassen, welche keine monumentale oder historische Bedeutung haben sondern nur über die individuelle Erscheinung einer Persönlichkeit berich- ten sollen, bereits in der gotischen Kultur und Kunst am Schlüsse des Trecento allgemein gewesen. ^ Man könnte vermuten, daß die Sitte aus der Freude an dem Gelingen einer solcher malerischen Berichterstat- tung entstanden sei. Bei den Bildnissen Beauneveus mußten wir trotz des frappanten Naturalismus hervor- heben, daß dieser Naturalismus konventioneller Art war, wie etwa bei den Porträten der hellenistischen Epoche, und daß der Künstler über die dargestellte Persönlichkeit nur im Rahmen eines traditionellen Typus berichten konnte. Noch mehr tritt diese schablonenhafte Darstellungsweise in den gemalten Bildnissen zutage. Man vergleiche z. B. nur das be- kannte Porträt Johanns des Guten in der Pariser Nationalbibliothek mit den Bildnissen Karls V. in der Bibel des Jean de Bandol im Haag oder auf dem Parament im Louvre — die Köpfe gleichen sich trotz dem unverkennbaren Streben des Malers, sie in ihrer ganzen charaktervollen Häßlichkeit treu darzustellen, so wie die Abwandlungen eines und desselben Wortes. Vergleichen wir nun damit Bild- nisse, welche in den ersten Jahrzehnten des XV. Jahr- hunderts in Frankreich gemalt wurden. Im Louvre hängt ein kleines merkwürdiges Porträt eines Prinzen aus dem Hause Valois, welches früher als das Bildnis des Jean Sans Peur, später als ein Werk des XVI. Jahrhunderts bezeichnet wurde. ^ Das letztere ist sicher falsch. Daß der Dargestellte um die Wende des XIV. und XV. Jahrhunderts lebte, beweist das Kostüm, daß das Bild nicht im XVI. Jahrhundert erfunden wurde, der Stil des Bildes (Fig. 55). Den Ge- wohnheiten der spätgotischen Malerei entspricht das scharfe Profil des Kopfes, welches durch die Stel- lung der Büste nicht begründet erscheint, wie es bei allen Bildnissen des XIV. Jahrhunderts der Fall ist und wie wir es noch bei den Gestalten Huberts beobachten konnten, die mangelhafte Verkürzung des Tisches, auf welchen der Prinz seine Linke stellt, und alle Eigentümlichkeiten der Formengebung, für die leicht Belege in der französischen Malerei am Anfange des XV. Jahrhunderts gesammelt werden können. Die Frage, ob das Bild ein Originalwerk ist oder eine der vielen Wiederholungen, die von den Bildnissen berühmter Persönlichkeiten gemacht werden, dürfte schwer zu entscheiden sein; doch die ' Vom Herzog von Orleans wird uns berichtet, daß er ein Zimmer mit Bildnissen aller Frauen hatte, die er je liebte. * Es gibt eine Reihe von Stichen, die diesen Kopf als den des Jean Sans Peur bezeichnen, doch sind sie durchwegs nach dem Bilde verfertigt; dieses stimmt aber nicht mit dem beglaubigten Bildnisse des Herzogs überein. Fig. 55. Unbekannter Meister, Bildnis eines Prinzen aus dem Hause Valois. Paris, Louvre. Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 305 harte und peinliche Malweise spricht dafür, daß wir die Entstehung des Bildes jedenfalls nicht gar zu spät nach der Originalerfindung ansetzen dürfen. Trotz der vielen mittelalterlichen Züge, welche das Bildnis aufweist, ist es doch mit den Porträtdarstellungen des Trecento kaum mehr zu vergleichen. Wie hätte man es sonst in das XVI. Jahrhundert datieren können? Es ist natürlich schwer zu beurteilen, wie weit in dem Porträt der Porträtierte getroffen wurde; doch darauf kommt es nicht an. Wie wir bei den Bildnissen der Trecentomale- rei auf den ersten Blick sehen, daß ^ sie ihre Helden nicht nur mit den Attributen sondern auch in der Ge- stalt einer abstrakten und allge- mein gültigen Schablone wieder- geben, so kann man bei unserem Prinzenporträt keine Minute zwei- feln, daß es dem Maler gelungen ist, einen Menschen so darzustellen, daß man ihn nicht mit anderen verwechseln kann, und dies nicht nur durch Hervorhebung bestimm- ter Kennzeichen sondern durch eine treue Wiedergabe seiner gan- zen Erscheinung. Man erkennt an diesem Porträt in einer jeden Zwei- fel ausschließenden Weise ebenso die stoffliche Beschaffenheit und die Farben der Tischdecke, des Kleides, des Pelzwerkes als in lückenloser Weise eine individuelle Beschaffenheit des Kopfes, der Hände. Nicht einzelne Züge wie bei Beauneveu sondern der ganze Kopf, das ganze Bildnis erscheint als eine treue und unmittelbare Naturbeobachtung, so treu und un- mittelbar beobachtet als die Stief- mütterchen, welche den Blaltrand des Livre d'heures von Chantilly, oder die Nelken, die den Rahmen von Gentiles Anbetung der heil, drei Könige schmücken. Gewiß wollten schon die ersten Maler des gotischen Stiles nicht minder das alles darstellen; doch vom Wollen zum Können ist ein langer Weg, und daß nun am Ende der goti- schen Malerei von dem alten Stile nur das allgemeine Arrangement bleibt und alles übrige eine Beob- achtung des Malers zu sein scheint, das ist das Ergebnis der ganzen Entwicklung der gotischen Kunst, welche schließlich ihre alten Typenformulare so überflüssig machte als die psychologische Erfahrung die alten Charakterschemen. Doch auch die mittelalterliche Anordnung verschwindet bei einem ande- ren Porträt; welches gleichzeitig wie das soeben besprochene oder wenige Jahre später entstanden sein dürfte. Es ist dies ein in mehreren Exemplaren erhaltenes Bildnis des unglücklichen Jean Sans Peur.^ Fig. Unbekannter Meister, Bildnis des Herzogs Jean Sans Peur. Antwerpen, königl. Museum. ' Dieses Bildnis ist durch eine noch zu besprechende Miniatur beglaubigt. Daß das Original nicht von Jan van Eyck war, wie manchmal betont wurde, braucht nicht erst bewiesen zu werden. XXIV. 42 3o6 Max Dvofäk. Möglich, daß es das Porträt ist, welches im Jahre 1415 Jean Malouel gemalt hat.^ Das traditionelle Profil, welches wir noch an dem Porträt des Herzogs von Berry in dem Gebetbuche von Chantilly, an dem oben beschriebenen Porträt oder auch an den Bildnissen Pisanellos beobachten können, ist ver- schwunden und auch sonst hat der Maler die Fesseln der gotischen Malerei überwunden (Fig. 56). Die Stellung und Verkürzung der Formen ist an diesem Porträt natürlich und ungezwungen, die Propor- tionierung der einzelnen Teile richtig und die Zeichnung, Modellierung und sachliche Schilderung so ausführlich und genau wie an den Werken, die nach dem angeblichen Offenbarungswunder der modernen Malerei entstanden sind. Und so bezeugt dieses Bild eine ähnliche Tatsache wie die Schloß- veduten der Brüder von Limburg. Wie jene, ist es eine auch nach unse- rer Auffassung präzise und lücken- lose Darstellung eines in den For- men und Raumwerten reich diffe- renzierten Objektes. Ein anderes Porträt dessel- ben Herzogs bietet uns eine etwas früher entstandene Dedikations- miniatur (Fig. 57).^ Die Komposi- tion und Raumdarstellung dieser Miniatur knüpft noch an trecenteske Gewohnheiten an, doch von dem Porträt des Fürsten könnte man das- selbe sagen wie über das zuletzt be- sprochene Bildnis. Trotz der flüch- tigen Ausführung ist es doch nicht minder nach den Begriffen der mo- dernen Kunst naturalistisch und wahr wie das Tafelbild. Wir sehen daraus, daß die neue Auffassung nicht auf einmal entstand, alle Werte umwertend, sondern daß sie nach und nach einzelne Teile der Darstellung eroberte. Alles, was wir an naturalistischen, aus einer indi- viduellen Beobachtung entspringenden Vorzügen an den Miniaturen der lehrreichen Handschrift von Chantilly gelobt haben, kann hier nun angegliedert werden. Aus dem großen allgemeinen Fortschritt des malerischen Darstellungsvermögens entstanden diese Vorzüge. Die Malerlernten nicht plötzlich sondern auf Grund der angesammelten Arbeit den Bauer, dieTiere, die Vegetation, die Erdschollen nicht nur treu zu beobachten sondern auch ähnlich wie jene Architekturen oder einen einzelnen Menschen treu darzustellen. Das, was sie von Anfang der gotischen Kunst an versuchten, ist nun in einzelnen immer häufigeren Fällen gelungen, nicht als ob man es erst jetzt entdeckt hätte, sondern weil man im Gebrauche der malerischen Darstellungsmittel nach und nach so weit gelangte, die Gegenstände ganz auf Grund einer neuen und selbständigen, selbstentdeckten, von der alten Tradition unabhängigen F'ormensprache darzustellen. Es ist natürlich, daß diese Ersetzung der alten Schemen durch neue, strengere Naturnachahmungen zuerst in solchen Darstellungen geschah, bei welchen es eine besondere Veranlassung für den Künstler Fig. 57. Dedikationsminiatur aus dem Livre des Merveilles, Ms. fr. 2810 der Pariser Nationalbibliothek. ^ Revue universelle des Arts VIII, p. 165. ^ Aus dem Livre des Merveilles Mst. fr. 2810 der Pariser Nationalbibliothek. Diese Handschrift schenkte im Jahre 1413 der Herzog von Burgund dem Herzog von Berry. In der von uns abgebildeten Miniatur auf S. 126 ist die Überreichung des Buches an den Herzog von Burgund durch den Verfasser Jehan Hayton dargestellt. Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 3o7 gab, die Natur zu befragen, sei es deshalb, weil es sich um Dinge handelte, für die man keine kon- ventionellen Typen besaß, oder um Dinge, die zur Naturbeobachtung eine besondere Veranlassung boten, wogegen man an alten und traditionellen Kompositionen noch ein Fortleben der mittelalter- lichen Schablonen beobachten kann. Aus der Rezeption der spätantiken Auffassung des malerischen Problems blieb aber, wie wir horten, als die wichtigste Neuerung die Forderung zurück, das Bild als einheitlichen Naturaus- schnitt zu gestalten, es als das Porträt eines Raumausschnittes zu bilden, und so ist es be- greiflich, daß man bald, nachdem man zu die- ser Auffassung wieder gelangt war, versuchte, das neue naturalisti- sche Prinzip und das ihm zugrunde lie- gende malerische Kön- nen nicht nur für die Darstellung bestimm- ter Gegenstände zu verwerten sondern auf das ganze Bild auszudehnen. Das geschah in zweifacher Beziehung, indem man entweder die einzel- nen Teile der alten Kompositionsschemen als treue Naturstudien gestaltete oderauch die ganze Komposition, den ganzen Raumaus- schnitt treuer nach der Natur zu malen sich bemühte. Beides kann man in dem Gebet- buche von Chantilly beobachten. Man werfe einen Blick auf die Winterlandschaft, in der einer der Brüder von Limburg das Landleben im Februar dargestellt hat (Fig. 58). Gehört sie nicht zu den köstlichsten, frischesten und lebendigsten Naturschilderungen, die Je gemalt wurden? Welch einW^agnis war es, eine solche schnee- bedeckte Landschaft zu malen, und wie ist es dem Illuminator gelungen. Wie scharf wußte er eine winterliche Szenerie zu beobachten, wie trefflich die weiße Schneedecke mit den sie durchquerenden Spuren, das eingeschneite Dorf, die Luftstimmung eines Wintertages zu malen. In den besten Winterlandschaften Breughels finden wir es kaum besser und mehr kann man wohl schwerlich einer ähnlichen Schilderung nachrühmen. Und doch liegt dieser gemalten Winterpoesie noch das spät- trecenteske Schema einer landschaftlichen Darstellung zugrunde, dasselbe Schema, welches wir z. B. auch bei der Kavalkade der heil, drei Könige und bei unzähligen anderen gleichzeitigen Darstellungen finden und welches wie in unseren Wintermärchen oft fast ganz unter der Hülle von Naturbeobach- XXIV. 43 Fig. 58. Werkstatt der Brüder von Limburg, Kalenderbild. Miniatur aus dem Gebetbuche des Herzogs von Berry zu Chantilly. 3o8 Max Dvofäk. tungen zu verschwinden scheint wie eine alte Ruine unter sprießendem Laubwerk. Bei anderen Minia- turen sieht man dagegen das Bestreben, nicht nur die Wahrwirkung der Landschaft und der Komposi- tion durch naturalistische Einzelmotive zu erhöhen sondern auch die ganze Raumdarstellung von überlieferten Regeln zu befreien und als eine objektive Aufnahme der Wirklichkeit zu gestalten. Be- sonders die landschaftliche Vedute, die sich über den Figuren erhebt und den Horizont abschließt, versuchte man als ein treues Spiegelbild einer bestimmten Fernsicht zu malen, nach demselben Prinzip und auf Grund derselben höheren Beherrschung der naturalistischen Darstellungsmittel, die wir bei der Darstellung einzelner Gegenstände beobachten konnten. Noch bei Jan van Eyck zerfällt die Landschaft in dieser Weise in zwei Hälften, wobei besonders die Landschaft des Hintergrundes als eine treue Natur- studie erscheint. Aber auch das bei weitem schwierigere Problem des richtigen Verhältnisses der Kompo- sition und der Raumdarstellung versuchte man nach denselben Prinzipien neu zu losen. In einzelnen der Kalenderbilder des Gebetbuches von Chantilly, wie z. B. dem auf Taf. XXVIII abgebildeten, sieht man deutlich das Bestreben, die ganze Landschaft samt den darin befindlichen Figuren als einen einheitlichen, von einem bestimmten Gesichtspunkte orientierten Raum darzustellen, in dem jede Sache nicht nur die richtige Form sondern auch die richtige Stellung, Größe und Verkürzung hat. Das Gelingen dieser Absicht läßt allerdings noch manches zu wünschen übrig, der Vordergrund, der eine Ebene ist, steigt an und der Maler traut sich nicht das Bild mit einer Fernsicht abzuschließen; doch darauf kommt es nicht an. Dem letzten Ziele und den dazu verwendeten Darstellungsmitteln nach ist dieses Bild eine treue Wiedergabe eines kompositionell und räumlich zusammenhängenden einheit- lichen Bildausschnittes und darin besteht der Inhalt, das Prinzip, das Wesen des neuen Stiles. Nicht nur eine ungeheure Steigerung der sachlichen Treue in der Wiedergabe der Objekte ist in diesem Programm enthalten sondern auch alle folgenden Neuerungen in der Ausgestaltung des malerischen Problems bis zu den letzten Zielen der Luft- und Lichtmalerei. So finden wir in dem Gebetbuche von Chantilly neben Bildern, welche ihrer Erfindung und For- mengebung nach noch mittelalterlich und gotisch, d. h. an bestimmte traditionelle Schablonen gebunden sind, auch solche, bei welchen diese Schablonen teilweise bereits durch eine Darstellungsweise er- setzt oder doch durchdrungen erscheinen, die den wichtigsten Neuerungen des neuen Stiles Jans entspricht und bei der es doch nicht zweifelhaft sein kann, daß sie nicht plötzlich durch irgendwelchen äußeren Anstoß in die damalige Malerei eingeführt wurde sondern allmählich auf Grund des angesammelten künstlerischen Studiums und der wachsenden Beherrschung "der naturalistischen Darstellungsmittel im engen Zu- sammenhange mit der ganzen vorangehenden Entwicklung der gotischen Malerei ent- standen ist. Wenn es notwendig wäre, könnten wir uns wohl mit diesem Befunde begnügen, der uns deut- lich erkennen läßt, wo die Quellen des neuen Stiles zu suchen sind. Von einzelnen Miniaturen des Gebetbuches von Chantilly und verwandter Werke zu den Bildern Jans ist kein größerer Schritt als von den Bildern Giovanni Bellinis zu den Bildern Tizians, für dessen neuen malerischen Stil wir ähn- lich einzelne Vorboten in den Bildern seiner Vorgänger finden können wie für den Stil Jans in den Werken der Brüder von Limburg. Es gibt jedoch Bilder, die uns diesen Ubergang noch deutlicher erscheinen lassen. Es sind dies einzelne Miniaturen in den in der letzten Zeit vielfach genannten Heures de Turin. ^ Auch diese Handschrift verdankt ihre Entstehung einem Auftrage des Herzogs von Berry, zu dessen Lebzeiten ein großer Teil der Miniaturen gemalt wurde. Doch bereits im Jahre 1413 tauschte der Herzog die Handschrift mit Robinet d'Estampes für ein anderes Manuskript aus. Uber weitere Schicksale des Gebetbuches sind wir durch urkundliche Nachrichten nicht unterrichtet. Als sich der ' Die im vorigen Jahre leider verbrannte Turiner Handschrift wurde von Durrieu veröffentlicht (Heures de Turin, Paris 1902) und in einem Aufsatze in der Gazette des Beaux Arts igoS besprochen. Auch Georges Hulin widmet ihr eine Studie (L'atelier de Hubrecht van Eyde et les Heures de Turin: Annuaire de la Societe pour le progres des etudes philo- logiques et historiques, Gand 1902.) Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 3 09 Herzog von Berry der Handschrift entäußerte, war sie noch unvollendet, denn nur ein Teil der Minia- turen weist den Stil der Zeit und der Künstler des Herzogs auf. Die fehlenden Bilder wurden später nachgetragen, und zwar in verschiedenen Zeitpunkten; die letzten dürften erst in der zweiten Hälfte des XV. Jahrhunderts entstanden sein. Einige dieser Miniaturen lassen sich bestimmt datieren. Auf einem der Bilder, die den Psalter schmücken, ist ein Fürst mit seinem Gefolge dargestellt und einer von seinen Begleitern trägt eine Fahne mit den Wappen von Bayern, Holland und Hainaut. Im Jahre 1417 starb Wil- helm IV., der letzte Prinz von Bayern, der Besitzer von Hol- land und Hainaut gewesen ist; es kann also diese Miniatur nur zwischen den Jahren 1413 und 1417 entstanden sein.^ Durrieu ging bei der Be- stimmung der kunstgeschicht- lichen Bedeutung dieser Bilder von der Wealeschen Hypo- these über den Stil Huberts aus. Er findet zwischen den Bildern, welche Weale für Werke Huberts erklärte, und einzelnen Miniaturen der Tu- riner Handschrift eine schla- gende Ubereinstimmung, und da nach seiner Meinung durch die erwähnten Wappen die Ent- stehung dieser Miniaturen im zweiten Jahrzehnt des XV. Jahr- hunderts bewiesen wird, be- trachtet er sie nicht nur als einen Beweis für die Richtig- keit der Wealeschen Theorie sondern bezeichnet sie gerade- zu als die «debuls des van Eyck». Die Ausführungen Dur- rieus haben nicht nur keinen Widerspruch erfahren sondern haben vielmehr vielfache Zustim- mung gefunden. Besonders Hulin ist für sie eingetreten und hat sie noch weiter ausgeführt, indem er die Vermutung aussprach, daß diese Miniaturen, die nicht von einer Hand sind, in einer Zeit entstanden seien, wo die Brüder van Eyck noch ein gemeinsames Atelier besaßen, und indem er zugleich versucht, einzelne der Bilder Hubert, andere Jan, andere sogar ihrer Schwester Margarete zuzuweisen. Wäre man nicht von hypothetisch Hubert zugeschriebenen Bildern ausgegangen sondern von dem Befunde, den die Turiner Fragmente bieten, so hätte man im Gegenteil auch nach diesen wenigen Frag- Fig. 5g. Unbekannter Meister, Madonna mit heiligen Jungfrauen. Miniatur aus dem Turiner Gebetbuche des Herzogs von Berry. ' Sein Bruder, Johann, Bischof von Lüttich, hat allerdings auch noch auf diese Länder Anspruch erhoben, jedoch, wie bereits Durrieu betonte, dürfte es kaum möglich sein, darauf die Wappen zu beziehen. Die Datierung der Miniatur würde sich übrigens dabei nur um wenige Jahre verschieben. 43* 3io Max Dvofäk. menten die Unhaltbarkeit jener falschen Zuweisungen entdecken müssen. Denn wenn wir genauer zusehen, finden wir leicht, daß jene von den Miniaturen, die mit den von Weale dem Hubert zuge- wiesenen Bildern übereinstimmen, von einer anderen Hand sind als die, welche sich in erwähnter Weise datieren lassen, und daß dieser Unterschied auch mit einer allgemeinen und prinzipiellen stilistischen Verschiedenheit zusammenfällt. Die Bilder der datierbaren Gruppe — es ist dies von den Turiner Miniaturen der erwähnte Reiterzug an einer Meeresküste, Madonna von heil. Jung- frauen umgeben, die Heili- gen Julianus und Martha auf dem Meere und der Judas- kuß mit der dazugehörigen Verspottung Christi in der unteren Randleiste — weisen einen Stil auf, der, so ent- wickelt er auch ist, doch noch einen Zusammenhang mit der Malerei des XIV. Jahr- hunderts deutlich erkennen läßt. Die Gewänder sind noch gotisch geschwungen, die Hintergrundsebene gleicht einer aufsteigenden Bühne und an den Köpfen und an- deren Körperformen kann man noch manche Anklänge an trecenteske Typen beob- achten. Diesen Miniaturen gegenüber sind die der zwei- ten Gruppe, zu welcher die drei Darstellungen des thro- nenden Gottes, die Pietä, der betende König und auch die das heil. Lamm anbetenden Jungfrauen gehören, stilistisch so vorgeschritten wie sonst nur Werke, die erst gegen die Mitte des Jahrhunderts ent- standen sind. Wären diese Miniaturen nicht zufällig in derselben Handschrift, in der sich auch Bilder befinden, die im ersten Viertel des Jahrhunderts ent- standen sind, so wäre es wohl niemandem eingefallen, sie vor den Genter Altar zu datieren. Daß ihre Entstehungszeit erst nach der Schöpfung des Genter Altares zu setzen sei, ließe sich auf Grund einer Stilanalyse ausführlich nachweisen. Es dürfte jedoch auch ein Verweis auf die große Uberein- stimmung dieser Miniaturen einerseits mit den illuminierten Handschriften, die gegen die Mitte des Jahrhunderts für Philipp den Guten gemalt wurden, andererseits mit den Werken des Petrus Kristus genügen. Man vergleiche nur die Pietä mit der Kreuzigung des letztgenannten Meisters in Wörlitz oder mit den Miniaturen des Breviers Philipps des Guten in Brüssel. Auch äußere Gründe sprechen dafür, daß diese Miniaturen später nachgetragen wurden als jene, welche im Auftrage Wilhelms IV. von Bayern-Hainaut gemalt wurden. Das Zelt des Königs, der auf einer der Miniaturen im Gebete versun- ken dargestellt ist, trägt die Wappen des französischen Königshauses, das Heer, welches vor dem Zelte Fig. 60. Unbekannter Meister, Die Heiligen Julianus und Marta auf dem Meere. Miniatur aus dem Turiner Gebetbuche des Herzogs von Berry. Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 3ii in Schlachtordnung steht, französische, burgundische und brabantische Fahnen. Durrieu sprach die Vermutung aus, daß man diese Zusammenstellung auf die politischen Kämpfe in den letzten Regie- rungsjahren Karls VI. beziehen könne, womit eine vor das Todesjahr des Königs 1419 fallende Ent- stehungszeit gegeben wäre. Doch in dem althergebrachten Texte des Gebetes, zu dem die Miniatur als Illustration dienen soll, wird des französischen Königs gedacht und an der diesem Texte entsprechen- den Psalmstelle wurde in der ganzen goti- schen Malerei ein be- tender König darge- stellt, in französi- schen Handschriften der französische Kö- nig, so daß die Minia- tur gewiß auf dem Texte und einer alten Gewohnheit und nicht auf einer politischen Erwägung beruht. Die brabanti- schen und burgundi- schen Fahnen sind aber im Gegenteil ein Beweis, daß diese Mi- niaturen nicht mehr im Haag und im Auf- trage Wilhelms von Bayern gemalt wur- den und daß sie nicht aus demselben Ate- lier stammen wie jene der ersten Gruppe, wie Durrieu und Hu- lin vermuten, son- dern später entstan- den sind. Sie wären also eher ein neuer Gegenbeweis gegen die frühe Ansetzung der vermeintlichen Bilder Huberts, falls es eines solchen noch bedürfte, und kommen für unsere Frage nicht in Betracht. Doch auch davon kann keine Rede sein, daß die in den Jahren 1413 — 1417 entstandenen Minia- turen von Hubert oder Jan selbst gemalt worden wären. Von Hubert können sie nicht sein, weil sie über seinen Stil hinausgehen, weil sie in der landschaftlichen Darstellung, in der naturalistischen Durchbildung der Figuren, in der ganzen Malweise viel vorgeschrittener sind als seine Werke. Jan können sie aber nicht zugeschrieben werden, weil sie weder auf der Höhe seiner Kunst stehen noch von den persönlichen Merkmalen seines Stiles irgend etwas aufweisen. Es ist unmöglich, daß Jan etwas Ahnliches gemalt hätte wie den mittelalterlichen, von einer Engelglorie umgebenen Gott Vater, der dem Prinzen am Meeresufer erscheint, oder die noch ganz nach der Art der gotischen Illustrationen komponierte Verspottung Christi (Fig. 65). Auch haben die Figuren dieser Miniaturen nicht das min- Fig. 61. Werkstatt der Brüder von Limburg, Kalenderbild. Miniatur aus dem Gebetbuche des Herzogs von Berrv in Chantilly. 3l2 Max Dvofäk. deste von den Eigentümlichkeiten der Formengebung Jans; man vergleiche nur die Köpfe der Heili gen in dem Madonnenbilde mit von Jan gemalten Frauenköpfen. Nie findet man bei ihm ein ähn- liches nach unten sich verengendes Gesichtsoval mit vorspringendem scharfen Kinne, nie ähnliche dünne und spitzige Nasen oder flachsartig herunterhängende Haare (Fig. 59). Auch die nur durch Punkte angedeuteten Augen kommen bei ihm selbst bei den kleinsten Figuren nie vor und nie malt er ähnlich gezierte Hände wie der Illuminator der Turiner Handschrift. Umgekehrt finden wir an den Miniaturen keine Spur von den früher besprochenen Kriterien der Werke Jans. Können auch die Turiner Miniaturen nicht von Jan selbst gemalt worden sein, so stehen sie doch stilistisch seinen Wer- ken sehr nahe. Besonders die Landschaften weisen Eigen- tümlichkeiten auf, die auf den ersten Blick an Bilder Jans oder seiner Nachahmer er- innern, so z. B. die Stadt in der Seefahrt der Heiligen Ju- lianus und Martha, an der wir ähnlich wie an Bildern Jans unzählige kleine Menschen- figürchen in den Straßen be- wundern können, oder das orientalische Städtebild in der Darstellung des Judaskusses, welches den Stadtveduten in der Petersburger und Berliner Kreuzigung nahesteht. Auch bei dem Reiterzuge könnte man manche Ubereinstimmung mit den gerechten Richtern und Rittern des Genter Altares hervorheben. Doch das aller- wichtigste ist die Tatsache, daß der neue naturalistische Stil Jans in diesen Miniaturen be- reits vollkommen entwickelt ist. Nicht in allen gleich. Die Formensprache des Madonnenbildes hat noch manche Züge, die an das Trecento erinnern, doch die beiden Seelandschaften sind bereits moderne Bilder im vollen Sinne des Wortes. Man hat in späteren Zeiten unzähligemal die hollän- dische Küste gemalt, die auf der Miniatur mit dem Reiterzuge Wilhelms wahrscheinlich dargestellt ist, und wußte diese Darstellung bis zur Wiedergabe der momentanen Illusion zu steigern; doch alle Unter- schiede, welche die späteren Lösungen desselben Problems aufweisen, sind nur gradueller Natur und gehen von derselben malerischen Grundform aus, die uns in der Turiner Miniatur entgegentritt. Ein einheitlicher landschaftlicher Ausschnitt wurde in dieser Miniatur vollkommen einheitlich und treu nach dem neuen naturalistischen Prinzipe dargestellt. Es gibt bei dieser Darstellung nichts Wesent- liches mehr, was man als mittelalterlich konventionelles Erbgut betrachten könnte, und so erschei- nen hier die einzelnen Elemente, die wir in dem livre d'heures von Chantilly noch parenthetisch Fig. 62. Unbekannter Meister, Reiterzug "Wilhelms IV. von Holland. Miniatur aus dem Turiner Gebetbuche des Herzogs von Berry. Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 3i3 angewendet gefunden haben, zu einem einheitlichen Stile — zu dem neuen Stile ver- einigt. Man könnte allerdings einwenden, daß der Maler dieser Miniaturen bereits unter dem Einflüsse Jans stehen könnte, was ja vielleicht chronologisch möglich wäre. Doch es scheint mir das nicht der Fall zu sein, hauptsächlich deshalb, weil wir von auffallenden und von allen Nachahmern Jans über- nommenen Eigentümlichkeiten seines Stiles nichts an den Turiner Miniaturen beobachten können. Es fehlt jede Spur sowohl von der reichen und für ihn charakteristischen Gewand- behandlung als auch von den Besonder- heiten seiner Typen und so müßten wir annehmen, daß der Nachahmer sorgfältig nur die allgemeinen stilistischen Grund- lagen seinem Vorbilde entlehnt, jede An- lehnung an den individuellen Stil des Meisters aber sorgfältig gemieden hätte, was kaum wahrscheinlich ist. Anderen- teils stehen diese Miniaturen der älteren französischen Kunst ebenso nahe als den Werken Jans, so daß an der Provenienz ihres Stiles gar nicht gezweifelt werden kann. Man braucht nur den Reiterzug der Turiner Handschrift mit der Jagd- kavalkade in dem Gebetbuche von Chan- tilly oder die Burgen in dieser Handschrift mit dem Stadtbilde in der Legende des heil. Julianus in dem Turiner Kodex zu vergleichen, um sich zu überzeugen, wie organisch die Kunst der Illuminatoren am Haager Hofe mit der Kunst der Illu- minatoren des Herzogs von Berry zu- sammenhängt, eine neue Stufe in einer Entwicklung bildend, die sich, wie wir gesehen haben, von dem Werke der Brü- der von Limburg bis zu den Anfängen der gotischen Kunst zurückverfolgen läßt. Das ganze malerische System, die Natur- auffassung, der Stil und besonders auch die malerische Technik der Turiner Miniaturen schließt sich jenen älteren Werken und jener älteren Entwicklung so enge an wie etwa die frühen Bilder Bellinis den Werken Mantegnas und der ganzen vorangehenden Entwicklung der italienischen Malerei. Aus demselben Kunstkreise wie die Turiner Miniaturen dürfte das Bildnis der Tochter Wilhelms IV., Jakobäa von Bayern stammen, von dem sich eine spätere Kopie in Kopenhagen erhalten hat und welches man ohne Grund für ein Werk Jans erklärte, mit dessen Bildnissen es nichts Gemeinsames hat als allgemeine Ubereinstimmungen, die durch einen zeitlichen Zusammenhang zu erklären sind. Die allernächste Verwandtschaft besteht dagegen zwischen diesem Frauenbildnis und den Frauen- köpfen der Turiner Madonnenminiatur, eine Verwandtschaft, die kaum zufällig sein kann. Ein Vergleich mit den früher besprochenen französischen Bildnissen aus dem Anfang des XV. Jahr- hunderts lehrt uns, daß auch das Porträt der abenteuerlichen Prinzessin einen schlagenden Beleg bildet für den engen stilistischen Zusammenhang und die absolute genetische Verknüpfung der Fig. 63. Unbekannter Meister, Jakobäa von Bayern. Kopenhagen, Nationalgalerie. 3i4 Max Dvofäk. Kunst jener Meister, die diese Werke am Haager Hofe geschaffen haben, mit der älteren französischen Malerei. Rufen wir uns nun aber jene Bilder in Erinnerung, die wir als die ältesten Denkmäler der Kunst Jans bestimmt haben. Gibt es zwischen den Turiner Miniaturen und den Tafeln in Petersburg und Berlin oder zwischen dem Kopenhagener Porträt und den Bildnissen Jans noch eine Lücke in bezug auf maleri- sche Probleme oder Stil, die nicht durch das Talent eines großen Künstlers ausgefüllt werden könnte? Die Tatsache, daß man jene Miniaturen dem großen vermeintlichen Begründer des neuen Stiles selbst zuschreiben wollte und daß diese Zuschreibung allgemeine Anerkennung gefunden hat, bezeugt mehr als alles andere, wie nahe die älteren Bilder Jans diesen Werken der Haager Hofkünstler stehen. Von den Landschaften der Turiner Handschrift zu den Landschaften Jans, von dem Reiterzuge Wilhelms IV. zu den Reiterscharen des Genter Altares ist nur ein Schritt mehr und so ist es in jeder Beziehung. Diese Verwandtschaft mag vielleicht auch auf einem unmittelbaren Schulzusammenhang beruhen; denn in den Rechnungen des Haager Hofes wird Jan zum erstenmale genannt. Doch das ist nur von sekundärer Bedeutung. Wichtig ist, daß sich der Kreis vollkommen schließt und daß wir gar nicht mehr zweifeln können, daß es zwischen der Kunst Jans und der ganzen vorangehenden Kunst keine Unter- brechung gegeben hat, weder im Stile noch in der Entwicklung der malerischen Darstellungsprobleme. Eine Untersuchung dieser Entwicklung führte uns zu dem Ergebnisse, daß weder die Probleme noch die Wege zu ihrer Lösung an den Werken Jans neu gewesen sind sondern sich in ihrer allmäh- lichen Entstehung in der Geschichte der vorangehenden Kunst beobachten lassen, deren Betrachtung uns in gleicher Weise wie zum Stile Huberts auch zu jenem Stile führte, den uns eine Analyse der Werke Jans erkennen ließ. Jeder Fortschritt in der Kunst besteht in einer neuen Auffassung und Darstellung der Natur und so hat man auch stets gewiß richtig erkannt, daß das Wesen des neuen Stiles Jans in einer neuen Auf- fassung und Überwindung des naturalistischen Problems in der Malerei bestand. Doch war diese neue «Entdeckung der Natur» weder sein persönliches Verdienst noch das eines anderen Künstlers seiner Zeit sondern bildet die langsam gereifte Frucht der ganzen langen vorangehenden Entwicklung der goti- schen Malerei. Es war eine neue, strengere, wissenschaftlichere Auffassung der Naturtreue und die ihr entsprechenden Darstellungsmittel, die die Grundlage des neuen Stiles bildeten, und beides ist nicht plötzlich entstanden sondern nach und nach auf Grund von durch viele Generationen gesammelten Beobachtungen und Erfahrungen. Deshalb bedeutete die Kunst Jans für die Zeitgenossen — und wohl auch für ihn selbst — weder eine Wandlung noch eine Revolution den vorangehenden Perioden gegen- über. Erst späteren Zeiten, die jene Perioden nicht mehr kannten, ist sie als ein Umsturz, als eine Neu- gründung erschienen. Dennoch war der Stil Jans neu. Neu war die geniale Sicherheit, mit der der Meister gleich die fertige Form gefunden hat, wo seine Vorläufer über ein tastendes Suchen nicht hinausgekommen sind. Neu war aber auch die Konsequenz und einzig dastehende künstlerische Kraft und Genialität, mit der er zu einem einheitlichen Prinzip der Kunst das zusammenfaßte, was die ihm vorangehende Malerei nur als einzelne Errungenschaften besessen hat. In der modernen Kunst hat sich ein ähnlicher Vorgang abgespielt. Dasselbe, was für die mittel- alterliche Kunst die figuralen Schemen und Typen gewesen sind, waren für die Malerei der Neuzeit die kompositioneilen Regeln und Gesetze, bei welchen der Fortschritt darin bestand, daß man sie fort- schreitend natürlicher und den naturalistischen Problemen entsprechender zu gestalten suchte, doch ohne daß man sie je ganz aufgegeben hatte und ohne daß man sich dessen bewußt gewesen wäre, daß sie trotz aller Natürlichkeit doch eine Erfindung des Künstlers und hiermit an eine Abstraktion gebunden geblieben sind. Tintorettos Schlacht von Zara, vielleicht die großartigste Schöpfung seines Illusionismus, ist doch als ganze Komposition nicht naturalistisch; denn nie hat ein menschliches Auge ein Schlach- tengewimmel so gesehen, daß es jede Figur erkennen könnte. Doch langsam haben Beobachtungen, die nicht von einer vom Maler erfundenen und vorgefaßten Komposition ausgegangen sind sondern nur durch Naturnachahmung veranlaßt wurden, die bildliche Erfindung durchdrungen, einmal sich in Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck. 3i5 Akzessorien, z. B. im genrehaften Beiwerk, in der Beleuclitung, in der Luftstimmung Geltung ver- schaffend, ein andermal wieder dem ganzen Bilde, wie z. B. Landschaften zugrunde liegend, bis ein großer Meister kam, der den ganzen Kram der der Naturbeobachtung vorangehenden Erfindung des Bildes über Bord warf und dasselbe Prinzip, welches sich bisher nur in einzelnen Beobachtungen und Qualitäten der Bilder äußerte, zum allgemeinen Gesetze des malerischen Schaffens erhoben hat, indem er den primären, nicht komponierten Naturausschnitt einfach an die Stelle der Komposition stellte und so zu den literarisch oder religiös bedingten malerischen Stoffen die ganze Mannigfaltigkeit des Lebens der Malerei eroberte. Wie viele Leute gibt es jedoch auch noch heute, die eine Ahnung davon haben, daß Millet einen ähnlichen Wendepunkt in der Geschichte der Malerei bedeutet wie Jan van Eyck? In analoger Weise hat man im Mittelalter die schematischen, auf Abstraktion und antiken Uberresten beruhenden Formen und Figurenschablonen auf Grund von neuen Naturbeobachtungen nach und nach teilweise umgestaltet, teilweise ganz ersetzt, bis ein großer Meister kam, der alles, was man in dieser Weise in Jahrhunderte langer Entwicklung gefunden hat, kraft seiner außer- gewöhnlichen Begabung zusammenfaßte und sowohl jene neue, von der Antike und mittelalterlichen Tradition un- abhängige Naturbeobachtung als auch ihre Resultate zu einem allgemeinen malerischen Gesetze, zu einem neuen Stile erhoben hat. Die glänzendste Tat dieser Loslösung von der mittel- alterlichen Tradition waren die Figuren des ersten Men- schenpaares am Genter Altare; denn in ihnen waren zum erstenmale auf einem Bilde alle toten Residuen der mittel- alterlichen und antiken Naturbetrachtung und des mittel- alterlichen und antiken Formenkapitals vollkommen über- wunden. Deshalb wurden sie wohl von den Zeitgenossen am meisten bewundert. Dennoch oder, besser gesagt, ge- rade deshalb bilden sie mehr den Abschluß der mittelalter- lichen Kunst als den Beginn der modernen. Ihr Verdienst bestand nur in einer unerhörten Steigerung der Aufgaben und Darstellungsmittel, die sich in der gotischen Kunst entwickelt hatten, wogegen das eigentlich Neue im Stile Jans und seiner Schule in der Ausdehnung desselben Prin- zips, nach dem Adam und Eva des Genter Schreines gemalt sind, auf das ganze Bild bestanden hat. Darin bedeutet aber der Genter Altar weder einen Abschluß noch einen Anfang sondern nur eine be- stimmte Etappe in einer langen Entwicklung. Wenn wir diese Entwicklung vor Jan van Eyck vor allem an Miniaturen verfolgt haben, so darf dies — es sei dies noch einmal wiederholt — nicht so verstanden werden, daß sie sich nur in der Büchermalerei vollzogen hätte. Wenn der erhaltene Schatz an Tapesserien veröffentlicht sein wird, wird man sie geradeso lückenlos an diesen Kunsterzeugnissen verfolgen können. Trotzdem mag sie sich nicht bei allen Gattungen des malerischen Schaffens gleich stark bemerkbar gemacht haben, nicht weil man bei ihnen verschiedene künstlerische Absichten verfolgt hätte, sondern weil nicht alle tech- nisch zur Durchführung dieser Absichten geeignet gewesen sind. Der sich vollziehende malerische Fortschritt bestand in einer großen Bereicherung und Detaillierung der malerischen Beobachtung, in einer intensiveren Darstellung der materiellen Erscheinung im weitesten Sinne des Wortes. War es schwer, eine unmittelbar beobachtete Linie treu in einem gewebten Stoffe wiederzugeben, so war es Fig. 64. Werkstatt der Brüder von Limburg, Gottes Gebot an Adam und Eva. Miniatur aus dem Gebetbuclie des Herzogs von Berry in Cliantilly. 3i6 Max Dvofäk. geradezu unmöglich, die ganze Skala der stofflichen Darstellung, der Farbennuancen, der Lichteffekte, der Modellierungsfeinheiten, welche, wie wir gesehen haben, von dem neuen Stile angestrebt wurden, in der alten malerischen Technik wiederzugeben. Der neue Stil war nicht an die neue Technik ge- bunden, doch den Malern waren in mancher Hinsicht die Hände gefesselt, so lange sie in der alten Technik malten, wie man es in Italien beobachten kann. In der alten Technik mit ihren schwierigen und schwerfälligen Ubermalungen dieselben Aufgaben zu losen wie in der neuen Technik war ebenso unmöglich, als wenn man die Effekte einer Radierung von Rembrandt in einem Stahlstich hätte er- zielen sollen. Deshalb ist es auch begreiflich, warum die Italiener die gesteigerten Postulate eines malerischen Naturalismus, die sie an niederländischen Vorbildern kennen lernten, mit der neuen nie- derländischen Technik verwechselten. Diese Postulate waren aber, wie wir sahen, älter als die neue Technik, die sie also nicht veranlaßte sondern vielmehr auf ihnen beruht. Es liegt kein Grund vor daran zu zweifeln, daß sie, wie uns die Quellen berichten, jener Meister erfand, der eine weitgehen- dere Anwendung dieser Forderungen anstrebte als seine Vorgänger. Dies ist übrigens eine Frage von untergeordneter Bedeutung und völlig belanglos, ob diese Erfindung durch einen Zufall geschah oder auf Grund eines bewußten Suchens. Jan van Eyck war wohl neben Tizian der größte Maler, den es je gegeben hat, und wenn wir seine Bilder mit den Werken seiner Vorgänger vergleichen, so möchten wir die so bescheiden klingen- den und in der Regel auch so gedeuteten Worte: «Als ich kann», die er unter seine Bilder zu setzen pflegte, zu jenen Bescheidenheiten rechnen, von welchen Turgeniew einmal behauptet, sie wären der Ausdruck des auf einer absoluten Überlegenheit beruhenden Selbstbewußtseins. Doch ein zeitloses Phänomen, wie ihn uns alle Biographen seit Carel van Mander schilderten, war dieser große Künstler nicht sondern seine Kunst wurde wie bei einem jeden anderen Künstler durch ihre Zeit und durch die vorangehende Entwicklung der Kunst bedingt und bestimmt. Eine Betrachtung dieser Entwicklung zeigt uns die Bedeutung Jans aber im wesentlichen in jenem Lichte, wie sie ihm nahestehende Schrift- steller gesehen haben, deren Charakteristik wir etwa so mit ihren eigenen Worten zusammenfassen könnten: Johannes Gallicus war der erste Maler seiner Zeit und hat bewunderungswürdige Bilder ge- schaffen, die sich durch technische Neuerungen, durch eine sichere Beherrschung der Perspektive, vor allem aber durch ihre Naturtreue auszeichnen. Darin hat er seine Vorgänger und Zeitgenossen über- troffen und sich für alle Zeiten unsterblichen Ruhm verdient oder, wie Giovanni Santi kurz dasselbe sagt: «A Brugia fu fra gli altri piü lodati il gran Jannes.» Das Prinzip des neuen Stiles Jans und der ganzen neuen Kunst war kein Mysterium, welches er oder jemand seiner Zeitgenossen oder «seine Zeit» erst und auf einmal entdeckt hätte. Das Geheimnis dieses Prinzips, das Geheimnis der neuen Kunst besteht in der Entwicklung der Kunst bei den neuen Kulturvölkern, die in Mitteleuropa das antike Erbe übernommen haben. Einer der letzten Huma- nisten und der ersten Historiker, Winckelmann, versuchte noch, den Völkern, die im Mittelalter und in der Neuzeit die Träger der kulturellen Entwicklung nördlich der Alpen gewesen sind, jede Bedeutung für die Geschichte der bildenden Kunst vollständig abzusprechen. Eine solche Anschauung läßt sich nur durch eine vollständige Unkenntnis der Monumente und ihrer Bedeutung erklären. Wenn wir die Geschichte dieser Völker betrachten, so können wir beobachten, daß sich das geistige Leben und die ganze Kultur bei ihnen vollkommen kontinuierlich entwickelte. Was auf den Universitäten und in den höheren sozialen Schichten in Frankreich begründet wurde, reifte in den ersten Jahrhunderten der Neuzeit in den Niederlanden und in Deutschland, aus den Niederlanden kam aber dieses kultu- relle Vermächtnis der modernen Zeit nach England, wo es noch heute bewahrt wird. Fast alle Strö- mungen, die dem geistigen Leben oder der materiellen Kultur des Mittelalters und der Neuzeit nörd- lich der Alpen einen neuen Inhalt gegeben haben, sind eine Frucht dieser einheitlichen und fort- schreitenden Evolution. Parallel mit ihr entwickelte sich aber im Norden auch die Kunst, kontinuierlich zu neuen Problemen und zu neuen Darstellungsmitteln fortschreitend. Zwischen den Skulpturen von Chartres und dem Genter Altare, zwischen dem letzteren und Rembrandt, zwischen Rembrandt und Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck 3i7 der Kunst unserer Tage liegt eine nicht minder geschlossene und einheitliche Entwicklung als etwa zwischen dem Aginetenfriese, der Ringergruppe in den Ufficien, dem Titusbogen und den Odysseusland- schaften im Vatikan. Trotz vieler Ubereinstimmungen ist diese Entwicklung von jener, die sich in der antiken Kunst vollzogen hat, wesentlich verschieden: neue Völker haben sich durch die Trümmer der antiken Uberlieferung zu einer neuen Kunst durchgerungen. Darin scheint mir ein- zigund allein das historische Geheimnis dieses neuen Stiles zu bestehen. Der neue Natu- ralismus ist weder etwas Objektives noch etwas Transcendentales und war es auch nie sondern ist wie alle anderen menschlichen Dinge ein historisches Produkt, die Frucht einer neuen geschichtlichen Evolution, die mit den Skulpturen der großen gotischen Dome begonnen hat und die bis heute nicht unterbrochen wurde. Sie bedeutet eine neue sukzessive Eroberung der Natur und auf diese Eroberung ist vor allem der Fortschritt zurückzuführen, der sich im Mittelalter und in der Neuzeit vollzogen hat, nördlich der Alpen und auch in Italien. Ohne die gotische Skulptur wäre Giovanni Pisano und das Trecento, ohne die gotische Skulptur und Malerei nicht Masaccio, Donatello und die Renaissance, ohne den neuen malerischen Stil der Nieder- länder nicht der große malerische Stil der Venezianer, ohne die englische Malerei des XVIII. Jahr- hunderts die ganze moderne Kunst nicht möglich gewesen. Wohl besaß die Apenninhalbinsel — magna parens rerum — in der Erbschaft der klassischen Kunst eine Q.uelle von künstlerischen Anregun- gen und Errungenschaften, auf Grund welcher man nicht nur mit suveräner Sicherheit auf den ersten Wurf das gefunden zu haben scheint, was im Norden tastend gesucht wurde, sondern auch den Pro- blemen der Kunst neue, ungeahnte Perspektiven eröffnet wurden; wohl haben auch die aus der im Norden sich vollziehenden Kunstentwicklung stammenden Anregungen in Italien unter dem Einflüsse der Antike eine andere Form angenommen, die wir ästhetisch höher schätzen, — ob mit Recht oder Unrecht ist eine Frage, die keinen Sinn hat — doch das alles darf uns nicht verhindern, wie es bisher fast durchwegs geschehen ist, die Mission und grundlegende Bedeutung der nördlich der Alpen sich vollziehenden einheitlichen Kunstentwicklung zu verkennen. In dieser Entwicklung bildet aber auch die Kunst Jan van Eycks nur ein Zwischenglied und das Vasari-Carel van Mandersche Märchen muß und kann aus der Geschichte verschwinden und durch Forschungen ersetzt werden, die dem Wege folgen werden, dessen beiläufige Richtung zu bestimmen wir versucht haben. XXIV. 44 GETTY RESEARCH INSTITUTE